Ziegenhaar-Fall

A. Sachverhalt

Der Angeklagte hat für seine Pinselfabrik von einer Händlerfirma chinesische Ziegenhaare bezogen und diese trotz der Mitteilung der Händlerfirma, dass er sie desinfizieren müsse, ohne vorherige Desinfektion durch seine Arbeiter zu Pinseln verarbeiten lassen. Ein Arbeiter und drei Arbeiterinnen, die mit der Herstellung der Pinsel beschäftigt waren, und eine Arbeiterin, die mit den ersteren in Berührung kam, wurden durch Milzbrandbazillen, mit denen die Haare behaftet waren, angesteckt; die vier Arbeiterinnen sind an Milzbrand gestorben.

 

B. Worum geht es?

Gegen den Fabrikanten wurde Anklage wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) in vier Fällen und wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) in einem weiteren Fall erhoben. Der Angeklagte wurde vom Schöffengericht in erster Instanz verurteilt, vom Berufungsgericht dagegen freigesprochen:

Der Angeklagte habe zwar fahrlässig gehandelt, weil er einerseits auf Grund der Mitteilung der Händlerfirma damit habe rechnen müssen, dass die Haare nicht desinfiziert seien, andererseits gewusst habe, dass die Verarbeitung nicht desinfizierter ausländischer Ziegenhaare für die damit arbeitenden Personen eine hohe Gefahr der Ansteckung mit Milzbrandbazillen herbeiführe. Es habe sich aber nicht mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststellen lassen, ob im Fall einer Desinfektion die verwendeten Ziegenhaare so keimfrei geworden wären, dass eine Ansteckungsgefahr ausgeschlossen gewesen wäre. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass die zugelassenen drei Desinfektionsarten unsicher seien und keine genügende Gewähr für wirkliche Keimfreiheit der Haare böten. Es sei also nicht ausgeschlossen, dass die Ansteckung der fünf Personen auch nach Anwendung einer der drei an sich zugelassenen Desinfektionsverfahren eingetreten wäre, weshalb sich der ursächliche Zusammenhang zwischen der Fahrlässigkeit des Angeklagten und den eingetretenen Folgen nicht mit der notwendigen Sicherheit nachweisen lasse.

Das Reichsgericht hatte daher folgende Frage zu beantworten:

„Wird der Ursachenzusammenhang zwischen dem fahrlässigen Verhalten einer Person und dem hieran sich schließenden rechtswidrigen Erfolg schon durch die bloße Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre?“

 

C. Wie hat das Reichsgericht entschieden?

Das Reichsgericht hebt im Ziehenhaar-Fall (Urt. v. 23.4.1929 - I 1265/28 (RGSt 63, 211)) den Freispruch des Angeklagten auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung zurück. Der Freispruch werde von der Begründung des Urteils nicht getragen.

Das Reichsgericht führt zunächst aus, dass der Angeklagte auf der Grundlage der Äquivalenztheorie eine Bedingung für den tatbestandlichen Erfolg gesetzt habe:

„Der Angeklagte hat nach den bisherigen Feststellungen dadurch, daß er seinen Arbeitern – entgegen der ihm obliegenden Berufspflicht und in Kenntnis der damit verbundenen Gefahr – nicht desinfizierte Ziegenhaare für die Herstellung von Pinseln zur Verfügung stellte, fahrlässig eine Bedingung für die Ansteckung der Arbeiter und die hieraus sich entwickelnden Folgen gesetzt. Nach der von den Strafsenaten des Reichsgerichts vertretenen Bedingungs- oder Äquivalenztheorie gilt als Ursache oder Mitursache eines rechtswidrigen Erfolgs im strafrechtlichen Sinne jede – als Bedingung dieses Erfolgs sich darstellende – Handlung oder Unterlassung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele.“

 

Das Berufungsgericht habe zu strenge Anforderungen an den Nachweis des Ursachenzusammenhangs gestellt:

„Liegt aber im einzelnen Falle der Nachweis vor, daß ein schädigendes Ereignis tatsächlich als Wirkung eines menschlichen Verhaltens eingetreten ist, dann genügt zur Verneinung des Ursachenzusammenhangs nicht schon die bloße, schwer oder gar nicht zu berechnende Möglichkeit einer Ursache, welche die gleiche Wirkung hätte haben können, wenn jene tatsächlich wirksam gewordene Bedingung nicht vorhanden gewesen wäre. Nur wenn die Gewißheit oder eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür vorläge, daß das schädigende Ereignis auch eingetreten sein würde, wenn das schuldhafte Verhalten nicht vorausgegangen wäre, so würde damit der Beweis geliefert sein, daß dieses Verhalten jenen Erfolg nicht verursacht habe (RGSt. Bd. 15 S. 151 [153]; Urt. I 375/27 vom 17. Mai 1927, I 564/28 vom 14. Dezember 1928, I 1247/28 vom 8. März 1929; die Entscheidung in RGSt. Bd. 51 S. 127 steht nicht entgegen). Hiernach hat die Strafkammer zu strenge Anforderungen an den Nachweis des Ursachenzusammenhangs gestellt; denn indem sie für die Bejahung des Ursachenzusammenhangs eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür verlangt, daß im Falle der Desinfektion die Ansteckung mit ihren Folgen ausgeschlossen gewesen wäre, läßt sie für die Verneinung des Ursachenzusammenhangs schon die bloße Möglichkeit genügen, daß auch bei pflichtgemäßer Desinfektion, also ohne das schuldhafte Verhalten des Angeklagten, das gleiche schädigende Ereignis eingetreten wäre.“

Selbst wenn mit einer Desinfektion eine Ansteckung nicht hätte vermieden werden können, sei zu prüfen, ob dadurch nicht wenigstens der Verlauf der Krankheit gemildert und ggf. der Tod hätte vermieden werden können:

„Ergäbe sich aber, daß bei der Verarbeitung ausländischer Ziegenhaare, die mit Milzbrandbazillen behaftet sind, auch durch die Vornahme einer der drei zugelassenen Desinfektionsverfahren eine Ansteckung und Erkrankung in der Regel nicht verhindert werden kann, und läge demnach eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür vor, daß eine Ansteckung und Erkrankung an Milzbrandbazillen auch ohne das schuldhafte Verhalten des Angeklagten eingetreten wäre, so müßte noch weiter geprüft werden, ob das gleiche auch für den schweren Verlauf der Krankheit und den Eintritt des Todes gilt. Die Ansteckung mit Milzbrandbazillen ist nicht immer tödlich, wie sich schon daraus ergibt, daß ein Arbeiter genesen ist. Vom Laienstandpunkt aus ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß durch eine Desinfektion die an den Haaren haftenden Bazillen zwar nicht völlig beseitigt, die Haare nicht völlig keimfrei gemacht und die Ansteckung und Erkrankung der mit ihnen befaßten Arbeiter nicht vermieden, daß aber die Zahl und die Kraft der Krankheitserreger so vermindert worden wäre, daß die Krankheit einen milderen Verlauf genommen und nicht zum Tod geführt hätte. Das Berufungsgericht wird gegebenenfalls auch über diese Frage einen Sachverständigen hören und in den Urteilsgründen hierzu Stellung nehmen müssen.“

 

D. Fazit

Das Reichsgericht nimmt nicht ausdrücklich Stellung zur Frage, ob dem Angeklagten ein Tun oder Unterlassen (§ 13 StGB) vorzuwerfen ist. Es dürfte das aktive Ausgeben des verseuchten Materials und nicht das Unterlassen der Desinfektion im Vordergrund gestanden haben, wenngleich die Abgrenzung immer mit einer gewissen Unschärfe behaftet sein wird. Daher ist der „Ziegenhaar-Fall“ heute einer der klassischen Problemfälle bei der Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen, auch wenn sich das Reichsgericht ursprünglich mit einer anderen Rechtsfrage auseinandergesetzt hatte.

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