Fensterbrett-Fall

A. Sachverhalt

Der Angeklagte war Tänzer in einer afrikanischen Tanzgruppe, die in verschiedenen deutschen Städten gastierte. Auch seine Ehefrau war dort als Tänzerin engagiert. Das Leben der Eheleute war geprägt von einer traditionellen Rollenverteilung, wonach der Ehemann u. a. auch über den Aufenthalt der Frau bestimmen konnte. In der Tanzgruppe fiel der Angeklagte dadurch auf, dass er seine Frau mehrmals körperlich misshandelte und ein weiteres weibliches Ensemblemitglied schlug. Deswegen wurde ihm gekündigt. Dies traf den Angeklagten hart, da er nicht nur sein ihm wichtiges Engagement und sein Aufenthaltsrecht in Deutschland verlor, sondern die Kündigung auch als empfindlichen Rückschlag für sein Lebenskonzept, das er bislang zielstrebig umgesetzt hatte, empfand.

Seine Ehefrau, G., blieb weiter bei der Tanzgruppe und genoss ihre neuen Freiheiten. Dies entsprach jedoch nicht den Vorstellungen des Angeklagten, der mit seiner Frau in den Senegal zurückkehren wollte. Am 31. Juli 2006 besuchte er seine Ehefrau für vier Tage in ihrer Zweizimmerwohnung im achten Stock eines Berliner Appartementhauses; er wollte sie überreden, mit ihm nach Afrika zurückzukehren. Hierauf ließ sich Frau G. jedoch nicht ein, sie wollte weiterhin bei der Tanzgruppe bleiben. Kurz vor seiner Abreise forderte der Angeklagte am 3. August 2006 immer energischer die gemeinsame Rückkehr und bedrohte seine Frau mit dem Tod. Als sie sich weiterhin weigerte, die Tanzgruppe zu verlassen, drohte er damit, sich selbst zu töten. Frau G. erklärte, dass er dies nicht machen solle, stattdessen werde sie sich umbringen.

Während dieser erhitzten Diskussion griff der Angeklagte nach einem Messer. Als seine Frau versuchte, es ihm zu entwinden, brach in dem Angeklagten aufgrund der erlittenen Kränkungen und vor dem Hintergrund des “ambivalenten Verhaltens” seiner Ehefrau - während des Besuchs hatten die Eheleute jede Nacht Geschlechtsverkehr - ein “Aggressionssturm” los. Unter der Einwirkung dieses Ausnahmezustands versetzte er seiner Frau mit dem 20 Zentimeter langen Küchenmesser in Verletzungsabsicht einen Stich in den Rücken, der etwa vier Zentimeter tief eindrang. Frau G. floh barfuß in das gegenüberliegende Schlafzimmer. “In einer Kurzschlussreaktion” stieg sie mit “Schwung” auf das Fensterbrett, aufgrund der geringen Fensterhöhe konnte sie sich nur zu dreiviertel aufrichten, sie fand keinen Halt auf dem schmalen Fensterbrett, rutschte aus und fiel etwa 25 Meter in die Tiefe in ein Gebüsch. Durch den Sturz erlitt sie tödliche Verletzungen. Der Angeklagte war ihr mit dem Messer in der Hand nachgelaufen, nachdem er erkannt hatte, dass sie auf das Fensterbrett kletterte, konnte sie aber nicht mehr erreichen. Er rannte sofort nach unten, zerrte die Leiche seiner Frau in ein anderes Gebüsch und flüchtete.

B. Worum geht es?

Ein Fall, der dem bereits vorgestellten „Rötzel-Fall“ sehr ähnlich ist. Dort hatte der BGH eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) verneint, weil es am sog. Unmittelbarkeitszusammenhang (oder tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang) fehle.

Der notwendige Unmittelbarkeitszusammenhang liege nämlich nicht vor, wenn der Tod unmittelbar erst durch das Eingreifen eines Dritten oder das Verhalten des Opfers selbst herbeigeführt wurde. In solchen Fällen habe sich im Tod nicht mehr die der Körperverletzung innewohnende typische Gefahr verwirklicht:

„Allerdings ist es nach der Einführung des § 56 StGB [§ 18 StGB n.F.] nicht mehr nötig, um eine nicht verschuldete Todesfolge von der Anwendbarkeit des § 226 StGB [§ 227 StGB n.F.] auszuschließen, mit der Forderung nach einem “typischen Kausalverlauf” Elemente der Vorhersehbarkeit in die Prüfung des Ursachenzusammenhangs einzufügen. Von dort her besteht ein solches Bedürfnis nicht mehr. Indessen ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des § 226 StGB, daß hier eine engere Beziehung zwischen der Körperverletzungshandlung und dem tödlichen Erfolg gefordert ist als sie ein Ursachenzusammenhang nach der Bedingungstheorie voraussetzt. Entgegengewirkt werden sollte mit der Schaffung der Vorschrift der der Körperverletzung anhaftenden spezifischen Gefahr des Eintritts des qualifizierenden Erfolges (vgl. Oehler ZStW 1969, 503, 513). In einem tödlichen Ausgang, der unmittelbar erst durch das Eingreifen eines Dritten oder das Verhalten des Opfers selbst herbeigeführt wurde, hat sich aber nicht mehr die dem Grundtatbestand (§ 223 StGB) eigentümliche Gefahr niedergeschlagen (vgl. Ulsenheimer GA 1966, 257, 268), die der Gesetzgeber im Auge hatte. Auch die hohe Mindeststrafe des § 226 StGB spricht für eine einschränkende Auslegung.

Gegen diese Ansicht kann nichts aus einem Vergleich mit der Rechtsprechung zu §§ 178 und 224 StGB hergeleitet werden, wie das Schwurgericht es versucht. Denn die Frage läßt sich nicht für alle erfolgsqualifizierten Delikte einheitlich lösen. Diese sind nicht völlig wesensgleich; es kommt auf die jeweilige tatbestandliche Ausgestaltung an.“

 

Im Fall „Gubener Hetzjagd“ hatte der BGH indes diesen restriktiven Standpunkt aufgegeben und darauf verwiesen, dass eine Flucht “Hals über Kopf” bei den durch Gewalt und Drohung geprägten Straftaten geradezu deliktstypisch sei. Dabei betonte der BGH aber auch das außergewöhnlich massive Vorgehen der dortigen Angeklagten, weswegen sich nun die Frage stellte, ob die dort aufgestellten Grundsätze auch hier Anwendung finden.

Der BGH hatte also (wieder einmal) die Frage zu beantworten:

“ Kommt eine Strafbarkeit nach § 227 StGB in Betracht, wenn ein selbstgefährdendes Verhalten des Opfers zum Tod führt?“

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH ändert im „Fensterbrett-Fall“ (Urt. v. 10.1.2008 – 5 StR 435/07 (NStZ 2008, 278)) den Schuldspruch ab und verurteilt den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 354 I StPO analog). Die nach § 227 StGB notwendige tatbestandstypische Gefahr könne sich auch dann im Tod des Opfers verwirklicht haben, wenn die unmittelbar zum Tod führende Ursache ein Verhalten des Opfers war, sofern dieses selbstschädigende Verhalten sich als naheliegende und deliktstypische Reaktion darstellt, wie dies bei Fluchtversuchen in Panik und Todesangst der Fall sei.

 

Der Senat bestätigt die Linie aus dem Fall „Gubener Hetzjagd“, wonach die deliktsspezifische Gefahr auch von der Körperverletzungshandlung ausgehen könne und ein selbstschädigendes Verhalten des Opfers den Unmittelbarkeitszusammenhang nicht zwingend beseitige:

„Die Vorschrift des § 227 StGB setzt unter anderem voraus, dass der Tod der verletzten Person “durch die Körperverletzung (§§ 223 bis 226)” verursacht worden ist, wobei dem Täter hinsichtlich dieser Tatfolge Fahrlässigkeit zur Last fallen muss (§ 18 StGB). Zwar genügt zur Erfüllung dieser Voraussetzung ein lediglich kausaler Zusammenhang zwischen Körperverletzung und Tod der verletzten Person nicht, vielmehr ist eine engere Beziehung vorausgesetzt (Fischer, StGB 55. Aufl. § 227 Rdn. 3). Denn erfasst werden nur solche Körperverletzungen, denen die spezifische Gefahr anhaftet, zum Tode des Opfers zu führen; gerade diese Gefahr muss sich im tödlichen Ausgang niedergeschlagen haben (BGHSt 31, 96, 98; 48, 34, 37; BGHR StGB § 226 Todesfolge 5; § 227 [i. d. F. 6. StrRG] Todesfolge 1). Diese deliktsspezifische Gefahr kann aber auch von der Körperverletzungshandlung ausgehen, einer Kausalität zwischen Körperverletzungserfolg und dem Tod des Opfers bedarf es nicht (BGHSt 14, 110, 112; 48, 34, 37 f.). Eine solche tatbestandstypische Gefahr kann sich auch dann im Tod des Opfers verwirklicht haben, wenn die unmittelbar zum Tod führende Ursache ein Verhalten des Opfers war, sofern dieses selbstschädigende Verhalten sich als naheliegende und deliktstypische Reaktion darstellt, wie dies bei Fluchtversuchen in Panik und Todesangst der Fall ist (BGHSt 48, 34, 38 f. Fischer Rdn. 4 aaO).“

 

Nach diesen Maßstäben liege der Unmittelbarkeitszusammenhang des § 227 StGB hier vor; dabei verweist der BGH auf die deliktstypische „Kurzschlussreaktion“ des Opfers:

„Danach hat sich der Angeklagte der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht. Denn von seinem Verhalten - Messerstich in den Rücken nach Todesdrohung bei auswegloser Lage des Opfers - ging auch die Gefahr aus, dass Frau G., die um ihr Leben fürchten musste, in Panik geriet und bei riskanten Fluchtversuchen zu Tode kommt. Der erforderliche Zurechnungszusammenhang wurde entgegen der Ansicht des Landgerichts, das damit einen zu engen Maßstab an die Verknüpfung von Körperverletzung und Todesfolge anlegt, auch nicht durch das Opferverhalten unterbrochen. Denn angesichts der konkreten Bedrohungssituation war das - wenngleich kopflose - Fluchtverhalten von Frau G. eine typische, dem Schutzzweck des § 227 StGB unterfallende unmittelbare (Kurzschluss-)Reaktion auf die lebensgefährliche Körperverletzungshandlung mit dem Messer - ein Vorgehen, das die Strafkammer zutreffend als massiv bewertet hat. Dass Frau G. sich zu dem festgestellten Fluchtverhalten gedrängt sah, war allein auf die Körperverletzungshandlung des Angeklagten zurückzuführen und nicht mehr durch einen autonomen, mit diesem Geschehen nur durch die bloße Kausalität verbundenen Willensbildungsprozess beeinflusst.“

 

Die Entscheidung des BGH im „Rötzel-Fall“ stehe dem nicht entgegen:

„Das - nach Auffassung des Senats ohnehin zu restriktive - Urteil des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 30. September 1970 - 3 StR 119/70 (NJW 1971, 152, 153) steht nicht entgegen, denn weit stärker und damit anders als dort sah sich das Opfer hier einer konkret lebensgefährlichen Körperverletzung ausgesetzt, was eine abweichende Bewertung der Typizität der Opferreaktion begründen kann. Dies gilt im Ergebnis auch für das noch vor dem Hintergrund der für erforderlich gehaltenen Kausalität des Körperverletzungserfolgs für den Tod ergangene Urteil des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 3. Dezember 1953 - 4 StR 378/53.“

D. Fazit

Der Fensterbrett-Fall ist die konsequente Fortsetzung der Entscheidung des BGH zur „Gubener Hetzjagd“. Auch in aktuellen Entscheidungen greift der BGH darauf zurück, zuletzt etwa in einem Fall zu § 238 III StGB.