Wann liegt ein zulässiger Schwangerschaftsabbruch vor?
Das Landgericht Berlin hat am 19.11.2019 zwei erfahrene Geburtsmediziner wegen Totschlags in minder schwerem Fall gemäß §§ 212 I, 213 StGB verurteilt. Die Strafen von einem Jahr und sechs Monaten sowie einem Jahr und neun Monaten wurden jeweils zur Bewährung ausgesetzt.
Worum geht es?
Die Angeklagte R. ist seit 2005 Leitende Oberärztin in einer Klinik für Geburtsmedizin in Berlin, der Angeklagte V. war dort bis zu seiner Pensionierung 2012 Chefarzt. Im Rahmen eines Kaiserschnitts töteten sie, in Absprache mit der Mutter, nach Öffnung der Gebärmutter und Geburt eines gesunden Zwillings den verbliebenen schwer hirngeschädigten Zwilling durch Injektion einer Kaliumchloridlösung in die Nabelvene.
Gestritten wurde in dem sogenannten Berliner Zwillingsprozess, ob es sich bei der Tötung eines kranken Zwillings während eines Kaiserschnitts um Totschlag oder um eine Spätabtreibung handelt, welche nach § 218a II StGB nicht strafbar ist - also bis zu welchem Zeitpunkt die Regeln über einen Schwangerschaftsabbruch Anwendung finden. Am 02.01.2020 wurde das Urteil des LG Berlin, insbesondere der Schuldspruch wegen gemeinschaftlichen Totschlags, durch den BGH überwiegend bestätigt und die Revision der Angeklagten weitgehend verworfen (Beschluss vom 11.11.2020, 5 StR 256/20). Lediglich über das Strafmaß der bislang unbestraften Angeklagten muss jetzt neu entschieden werden.
Zum Sachverhalt
Ende 2009 war eine 26-Jährige mit Zwillingen schwanger. Während der Schwangerschaft kam es zu Komplikationen, aufgrund derer bei einem Zwilling Ende Mai 2010 schwere Hirnschäden festgestellt wurden, welche eine schwere Entwicklungsstörung des Fetus hervorriefen. Der andere Fetus entwickelte sich weiterhin normal. In dem Universitätsklinikum in H. wurde der Befund bestätigt. Die Mutter der Zwillinge wurde über die Möglichkeit eines sogenannten selektiven Schwangerschaftsabbruchs (Abbruch der Schwangerschaft nur hinsichtlich des geschädigten Kindes) informiert. Die Eltern haben sich nach erfolgter Indikation durch einen Facharzt gem. § 218a II StGB zum Abbruch der Schwangerschaft des hirngeschädigten Zwillings entschlossen. Gemäß § 281a II StGB kann der Schwangerschaftsabbruch straffrei bis zur Geburt vorgenommen werden.
Ein selektiver Schwangerschaftsabbruch stellt auch heute noch eine erhebliche Gefahr für das gesunde Kind dar, weshalb dieser Eingriff bis heute nur in wenigen spezialisierten Kliniken in Deutschland durchgeführt wird. Die Nabelschnurgefäße des betroffenen Fetus werden bei diesem Eingriff mittels elektrischer Spannung verschlossen. Der abgestorbene Fetus verbleibt bis zur Geburt im Mutterleib. Der Eingriff muss zeitnah zur Geburt erfolgen, da anderenfalls das Risiko für den gesunden Zwilling stark ansteigt. Die Schwangere fühlte sich jedoch in der aufgesuchten Spezialklinik nicht gut betreut. Sie wandte sich sodann an eine Klinik in Berlin. In dieser wurde das damals gebräuchliche Verfahren nicht angewandt, sodass die Mutter gemeinsam mit den Angeklagten, Oberärztin R. und dem Chefarzt V., übereinkam, das gesunde Kind mittels Kaiserschnitts zu entbinden und erst danach den kranken, aber dennoch lebensfähigen, Zwilling mittels einer Kaliumchloridlösung bewusst zu töten (die Injektion von Kaliumchlorid führt einen Herzstillstand herbei). Eine Kaliumchloridinjektion vor der Entbindung birgt eine hohe Gefahr, dass dieses auch in den Blutkreislauf des gesunden Zwillings gelangt, weshalb diese Injektion nach der Geburt des gesunden Kindes erfolgen sollte. Dieser Plan wurde so auch umgesetzt, als die Eröffnungswehen einsetzten. Zur Anklage durch die Staatsanwaltschaft kam es erst Jahre später, als diese einen anonymen Hinweis auf das Geschehen erhielt.
BGH: Kein Zulässiger Schwangerschaftsabbruch mehr
Das Landgericht Berlin hat die beiden Angeklagten wegen gemeinschaftlich begangenen Totschlags gem. § 212 I StGB bestraft. Dieser Schuldspruch wurde vom BGH nun bestätigt und ist somit rechtskräftig.
Totschlag, § 212 StGB
Prüfungsrelevante Lerneinheit
Gegen einen rechtlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch spreche insbesondere, dass die Angeklagten bis zur Eröffnung des Mutterleibs mit der Injektion gewartet haben. Die Regeln über den straffreien Schwangerschaftsabbruch gelten laut BGH nur bis zum Beginn der Geburt. Bei einer Entbindung mittels Kaiserschnitt beginnt diese mit der Eröffnung des Uterus, wenn das Kind vom Mutterleib getrennt werden soll. Dies gelte auch unabhängig davon, ob es sich um eine einfache oder eine Mehrlings-Geburt handelt. Daher handele es sich nach Eröffnung der Gebärmutter um einen Menschen im Sinne der §§ 211 ff. StGB und nicht mehr um eine von § 218 StGB geschützte Leibesfrucht. Auch spreche § 1 BGB, nach welchem die Rechtsfähigkeit des Menschen ab Vollendung der Geburt beginnt, nicht gegen die Annahme des Menschseins ab Beginn der Geburt, da Zivil- und Strafrecht unterschiedliche Regelungszwecke verfolgen. Hinzu käme, dass das hirngeschädigte Kind laut Sachverständigem lebensfähig gewesen wäre.
Könnten die Angeklagten einem Verbotsirrtum im Sinne des § 17 S. 1 StGB unterlegen haben? Wann liegt ein solcher vor? Ein Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter die seine Tat unmittelbar betreffende Verbotsnorm nicht kennt, sie für ungültig hält oder infolge unrichtiger Auslegung zu Fehlvorstellungen über ihren Geltungsbereich gelangt und aus diesem Grund sein Verhalten als rechtlich zulässig ansieht. Doch sowohl das LG Berlin als auch der BGH konnten hier keinen Verbotsirrtum feststellen. Den Beklagten sei vielmehr in Anbetracht ihrer Position und Fachkenntnisse als langjährig spezialisierte Fachärzte, welche schon vorher Abtreibungen durchführten, bewusst gewesen, dass sie sich über geltendes Recht hinwegsetzen und einen Menschen töteten.
Irrtümer über Rechtfertigungsgründe
Prüfungsrelevante Lerneinheit
Laut BGH können die Strafaussprüche jedoch nicht in Gänze bestehen bleiben. Zwar habe das LG Berlin zurecht strafmildernd bedacht, dass die Tat lange zurückliege, die Angeklagten nicht vorbestraft seien, mit dem Willen der Mutter gehandelt haben und im Ergebnis den Zustand hergestellt haben, der auch bei Vornahme eines selektiven Schwangerschaftsabbruchs bestanden hätte. Allerdings habe es den Angeklagten angelastet, dass sie die Tat nicht in einer Notfallsituation durchgeführt haben, sondern planvoll ein zuvor mit der Mutter verabredetes Vorgehen umsetzten. Diese strafschärfende Berücksichtigung sei rechtsfehlerhaft. Die längerfristige Planung sei im vorliegenden Fall nicht Ausdruck krimineller Energie, insbesondere sei ein Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst im Interesse des Patienten zur umsichtigen Planung einer Operation verpflichtet. Dass die Angeklagten die Tat überhaupt begangen haben, dürfe den Angeklagten nicht erschwerend angelastet werden. Insoweit muss über die Höhe der Strafen noch einmal verhandelt werden.
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