Solange I

A. Sachverhalt

Vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt/Main klagt ein deutsches Import- und Exportunternehmen auf Aufhebung eines Bescheides der Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel, in dem eine Kaution in Höhe von 17 026,47 DM für verfallen erklärt worden ist, nachdem die Firma eine ihr erteilte Ausfuhrlizenz über 20 000 Tonnen Maisgrieß nur teilweise ausgenutzt hatte.

Der Bescheid ist auf Art. 12 I Unterabsatz 3 der Verordnung Nr. 120/67/EWG des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 13. Juni 1967 (Amtsbl. der Europäischen Gemeinschaften S. 2269) und auf Art. 9 der Verordnung Nr. 473/ 67/EWG der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 21. August 1967 (Amtsbl. der Europäischen Gemeinschaften Nr. 204, S. 16) gestützt:

Art. 12 I VO Nr. 120/67/EWG lautet:

“(1) Für alle Einfuhren der in Artikel 1 genannten Erzeugnisse in die Gemeinschaft sowie für alle Ausfuhren dieser Erzeugnisse aus der Gemeinschaft ist die Vorlage einer Einfuhr- bzw. Ausfuhrlizenz erforderlich, die von den Mitgliedstaaten jedem Antragsteller unabhängig vom Ort seiner Niederlassung in der Gemeinschaft erteilt wird. …

Die Erteilung dieser Lizenzen hängt von der Stellung einer Kaution ab, die die Erfüllung der Verpflichtung sichern soll, die Einfuhr oder Ausfuhr während der Gültigkeitsdauer der Lizenz durchzuführen; die Kaution verfällt ganz oder teilweise, wenn die Ein- bzw. Ausfuhr innerhalb dieser Frist nicht oder nur teilweise erfolgt ist.”

 

Art. 8 II der Verordnung Nr. 473/67/EWG lautet:

“(2) Wenn die Verpflichtung zur Einfuhr oder Ausfuhr während der Gültigkeitsdauer der Lizenz nicht erfüllt worden ist, verfällt vorbehaltlich von Art. 9 die Kaution …”

 

Art. 9 der Verordnung Nr. 473/67/EWG lautet:

“(1) Wird die Einfuhr oder Ausfuhr innerhalb der Gültigkeitsdauer der Lizenz durch einen als höhere Gewalt anzusehenden Umstand verhindert, und wenn die Berücksichtigung dieser Umstände beantragt wird:

a) so ist in den in Absatz (2) Buchstaben a) bis d) genannten Fällen die Verpflichtung zur Einfuhr oder Ausfuhr erloschen, und die Kaution verfällt nicht. …

b) so wird in den in Absatz (2) Buchstaben e) bis h) genannten Fällen die Gültigkeitsdauer der Lizenz um die Frist verlängert, die die zuständige Stelle infolge dieses Umstands als notwendig erachtet.

Auf Antrag kann die zuständige Stelle jedoch bestimmen, daß die Verpflichtung zur Einfuhr oder Ausfuhr erlischt und die Kaution nicht verfällt. …

(2) Folgende Umstände sind als höhere Gewalt im Sinne des Absatzes

(1) anzusehen, und zwar in dem Maße, als sie der Grund für die Nichterfüllung der Verpflichtung des Ein- oder Ausführers sind:

a) Krieg und Unruhen;

b) staatliche Einfuhr- oder Ausfuhrverbote;

c) Behinderung der Schiffahrt durch hoheitliche Maßnahmen;

d) Schiffsuntergang;

e) Havarie des Schiffes oder der Ware;

f) Streik;

g) Unterbrechung der Schiffahrt wegen Eisgangs oder wegen Niedrigwassers;

h) Maschinenschaden.

Nicht als höhere Gewalt im Sinne des Absatzes (1) ist die Anwendung der “extension clause” anzusehen.

(3) Erkennen die zuständigen Stellen andere Umstände als die in Absatz (2) genannten als höhere Gewalt im Sinne des Absatzes (1) an, so teilen sie diese unverzüglich der Kommission mit. Dabei ist anzugeben, ob Absatz (1) Buchstabe a) oder Buchstabe b) angewandt wird.

(4) …

(5) Der Importeur oder Exporteur weist die als höhere Gewalt angesehenen Umstände durch amtliche Unterlagen nach.”

 

Das Verwaltungsgericht hat zunächst eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 177 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (im Folgenden kurz: Vertrag) eingeholt, ob die zitierten Vorschriften der genannten Verordnungen nach dem Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft rechtens sind. Im Urteil dieses Gerichtshofs vom 17. Dezember 1970 - Rechtssache 11/70 - wird die Rechtmäßigkeit der umstrittenen Verordnungen bestätigt (ebenso im Urteil vom 10. März 1971 – Rechtssache 38/70).

 

Dazu wird ausgeführt: Innerstaatliche Rechtsvorschriften könnten wegen der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts diesem nicht vorgehen. Die in ihrer Gültigkeit angezweifelten Vorschriften des Gemeinschaftsrechts seien ein notwendiges und angemessenes Mittel, um den Behörden die unentbehrliche Intervention auf dem Getreidemarkt zu ermöglichen. Die Kautionsregelung trage der Tatsache Rechnung, dass die Lizenzanträge aus freier Entscheidung des Unternehmens gestellt würden, und dass sie gegenüber anderen denkbaren Systemen den doppelten Vorzug der Einfachheit und Wirksamkeit habe. Gegenüber einer im öffentlichen Interesse der Gemeinschaft eingeführten Regelung müsse das ausschließlich auf das Interesse bestimmter Unternehmer abgestellte Verhalten zurücktreten. Der Kautionsverfall sei weder eine Geldbuße noch eine Strafe, sondern eine Sicherung für die Erfüllung einer freiwillig übernommenen Verpflichtung. Die Ausnahmeregelung für den Fall höherer Gewalt sei eine Bestimmung, die geeignet sei, das normale Funktionieren der Getreidemarktordnung zu gewährleisten, ohne die Importeure und Exporteure über Gebühr zu belasten. Der Begriff der höheren Gewalt sei elastisch, da er sich nicht auf die Fälle der absoluten Unmöglichkeit beschränke, sondern auch Fälle einer ungewöhnlichen, vom Willen des Lizenzinhabers unabhängigen Lage umfasse, deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nur um den Preis unverhältnismäßiger Opfer vermieden werden könnten.

Das Verwaltungsgericht hat dann mit Beschluss vom 24. November 1971 sein Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 100 I GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts begehrt, ob die nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht bestehende Ausfuhrverpflichtung und die damit verbundene Pflicht zur Kautionshinterlegung mit dem Grundgesetz vereinbar sei, und ob bei Bejahung dieser Frage die Regelung, dass nur bei höherer Gewalt die Kaution freizugeben sei, mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

 

B. Worum geht es?

Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren nach Art. 100 I GG auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen, wenn es sich um die Verletzung des Grundgesetzes handelt. Hier geht es indes nicht um ein nationales (deutsches) Gesetz, sondern um eine europäische Verordnung der (damaligen) EWG. Im Kern dreht sich die Entscheidung also um die Bestimmung des Verhältnisses von Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland und Europäischem Gemeinschaftsrecht, das auf der Grundlage des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entstanden ist (genauer: sekundäres Gemeinschaftsrecht, dessen Vollzug in der Hand von Verwaltungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland liegt). Das BVerfG hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

„Ist die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert?“

C. Wie hat das BVerfG entschieden?

Das BVerfG hält in der Entscheidung „Solange I“ (Beschl. v. 29.5.1974 – 2 BvL 52/71 (BVerfGE 37, 271 ff.)) die Vorlage für zulässig. Solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten sei, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, sei nach Einholung der (in Art. 177 EWGV a.F. geforderten) Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar halt, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiere.

 

Zunächst führt das BVerfG zur Natur des Gemeinschaftsrechts und dem Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht aus.

„Der Senat hält - insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - an seiner Rechtsprechung fest, daß das Gemeinschaftsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechtsordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt (BVerfGE 22, 293 [296]; 31, 145 [173 f.]); denn die Gemeinschaft ist kein Staat, insbesondere kein Bundesstaat, sondern “eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art”, eine “zwischenstaatliche Einrichtung” im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG.

Daraus folgt, daß grundsätzlich die beiden Rechtskreise unabhängig voneinander und nebeneinander in Geltung stehen und daß insbesondere die zuständigen Gemeinschaftsorgane einschließlich des Europäischen Gerichtshofs über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Gemeinschaftsrechts und die zuständigen nationalen Organe über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland zu befinden haben. Weder kann der Europäische Gerichtshof verbindlich entscheiden, ob eine Regel des Gemeinschaftsrechts mit dem Grundgesetz vereinbar ist, noch das Bundesverfassungsgericht, ob und mit welchem Inhalt eine Regel des sekundären Gemeinschaftsrechts mit dem primären Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Das führt zu keinerlei Schwierigkeiten, solange beide Rechtsordnungen inhaltlich nicht miteinander in Konflikt geraten. Deshalb erwächst aus dem besonderen Verhältnis, das zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern durch die Gründung der Gemeinschaft entstanden ist, für die zuständigen Organe, insbesondere für die beiden zur Rechtskontrolle berufenen Gerichte - den Europäischen Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht - zunächst die Pflicht, sich um die Konkordanz beider Rechtsordnungen in ihrer Rechtsprechung zu bemühen. Nur soweit das nicht gelingt, kann überhaupt der Konflikt entstehen, der zwingt, die Konsequenzen aus dem dargelegten grundsätzlichen Verhältnis zwischen den beiden Rechtskreisen zu ziehen.

Für diesen Fall genügt es nicht, einfach vom “Vorrang” des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht zu sprechen, um das Ergebnis zu rechtfertigen, daß sich Gemeinschaftsrecht stets gegen das nationale Verfassungsrecht durchsetzen müsse, weil andernfalls die Gemeinschaft in Frage gestellt würde. So wenig das Völkerrecht durch Art. 25 GG in Frage gestellt wird, wenn er bestimmt, daß die allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts nur dem einfachen Bundesrecht vorgehen, und so wenig eine andere (fremde) Rechtsordnung in Frage gestellt wird, wenn sie durch den ordre public der Bundesrepublik Deutschland verdrängt wird, so wenig wird das Gemeinschaftsrecht in Frage gestellt, wenn ausnahmsweise das Gemeinschaftsrecht sich gegenüber zwingendem Verfassungsrecht nicht durchsetzen läßt. Die Bindung der Bundesrepublik Deutschland (und aller Mitgliedstaaten) durch den Vertrag ist nach Sinn und Geist der Verträge nicht einseitig, sondern bindet auch die durch sie geschaffene Gemeinschaft, das ihre zu tun, um den hier unterstellten Konflikt zu lösen, also nach einer Regelung zu suchen, die sich mit einem zwingenden Gebot des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland verträgt. Die Berufung auf einen solchen Konflikt ist also nicht schon eine Vertragsverletzung, sondern setzt den Vertragsmechanismus innerhalb der europäischen Organe in Gang, der den Konflikt politisch löst.“

 

Der Grundrechtsteil des Grundgesetzes werde durch Art. 24 GG nicht relativiert. Zum Zeitpunkt der Entscheidung fehlte es nach Ansicht des BVerfG an der Garantie der Durchsetzung eines dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene:

„Ein unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist der Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Ihn zu relativieren, gestattet Art. 24 GG nicht vorbehaltlos. Dabei ist der gegenwärtige Stand der Integration der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Sie entbehrt noch eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind; sie entbehrt insbesondere noch eines kodifizierten Grundrechtskatalogs, dessen Inhalt ebenso zuverlässig und für die Zukunft unzweideutig feststeht wie der des Grundgesetzes und deshalb einen Vergleich und eine Entscheidung gestattet, ob derzeit der in der Gemeinschaft allgemein verbindliche Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts auf die Dauer dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes, unbeschadet möglicher Modifikationen, derart adäquat ist, daß die angegebene Grenze, die Art. 24 GG zieht, nicht überschritten wird. Solange diese Rechtsgewißheit, die allein durch die anerkanntermaßen bisher grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht gewährleistet ist, im Zuge der weiteren Integration der Gemeinschaft nicht erreicht ist, gilt der aus Art. 24 GG hergeleitete Vorbehalt. Es handelt sich also um eine rechtliche Schwierigkeit, die ausschließlich aus dem noch in Fluß befindlichen fortschreitenden Integrationsprozeß der Gemeinschaft entsteht und mit der gegenwärtigen Phase des Übergangs beendet sein wird.

Vorläufig entsteht also in dem unterstellten Fall einer Kollision von Gemeinschaftsrecht mit einem Teil des nationalen Verfassungsrechts, näherhin der grundgesetzlichen Grundrechtsgarantien, die Frage, welches Recht vorgeht, das andere also verdrängt. In diesem Normenkonflikt setzt sich die Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes durch, solange nicht entsprechend dem Vertragsmechanismus die zuständigen Organe der Gemeinschaft den Normenkonflikt behoben haben.“

 

Deswegen bemesse sich der Gerichtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht ausschließlich nach dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland und der näheren Regelung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz:

„a) Im Normenkontrollverfahren auf Vorlage eines Gerichts geht es immer um die Überprüfung einer gesetzlichen Vorschrift. Da das Gemeinschaftsrecht die im nationalen Recht herkömmliche Unterscheidung zwischen Vorschriften eines förmlichen Gesetzes und Vorschriften einer auf ein förmliches Gesetz gestützten Verordnung nicht kennt, ist jede Form einer Verordnung der Gemeinschaft im Sinne der Verfahrensvorschriften für das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Vorschrift.

b) Eine erste Schranke ergibt sich für die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts daraus, daß es nur Akte der deutschen Staatsgewalt, also Entscheidungen der Gerichte, Verwaltungsakte der Behörden und Maßnahmen der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland zum Gegenstand seiner Kontrolle machen kann. Deshalb hält das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde eines Bürgers der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar gegen eine Verordnung der Gemeinschaft für unzulässig (BVerfGE 22, 293 [297]).

c) Vollzieht eine Verwaltungsbehörde der Bundesrepublik Deutschland oder handhabt ein Gericht der Bundesrepublik Deutschland eine Verordnung der Gemeinschaft, so liegt darin Ausübung deutscher Staatsgewalt; und dabei sind Verwaltungsbehörde und Gerichte auch an das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland gebunden. Was den Grundrechtsschutz anlangt, vollzieht er sich nach dem Verfahrensrecht des Bundesverfassungsgerichts, wenn man von der Verfassungsbeschwerde absieht, die erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig ist - die Ausnahme des § 90 Abs. 2 BVerfGG kommt bei der Anfechtung eines auf eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts gestützten Verwaltungsakts kaum je in Betracht -, im Wege der Gerichtsvorlage im sog. Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses Verfahren bedarf im Hinblick auf die dargelegten Besonderheiten des Verhältnisses von nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht einiger Modifikationen, wie sie das Bundesverfassungsgericht auch sonst in der Vergangenheit in seiner Rechtsprechung für notwendig gehalten hat. So hat es beispielsweise im Rahmen einer Normenkontrolle die bestehende Rechtslage im Hinblick auf einen Verfassungsauftrag als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar festgestellt und eine Frist zur Behebung des Mangels gesetzt; so hat es sich mit der Feststellung der Unvereinbarkeit einer Regelung mit dem Gleichheitssatz begnügt, ohne die Regelung für nichtig zu erklären; so hat es eine von den Besatzungsmächten in Kraft gesetzte Regelung als mit dem Grundgesetz in Widerspruch stehend erklärt und die Bundesregierung verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß sie durch den deutschen Gesetzgeber mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht werden kann; so hat es die vorbeugende Normenkontrolle gegenüber Vertragsgesetzen entwickelt. Im Zuge dieser Rechtsprechung liegt es, wenn sich das Bundesverfassungsgericht in Fällen der hier in Rede stehenden Art darauf beschränkt, die Unanwendbarkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts durch die Verwaltungsbehörden oder Gerichte der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, soweit sie mit einer Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes kollidiert.

Die Konzentrierung dieser Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht ist nicht nur verfassungsrechtlich aus demselben Grund geboten, der zum sog. Verwerfungsmonopol des Gerichts geführt hat, sondern liegt auch im Interesse der Gemeinschaft und ihres Rechts. Nach dem Grundgedanken des Art. 100 Abs. 1 GG ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu verhüten, daß jedes deutsche Gericht sich über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, indem es die von ihm beschlossenen Gesetze nicht anwendet, weil sie nach Auffassung des Gerichts gegen das Grundgesetz verstoßen (BVerfGE 1, 184 [197]; 2, 124 [129]). Das innerstaatliche Gesetzesrecht erhält damit einen Geltungsschutz gegenüber Gerichten, die ihm aus verfassungsrechtlichen Gründen die Gültigkeit versagen möchten. Ähnlich verhält es sich mit der Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG, nach der bei Zweifeln, ob eine allgemeine Regel der Völkerrechts Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muß. Deshalb erfordert es der Grundgedanke des Art. 100 GG, die Geltung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland in gleicher Weise wie das nationale Recht vor Beeinträchtigung zu schützen.“

 

D. Fazit

Wir merken uns das Ergebnis von „Solange I“ aus dem Jahr 1974:

„Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrags geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.“

In den kommenden Wochen werden uns ansehen, wie das BVerfG in der Folgezeit seine Rechtsprechung weiterentwickelt hat.

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