"Internationale Handelsgesellschaft"

A. Sachverhalt

Die Marktordnungen der EWG sehen für die Einfuhr bestimmter Agrarprodukte aus Drittstaaten und teilweise auch für die Ausfuhr eine Lizenz vor, die nicht nur zur Einfuhr oder Ausfuhr berechtigt, sondern sogar verpflichtet. Deshalb muss der Antragsteller eine Kaution beibringen, um sicherzustellen, dass er seiner Verpflichtung während der Gültigkeitsdauer der Lizenz nachkommt. Die Kaution verfällt, wenn die Einfuhr oder Ausfuhr nicht bis zum Ablauf der Lizenz durchgeführt wird, es sei denn, dass ein Fall höherer Gewalt vorliegt.

 

B. Worum geht es?

Das für die Einfuhr- und Vorratsstellen örtlich zuständige VG Frankfurt hatte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der genannten Marktordnungen. Nach Auffassung des VG verstößt die Kautionsregelung gegen bestimmte Strukturprinzipien des nationalen Verfassungsrechts, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts gewährleistet werden müssten, sodass der Vorrang des übernationalen Rechts vor den Grundsätzen des deutschen Grundgesetzes zurückzutreten habe. Insbesondere verstoße die Kautionsregelung gegen die Grundsätze der Entfaltungs- und Dispositionsfreiheit, der Wirtschaftsfreiheit und der Verhältnismäßigkeit, die sich namentlich aus den Art. 2 I und 14 GG ergäben. Die aus der Erteilung der Lizenzen fließende Verpflichtung zur Ein- oder Ausfuhr sei in Verbindung mit der daran anknüpfenden Kautionsstellung ein übermäßiger Eingriff in die Dispositionsfreiheit des Handels, da der Zweck der Verordnungen durch weniger folgenschwere Eingriffe hätte erreicht werden können.

Der EuGH hatte damit die Frage zu entscheiden, ob die Marktordnungen der EWG am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts (hier: des Grundgesetzes) zu messen seien oder ob der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auch dem nationalen Verfassungsrecht gelte.

 

C. Wie hat der EuGH entschieden?

Der EuGH erweitert in dem Urteil Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel (Urt. v. 17.12.1970 – Rechtssache 11/70 (NJW 1971, 343)) sein Verständnis des in den Rechtssachen van Gend & Loos (1963) und Costa ./. ENEL (1964) etablierten Vorrang des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Verfassungsrecht. Die Gültigkeit von Akten der Organe der Gemeinschaft könnten nur nach dem Gemeinschaftsrecht und nicht nach nationalem Verfassungsrecht beurteilt werden:

„Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. Die Gültigkeit solcher Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden; denn dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt.“

 

Allerdings gehöre auch die Beachtung von Grundrechten zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der EuGH sicherzustellen habe:

„Es ist jedoch zu prüfen, ob nicht eine entsprechende gemeinschaftsrechtliche Garantie verkannt worden ist; denn die Beachtung der Grundrechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Die Gewährleistung dieser Rechte muß zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muß sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen.“

 

Daher ist der Gerichtshof in die Prüfung eingetreten, ob die Kautionsregelung Grundrechte verletzt habe, deren Beachtung die Gemeinschaftsrechtsordnung gewährleisten müsse.

 

D. Fazit

Das Urteil in ‘Internationale Handelsgesellschaft’ und das dortige weite Verständnis des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts warf natürlich die Frage auf, in welchem Verhältnis die Kompetenzen von EuGH und BVerfG stehen. Konkret: Dürfen nationale Gerichte dem BVerfG Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft im Normenkontrollverfahren nach Art. 100 I GG zur Prüfung ihrer Übereinstimmung mit der Verfassung, insbesondere den Grundrechten, vorlegen?

Eine Frage, die das BVerfG im Jahr 1974 zunächst in „Solange I“ beantwortet hat: Die Möglichkeit der grundrechtlichen Prüfung durch das BVerfG müsse „solange“ bestehen bleiben, solange der Integrationsprozess nicht soweit fortgeschritten sei, dass der europäische Grundrechtsschutz das Niveau der deutschen Grundrechte erreicht habe. Allerdings müsse das vorlegende Gericht vor Anrufung des BVerfG eine Entscheidung des EuGH einholen, dem zunächst das Recht zustehe, das Gemeinschaftsrecht auszulegen. Schon dies war Ausdruck des sogenannten „Kooperationsverhältnisses“ zwischen BVerfG und EuGH.

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