Elektrizitätslieferungs-Fall II

A. Sachverhalt

Die Klägerin nimmt in Schleswig-Holstein die Grundversorgung mit Strom wahr. Sie begehrt von dem Beklagten eine Vergütung in Höhe von 32.514,09 € für Stromlieferungen, die sie für das Grundstück S. Straße, Sc., im Zeitraum vom 1. Februar 2007 bis zum 30. November 2010 erbrachte.

Der Beklagte erwarb das vorgenannte Grundstück am 29. Januar 2007 durch Zuschlag im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens und verpachtete es mit Vertrag vom 2. Februar 2007 an den Streithelfer, der dort bis zum 15. Mai 2011 eine Pizzeria betrieb. Nach § 3 des Pachtvertrags sollte der Streithelfer die Kosten der Stromversorgung aufgrund eines von ihm zu schließenden Vertrags mit einem Versorgungsunternehmen tragen. Der Streithelfer verbrauchte im streitgegenständlichen Zeitraum Strom in erheblichem Umfang, ohne einen schriftlichen Vertrag mit einem Stromversorger zu schließen oder der Klägerin mitzuteilen, dass er Strom entnehme. Auch der Beklagte teilte der Klägerin nicht mit, dass die Stromentnahme durch den Streithelfer erfolge.

Die Klägerin ließ in den folgenden Jahren mehrfach die Zählerstände der beiden auf dem Grundstück vorhandenen Stromzähler ablesen. Sie wandte sich wegen der Vergütung zunächst an die F. -Sparkasse K., die ihr telefonisch am 16. Dezember 2009 und schriftlich am 25. Januar 2010 mitteilte, dass der Beklagte das Grundstück im Januar 2007 erworben habe. Unter dem 14. Dezember 2010 erstellte die Klägerin gegenüber dem Beklagten, den sie – als Grundstückseigentümer – als ihren Vertragspartner ansieht, eine Gesamtabrechnung des Stromverbrauchs vom 1. Februar 2007 bis zum 30. November 2010.

 

B. Worum geht es?

In den 50er Jahren hatte der BGH unter Rückgriff auf die „Lehre vom faktischen Vertrag“ zum Zustandekommen eines Energielieferungsvertrages entschieden: Wer die Leistungen eines Versorgungsunternehmens für Wasser, Gas oder elektrischen Strom (bspw. als Wohnungsinhaber) tatsächlich in Anspruch nehme, begründe schon dadurch ein Vertragsverhältnis zu dem Lieferunternehmen. Hier besteht die Besonderheit, dass der Eigentümer des belieferten Grundstücks dieses an einen Dritten (Streithelfer) verpachtet hat. Der BGH hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

„Zwischen wem kommt ein Energielieferungsvertrag zustande, wenn der Eigentümer das mit Energie belieferte Grundstück an einen Dritten verpachtet hat?“

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH bestätigt im Elektrizitätslieferungs-Fall II (Urt. v. 2. 7. 2014 – VIII ZR 316/13) die Vorinstanzen und verneint einen vertraglichen Zahlungsanspruch der Klägerin gegen den Beklagten. Das konkludente Angebot der Klägerin auf Abschluss eines Versorgungsvertrags richtete sich bei der gebotenen Auslegung aus der Sicht eines verständigen Dritten in der Position des Empfängers (§§ 133, 157 BGB) nicht an den Beklagten als Eigentümer des Grundstücks, sondern an dessen Pächter (Streithelfer) und wurde von diesem konkludent angenommen, indem er Strom verbrauchte.

Zunächst führt der BGH allgemein zum Vertragsschluss aus und greift dabei auf die uns bereits bekannten Grundsätze aus der Entscheidung aus den 50er Jahren zu einem Elektrizitätslieferungsvertrag zurück. Allerdings fehlt jeder Rückgriff auf die „Lehre vom faktischen Vertrag“ bzw. ihrer Weiterentwicklung, einem „Vertragsschluss durch sozialtypisches Verhalten”. Vielmehr betont der BGH, dass es sich um einen Vertragsschluss auf der Grundlage „echter“ (konkludenter) Willenserklärungen handelt:

„In dem Leistungsangebot eines Versorgungsunternehmens ist grundsätzlich ein Vertragsangebot zum Abschluss eines Versorgungsvertrags in Form einer sogenannten Realofferte zu sehen. Diese wird von demjenigen konkludent angenommen, der aus dem Leitungsnetz des Versorgungsunternehmens Elektrizität, Gas, Wasser oder Fernwärme entnimmt. Dieser Rechtsgrundsatz, der in § 2 Abs. 2 der Verordnungen über die Allgemeinen Bedingungen für die (Grund-) Versorgung mit Energie und Wasser (StromGVV, GasGVV, AVBWasserV, AVBFernwärmeV) lediglich wiederholt wird, trägt der Tatsache Rechnung, dass in der öffentlichen leitungsgebundenen Versorgung die angebotenen Leistungen vielfach ohne ausdrücklichen schriftlichen oder mündlichen Vertragsschluss in Anspruch genommen werden. Er zielt darauf ab, einen ersichtlich nicht gewollten vertragslosen Zustand bei den zugrunde liegenden Versorgungsleistungen zu vermeiden (Senatsurteile vom 22. Januar 2014 – VIII ZR 391/12, CuR 2014, 27 Rn. 13; vom 6. Juli 2011 – VIII ZR 217/10, NJW 2011, 3509 Rn. 16; vom 25. November 2009 – VIII ZR 235/08, WuM 2010, 89 Rn. 13; vom 10. Dezember 2008 – VIII ZR 293/07, NJW 2009, 913 Rn. 6; vom 15. Februar 2006 – VIII ZR 138/05, NJW 2006, 1667 Rn. 15; vom 26. Januar 2005 – VIII ZR 66/04, WM 2005, 1089 unter II 1 b aa, und VIII ZR 1/04, ZNER 2005, 63 unter II 1 a; jeweils mwN), und berücksichtigt die normierende Kraft der Verkehrssitte, die dem sozialtypischen Verhalten der Annahme der Versorgungsleistungen den Gehalt einer echten Willenserklärung zumisst. Aus Sicht eines objektiven Empfängers stellt sich typischerweise die Vorhaltung der Energie und die Möglichkeit der Energieentnahme an den ordnungsgemäßen Entnahmevorrichtungen nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der Verkehrssitte als Leistungsangebot und damit als Vertragsangebot dar. Die Inanspruchnahme der angebotenen Leistungen beinhaltet – auch bei entgegenstehenden ausdrücklichen Äußerungen – die schlüssig erklärte Annahme dieses Angebots, weil der Abnehmer weiß, dass die Lieferung nur gegen eine Gegenleistung erbracht zu werden pflegt (Senatsurteile vom 26. Januar 2005 – VIII ZR 66/04, aaO, und VIII ZR 1/04, aaO; jeweils mwN).“

Kommen mehrere Adressaten des schlüssig erklärten Vertragsangebots des Versorgungsunternehmens in Betracht, sei durch Auslegung aus Sicht eines verständigen Dritten in der Position des möglichen Erklärungsempfängers zu ermitteln, an wen sich die Realofferte richte:

„Weichen der vom Erklärenden beabsichtigte Inhalt der Erklärung und das Verständnis des objektiven Empfängers voneinander ab, hat die – dem Erklärenden zurechenbare – objektive Bedeutung des Verhaltens aus der Sicht des Erklärungsgegners Vorrang vor dem subjektiven Willen des Erklärenden (Senatsurteile vom 27. April 2005 – VIII ZR 140/04, WM 2005, 1717 unter II 1 a; vom 26. Januar 2005 – VIII ZR 66/04, aaO unter II 1 b bb (1), und VIII ZR 1/04, aaO unter II 1 b aa; jeweils mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 28. Juli 2005 – III ZR 3/05, NJW 2005, 3636 unter II 1 b; Staudinger/Singer, BGB, Neubearb. 2012, § 133 Rn. 6, 11, 18, 26). Es kommt mithin nicht auf die subjektive Sicht des Erklärenden an, sondern darauf, an wen sich nach dem objektiven Empfängerhorizont das in der Bereitstellung von Gas liegende Vertragsangebot richtet.“

Empfänger der im Leistungsangebot des Versorgungsunternehmens liegenden Realofferte zum Abschluss eines Versorgungsvertrags sei hiernach typischerweise derjenige, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss am Übergabepunkt ausübe. Inhaber dieser Verfügungsgewalt sei grundsätzlich der Eigentümer. Es könne sich aber bspw. auch um einen Mieter oder Pächter handeln:

„Wie das Berufungsgericht insoweit zu Recht angenommen hat, kommt es dabei jedoch nicht auf die Eigentümerstellung selbst, sondern auf die hierdurch vermittelte Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss am Übergabepunkt an (Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2005 – VIII ZR 7/04, aaO mwN).

Inhaber der tatsächlichen Verfügungsgewalt kann deshalb auch eine andere Person sein, etwa der Mieter oder Pächter eines Grundstücks, da diesem aufgrund des Miet- oder Pachtvertrags die tatsächliche Verfügungsgewalt über die ihm überlassenen Miet- oder Pachtsache eingeräumt wird (Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2005 – VIII ZR 7/04, aaO). Ob dem Energieversorger die Identität des Inhabers der tatsächlichen Verfügungsgewalt bekannt ist, er also etwa weiß, dass das zu versorgende Grundstück sich im Besitz eines Mieters oder Pächters befindet und dieser die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss ausübt, ist unerheblich. Denn bei einer am objektiven Empfängerhorizont unter Beachtung der Verkehrsauffassung und des Gebots von Treu und Glauben ausgerichteten Auslegung der Realofferte eines Energieversorgers geht dessen Wille – ähnlich wie bei unternehmensbezogenen Geschäften (vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 31. Juli 2012 – X ZR 154/11, NJW 2012, 3368 Rn. 10 mwN; MünchKommBGB/Schramm, 6. Aufl., § 164 Rn. 23; Palandt/Grüneberg, BGB, 73. Aufl., § 164 Rn. 2; BeckOK-BGB/Valenthin, Stand: November 2013, § 164 Rn. 25; jeweils mwN) – im Zweifel dahin, den möglicherweise erst noch zu identifizierenden – Inhaber der tatsächlichen Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss zu berechtigen und zu verpflichten. Jede andere Sichtweise würde dem in § 2 Abs. 2 der Verordnungen über die Allgemeinen Bedingungen für die (Grund-) Versorgung mit Energie (StromGVV, GasGVV, AVBFernwärmeV) zum Ausdruck gekommenen, an den beiderseitigen Interessen orientierten Verkehrsverständnis zuwiderlaufen, zur Vermeidung eines vertragslosen Zustands einen Vertrag mit demjenigen zustande zu bringen, der die angelieferte Energie oder das angelieferte Wasser entnimmt.“

Anders sei dies aber dann, wenn bspw. vorrangige Vertragsverhältnisse zu berücksichtigen seien:

„Diese auf den Inhaber der tatsächlichen Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss weisenden Grundsätze gelten nur dann nicht, wenn gegenläufige Anhaltspunkte vorhanden sind, die im Einzelfall unübersehbar in eine andere Richtung weisen (vgl. Senatsurteile vom 10. Dezember 2008 – VIII ZR 293/07, aaO Rn. 11; vom 25. November 2009 – VIII ZR 235/08, aaO Rn. 12 f.), oder wenn der Abnehmer der Versorgungsleistung bereits anderweitig feststeht, weil das Versorgungsunternehmen oder der Abnehmer zuvor mit einem Dritten eine Liefervereinbarung geschlossen haben, aufgrund derer die nur einmal fließende – Leistung in ein bestehendes Vertragsverhältnis eingebettet ist (Senatsurteile vom 22. Januar 2014 – VIII ZR 391/12, aaO Rn. 14; vom 10. Dezember 2008 – VIII ZR 293/07, aaO Rn. 8 f.; vom 27. April 2005 – VIII ZR 140/04, aaO; vom 26. Januar 2005 – VIII ZR 66/04, aaO unter II 1 b bb und VIII ZR 1/04, aaO unter II 1 b; vom 17. März 2004, VIII ZR 95/03, WM 2004, 2450 unter II 2).“

In Anwendung dieser Grundsätze kommt der BGH zu dem Ergebnis, dass sich die Realofferte vorliegend an den Streithelfer richtete, der als Pächter der Gaststätte die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss am Übergabepunkt ausübte. Indem der Streithelfer Strom verbrauchte, nahm er aus objektiver Sicht des Versorgungsunternehmens die an ihn als Inhaber der tatsächlichen Verfügungsgewalt gerichtete Realofferte konkludent an.

D. Fazit

Merken sollte man sich die Leitsätze, die auch in aktuellen Entscheidungen immer wieder eine Rolle spielen:

a) In dem Leistungsangebot eines Versorgungsunternehmens ist grundsätzlich ein Vertragsangebot zum Abschluss eines Versorgungsvertrags in Form einer sogenannten Realofferte zu sehen, die von demjenigen konkludent angenommen wird, der aus dem Leitungsnetz des Versorgungsunternehmens Elektrizität, Gas, Wasser oder Fernwärme entnimmt.

b) Empfänger der Realofferte zum Abschluss eines Versorgungsvertrags ist typischerweise derjenige, der die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss am Übergabepunkt ausübt. Im Falle einer Vermietung oder Verpachtung (hier: einer Gaststätte) steht diese tatsächliche Verfügungsgewalt entsprechend der aus dem Miet- oder Pachtvertrag folgenden rechtlichen Befugnis dem Mieter oder Pächter zu. Hierbei kommt es – ähnlich wie bei unternehmensbezogenen Geschäften – nicht darauf an, ob dem Energieversorger die Identität des Inhabers der tatsächlichen Verfügungsgewalt bekannt ist.

c) Diese auf den Inhaber der tatsächlichen Verfügungsgewalt über den Versorgungsanschluss weisenden Grundsätze gelten nur dann nicht, wenn gegenläufige Anhaltspunkte vorhanden sind, die im Einzelfall unübersehbar in eine andere Richtung weisen, oder wenn der Abnehmer der Versorgungsleistung bereits anderweitig feststeht, weil das Versorgungsunternehmen oder der Abnehmer zuvor mit einem Dritten eine Liefervereinbarung geschlossen haben

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