Verfolger-Fall

A. Sachverhalt

Der Angekl. P hat zusammen mit den früheren Mitangeklagten W, M und T in der Nacht zum 21.4.1952 versucht, in das Lebensmittelgeschäft A in L einzudringen, um dort zu stehlen. Jeder von ihnen war dabei mit einer geladenen Pistole bewaffnet. Als P die Fensterscheibe des Schlafzimmers der Eheleute A, das er für einen Büroraum gehalten hatte, eingedrückt und M die Fensterflügel ins Zimmer hinein aufgestoßen hatte, war A ans Fenster gegangen, hatte die Fensterflügel wieder zugestoßen und sich „gestikulierend und wie ein Bär brüllend” vor das Fenster gestellt. Darauf gaben M und T je einen Schuss auf das Fenster ab, wobei die sich gerade aus ihrem Bett erhebende Frau A schwer verletzt wurde. Danach liefen T und M hintereinander auf die Straße zu.

An der vorderen Hausecke bemerkte M rückwärts schauend, dass ihm in einer Entfernung von nicht mehr als 2 bis 3 m eine Person folgte. Diese war P. M hielt ihn aber für einen Verfolger und fürchtete, von ihm ergriffen zu werden. Um der vermeintlich drohenden Festnahme und der Aufdeckung seiner Täterschaft zu entgehen, schoss er auf die hinter ihm hergehende Person; dabei rechnete er mit einer tödlichen Wirkung seines Schusses und billigte diese Möglichkeit. Das Geschoss traf P am rechten Oberarm, durchschlug aber nur den gefütterten Ärmel seines Rockes und verfing sich im aufgekrempelten Hemdärmel.
P hatte schon 1950 einmal mindestens fünf Schüsse auf Polizeibeamte abgegeben, als diese ihn bei dem Versuch, aus einer Brennerei Schnaps zu stehlen, störten. Die Angekl. hatten auch sonst bei ihren jetzt abgeurteilten Diebesfahrten wiederholt geladene Schusswaffen bei sich. Über deren Verwendung hatten sie besprochen, dass auch auf Menschen gefeuert werden solle, wenn die Gefahr der Festnahme eines der Teilnehmer drohe. Jener Abrede aller drei Angekl. entsprach auch der auf P abgegebene Schuss. M wollte ihn treffen, um ihn als den vermeintlichen Verfolger auszuschalten; er hielt auf ihn, um ihn auf alle Fälle, gleichviel an welcher Stelle des Körpers, zu treffen. Es war ihm recht, wenn die Kugel dabei tödlich traf, wenn sie nur überhaupt träfe und den Getroffenen als Verfolger erledigte.  

B. Worum geht es?

Der Mitangeklagte M hat auf seinen vermeintlichen Verfolger, P, geschossen, um ihn zu töten. Damit ist er des versuchten Mordes schuldig (§§ 211, 22, 23 StGB):

„Die Annahme der StrK, daß zunächst der Angekl. M des versuchten Mordes i.S. der §§ 211 Abs. 2, 43 StGB schuldig ist, weil er versucht hat, einen Menschen zu töten, um eine andere Straftat, nämlich den eben versuchten Einbruchsdiebstahl, zu verdecken, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Begriff des Verdeckens i.S. dieser Vorschrift setzt ein „Zudecken” der Tat, also ein Unkenntlichmachen von Tatspuren oder ein Unschädlichmachen von Menschen voraus, die zur Aufdeckung beitragen könnten. Dies suchte der nach seiner Meinung auf frischer Tat verfolgte, dem von dem Einbruchsversuch Betroffenen unbekannte M durch die von ihm bedingt gewollte Tötung seines vermeintlichen Verfolgers zu erreichen (vgl. hierzu 4 StR 131/55 v. 26. 5. 1955, Leitsatz veröff. in NJW 55, Nr. 20, ferner BGHSt. 7, 289 (290) = NJW 55, 876).“

Dass er sich über die Identität seines Verfolgers irrte, lässt den Vorsatz nicht nach § 16 I 1 StGB entfallen, weil es sich bei der Identität des Opfers nicht um einen Umstand handelt, der zum gesetzlichen Tatbestand der §§ 211, 212 StGB gehört (sog. error in persona):

„…, daß dieser andere ein Tatteilnehmer war, würde an der vollständigen Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch M. nichts ändern. Insoweit läge nämlich bei M. - ebenso wie im Falle der Mordabrede - eine sog. Objektsverwechslung vor, die nur bei Ungleichwertigkeit der angegriffenen Rechtsgüter strafrechtlich von Bedeutung ist (vgl. Maurach, Dt. StrafR, Allg. Teil [1954], § 24 III 1).“

Der BGH hatte nun die folgende Frage zu beantworten:

„Ist M Mittäter eines versuchten Mordes (§§ 211, 22, 23, 25 II StGB), obwohl er das Tatopfer ist?“

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH bestätigt im Verfolger-Fall (Urt. v. 23.1.1958 – 4 StR 613/57 (BGHSt 11, 268 ff.)) die Verurteilung des Angeklagten M wegen versuchten Mordes in Mittäterschaft (§§ 211, 22, 23, 25 II StGB). Der Schuss des M auf ihn selbst (P) sei ihm als eigene Handlung zuzurechnen (§ 25 II StGB).

Zunächst bejaht der Senat die Tatherrschaft des P, wobei er auf seine „geistige Mitwirkung“ abstellt:

„Diesen gegen den vermeintlichen Verfolger gerichteten Mordversuch M.s muß sich P. als seine eigene Tat anrechnen und sich dafür als Mittäter bestrafen lassen. Eine solche Bestrafung setzt nicht voraus, daß er selbst ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal des versuchten Mordes verwirklicht hat; es genügt nach st. Rspr. eine geistige Mitwirkung, auch eine Vorbereitungshandlung in der Weise, daß der Mittäter dem ausführenden Tatgenossen durch einen vor der Ausführung gegebenen Rat zur Seite steht oder in irgendeinem Zeitpunkt in sonstiger Weise dessen Tötungswillen stärkt (BGH, NJW 51, 410 Nr. 23); dabei muß er zur Zeit dieser geistigen Mitwirkung den ganzen Erfolg der Straftat als eigenen mitverursachen, d.h. im vorl. Falle die etwaige Erschießung eines Verfolgers durch seinen Tatbeitrag sich zu eigen machen wollen. Das hat das LG mit der Feststellung des ein für allemal verabredeten Waffengebrauchs zur Verhinderung drohender Festnahme und der auf dieser Abrede beruhenden Gefahrengemeinschaft aller drei Mittäter, die M. gewissermaßen zum Schießen „verpflichtete”, hinreichend begründet.
P. war auch im fraglichen Zeitraum an der Tatherrschaft beteiligt. Er hätte bei der räumlichen Nähe seiner beiden Tatgenossen deren Tun jederzeit steuern und sie auffordern können, dieses Mal entgegen der Abrede nicht auf Verfolger zu schießen. Daß er dies bis zur Abgabe des Schusses nicht getan hat, begründet seine Mitverantwortung auch für den auf ihn abgegebenen Schuß (vgl. dazu Maurach, aaO S. 504 b). Dieser Schuß entsprach, da er einem vermeintlichen Verfolger galt, der Abrede aller Beteiligten, überschritt mithin auch nicht den Rahmen des vom Vorsatz des Angekl. Umfaßten und muß ihm daher voll zugerechnet werden (vgl. RGSt. 54, 177, 179 f.).“

Dass P keinen Schuss auf sich selbst gewollt habe, ändere nichts am gemeinsamen Tatplan – ein Mittäterexzess liege nicht vor:

„Entgegen der Meinung der Rev. kommt es innerhalb dieses Rahmens nicht darauf an, ob P. im Augenblick des Schusses mit diesem selbst einverstanden war. Nachdem er durch seinen früheren Tatbeitrag mit Tätervorsatz den Stein ins Rollen gebracht hatte, hätte eine Sinnesänderung ihn nur nach den Grundsätzen des Rücktritts vom Versuch (§ 46 StGB) straflos machen können. Dazu aber wäre Voraussetzung, daß er entweder auch seine Mittäter zur Aufgabe ihres Tötungsvorsatzes bestimmt oder aber sonstwie seinem eigenen Tatbeitrag die ursächliche Wirkung für das weitere strafbare Tun der anderen entzogen hätte (RGSt. 54, 177; 59, 412; JW 34, 692; BGH, NJW 51, 410). Daß dies hier nicht geschehen ist, der Angekl. vielmehr bis zum Schluß und zur Zeit der Abgabe des Schusses in ständigem Zusammenwirken mit den beiden anderen an ihrer ursprünglichen Abrede festgehalten hat, ergeben die klaren Feststellungen des LG.“

Dass §§ 211, 212 StGB nur die Tötung eines anderen Menschen ahndet, hier der Schuss des M sich aber gegen P selber richtete, sei unbeachtlich. Zwar liege für P – anders als für M – kein unbeachtlicher „error in persona vor“. Dennoch sei P wegen eines (untauglichen) Versuchs zu bestrafen, wobei der BGH auf den Vergleich mit einer anderen (hypothetischen) Fallvariante abstellt:

„M. hat den Entschluß, seinen vermeintlichen Verfolger zu töten, durch die Abgabe eines Schusses aus seiner Pistole betätigt. Der Umstand, daß schon M.s Tat nicht den in Rechnung gestellten und gebilligten Tötungserfolg hatte und so im Versuch stecken blieb, verdeckt den rechtlichen Gesichtspunkt des untauglichen Versuchs, der zusätzlich nur für die Beteiligung P.s wirksam wird. Wenn z.B. die Diebe vereinbart hätten, ihre Verfolger nicht zu töten, sondern etwa dadurch unschädlich zu machen, daß sie ihnen zum Zwecke der Blendung Gift oder andere Stoffe in die Augen spritzten, deren sachliche Eignung zur Zerstörung der Gesundheit des so Angegriffenen sie kannten, und wenn M. auf Grund einer solchen Abrede P. derart in der Meinung angegriffen hätte, er sei ein Verfolger, so würde sich P.s Tatbeitrag rechtlich als ein versuchtes Verbrechen nach § 229 StGB darstellen, M. dagegen hätte sich eines vollendeten Verbrechens nach dieser Vorschrift schuldig gemacht. Denn er hätte vorsätzlich einem anderen die in § 229 StGB bezeichneten Stoffe beigebracht; daß dieser andere ein Tatteilnehmer war, würde an der vollständigen Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch M. nichts ändern. Insoweit läge nämlich bei M. - ebenso wie im Falle der Mordabrede - eine sog. Objektsverwechslung vor, die nur bei Ungleichwertigkeit der angegriffenen Rechtsgüter strafrechtlich von Bedeutung ist (vgl. Maurach, Dt. StrafR, Allg. Teil [1954], § 24 III 1). Für P. aber wäre die Tatsache, daß er selbst der Verletzte, also nicht „ein anderer” i.S. jener Vorschriften war, ein „Mangel am Tatbestand”, der aber der Beurteilung der Tat als untauglicher Versuch nicht entgegenstehen würde, weil P. durch seinen Tatbeitrag (die Verabredung der Tat und deren geistige Unterstützung durch seine Gegenwart) M.s Entschluß, einem - damals noch unbekannten - Menschen Gift beizubringen, und die Verwirklichung dieses Entschlusses mitverursacht und als Ergänzung seines eigenen gleichwertigen Tatanteils von vornherein gewollt haben würde. Dem könnte auch nicht entgegengehalten werden, daß P.s untauglicher Versuch kein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut gefährdet habe, weil das Gesetz die eigene Gesundheit des Täters gegen ihn selbst nicht schütze. Denn beim untauglichen Versuch kommt es nicht auf die Gefährdung eines bestimmten gegenwärtigen Rechtsguts an, weil schon die allgemeine Auflehnung gegen die rechtlich geschützte Ordnung gefährlich ist (vgl. Jagusch, LK, 8. Aufl., Anm. II 2 zu § 43 StGB; Maurach, aaO § 43 III B 3 c, 4 und C S. 442-444; BGHSt. 4, 199 = NJW 53, 1271 Leits.; BGHSt. 4, 254 = NJW 53, 1760; BGHSt. 10, 388, 390 = NJW 57, 1770).“

 

D. Fazit

Der vor über 60 Jahren entschiedene Verfolger-Fall ist sicher einer derjenigen Fälle, die so unwahrscheinlich sind, dass sich kein Lehrbuchautor diese Konstellation hätte ausdenken können. Die Entscheidung dürfte zugleich eines der umstrittensten Urteile der Geschichte der Strafsenate des BGH sein - alles in allem also ein wahrer Klassiker!