Kritiker-Fall

Kritiker-Fall

Klassiker der Rechtsprechung zur Vertragsabschlussfreiheit und zum Kontrahierungszwang

Der Kritiker-Fall ist Ausgangspunkt einer Rechtsprechung zur Vertragsabschlussfreiheit und zum sogenannten Kontrahierungszwang. In diesem Klassiker der Rechtsprechung ging es um die Frage, ob für ein städtisches Theater die rechtliche Verpflichtung besteht, jedermann zum (entgeltlichen) Besuch der Vorstellungen zuzulassen. Der Fall behandelt die allgemeine Handlungsfreiheit, die verfassungsrechtlich geschützte Vertragsfreiheit sowie die sittenwidrige vorsätzliche Schädigung gemäß § 826 BGB.

A. Sachverhalt

Der Kläger schrieb in großen Tageszeitungen und in einer von ihm herausgegebenen Wochenschrift über die Aufführungen des städtischen Theaters in B. Da seine Kritiken der Stadtverwaltung missfielen, beschloss sie, ihm den Zutritt zum Theater zu untersagen. Dies teilte sie ihm am 15. Juli 1928 um 15 Uhr fernmündlich mit. Trotzdem besuchte der Kläger die am Abend dieses Tages veranstaltete Aufführung von “Faust, Erster Teil” mit einer Eintrittskarte, die er sich nach Empfang jener Mitteilung für 6 RM hatte besorgen lassen. Vor Schluss der Vorstellung wurde er durch ein Mitglied der Theaterleitung, das einen Polizeioffizier zuzog, aus dem Theater gewiesen. Das wiederholte sich bei der Aufführung von “Faust, Zweiter Teil” am 18. Juli 1928, zu der sich der Kläger ebenfalls mittels einer durch einen anderen für 6 RM besorgten Karte Eintritt beschafft hatte. Mit der Klage begehrt der Kläger Verurteilung der verklagten Stadtgemeinde zur Erstattung des Preises der beiden Eintrittskarten, ferner die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtete sei, ihm auf gültige Eintrittskarten hin Einlass in die Vorstellungen zu gewähren, endlich die Feststellung, dass ihm die beklagte allen Schaden zu ersetzen habe, der ihm durch die gewaltsame Entfernung aus den Aufführungen am 15. und 18. Juli 1928 entstanden sei. Er meint, ein städtisches Theaterunternehmen, insbesondere wenn es unter Zuschuss öffentlicher Mittel betrieben werde, müsse jedermann zum Besuche zulassen. Die Beklagte habe durch ihr Vorgehen auch gegen die guten Sitten verstoßen, indem sie ungerechtfertigt in die Pressefreiheit und in die Ausübung seines Kritikerberufes eingegriffen habe; sie sei daher auf Grund des § 826 BGB schadensersatzpflichtig. Die Beklagte leugnet das Bestehen eines Anschlusszwanges. Sie bestreitet, unrechtmäßig gehandelt zu haben; denn sie habe guten Grund gehabt, dem Kläger den Eintritt zu verwehren. Seine Kritiken seien zuerst lobend gewesen, dann aber unsachlich, höhnisch und absprechend geworden, was darauf zurückzuführen sei, dass ihm die Stadtverwaltung eine geldliche Unterstützung seines Zeitungsunternehmens verweigert habe. Der Kläger erwidert, seine gerechten Kritiken seien keinen anderen als rein sachlichen Gründen entsprungen. 

Schwerpunkte des Falls:

B. Worum geht es?

Die – auch verfassungsrechtlich geschützte (Art. 2 I GG, Art. 152 WRV) – Vertragsfreiheit ist elementare Grundlage unserer Zivilrechtsordnung. Nur ausnahmsweise besteht die (gesetzliche) Pflicht, Verträge abzuschließen; ein solcher Kontrahierungszwang existiert insbesondere im Bereich von Versorgungs- und Zugangsverträgen (vgl. § 17 I EnWG, § 5 II PflVG, § 22 PBefG).

Darüber hinaus kann sich aus § 826 BGB ein mittelbarer Kontrahierungszwang ergeben, nämlich dann, wenn die Verweigerung des Abschlusses zu den für alle geltenden oder zu den angemessenen Bedingungen nach den Umständen des Einzelfalls eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung im Sinne des § 826 BGB darstellt – der Schädiger ist dann verpflichtet, den Geschädigten so zu stellen, als habe es die Verweigerung des Vertragsabschlusses nicht gegeben (§ 249 I BGB).Das Reichsgericht hatte die folgende Frage zu beantworten:

Besteht für ein städtisches Theater die rechtliche Verpflichtung, jedermann zum (entgeltlichen) Besuch der Vorstellungen zuzulassen?

C. Wie hat das Reichsgericht entschieden?

Ds Reichsgericht weist im Krtitiker-Fall (Urt. v. 7.11.1931 – V 106/31 (RGZ 133, 388 ff.)) die Klage ab. Zunächst führt das Reichsgericht aus, dass die Ankündigung einer Theatervorstellung kein Angebot auf Abschluss eines Vertrages darstelle (sondern allenfalls eine invitatio ad offerendum) und der Kläger daher daraus keine Rechte herleiten könne:

„Zwar kein Zwang zum Vertragsschluß, aber solch eine ähnlich wirkende Bindung des Theaterunternehmers wird im Schrifttum auf der Grundlage bejaht, daß die Ankündigung einer Theatervorstellung ein bindendes Vertragsangebot an das Publikum sei, welches jedermann durch das Verlangen nach Aushändigung einer Eintrittskarte annehmen könne (Opet a.a.O. 259 flg.; Saeger in der Ztschr. f. Rechtspflege in Braunschweig Bd. 59 S. 44). Aber der bloßen Ankündigung ist keine solche Bedeutung beizumessen. Sie ist nach dem erkennbaren Willen des Unternehmers und nach der dem Wesen der Sache entsprechenden allgemeinen Auffassung - ebenso wie sonstige an die Allgemeinheit ergehenden Ankündigungen und Zusendungen von Preislisten - lediglich eine unverbindliche Bereiterklärung, Theaterbesuchsverträge abzuschließen, aber nicht schon selbst Teil des demnächst zu schließenden Vertrags. Übrigens würde die andere Meinung den Kläger nicht weiterführen; denn nach der Ansicht ihrer Verfechter kann der Theaterunternehmer vor der Ankündigung deren Wirksamkeit für eine bestimmte Person durch besondere Mitteilung an diese ausschließen. Nach dem bisher Erörterten läßt sich also ein Zwang für die Beklagte, mit dem Kläger einen Theaterbesuchsvertrag abzuschließen, nicht begründen.“

 Sodann führt das Reichsgericht unter Hinweis auf Art. 152 WRV aus, dass die Rechtsordnung vom Grundsatz der Vertragsfreiheit beherrscht sei und ein Kontrahierungszwang daher besonderer gesetzlicher Grundlage bedürfe.Ein besonders geregelter Kontrahierungszwang für öffentliche Theater existiere nicht:

„Man hat einen Abschlußzwang für Theaterunternehmungen, die von öffentlichrechtlichen Körperschaften betrieben werden, daraus entnehmen wollen, das sie, aus öffentlichen Mitteln unterhalten und für das Gesamtpublikum bestimmt. “publizistische Anstalten” seien (Dernburg, Preuß. Privatrecht 1897 Bd. 2 S. 107; Opet Theaterrecht 1897 S. 254 flg.). Die öffentlichrechtliche Körperschaft untersteht aber auch für ein solches Unternehmen der Privatrechtsordnung, die für solchen Fall seine dem Eigentümer und Werkunternehmer zum Vertragsschluß gegen seinen Willen zwingenden Vorschriften kennt, wie sie z.B. für die Eisenbahnen (§§ 453, 473 HGB), die Reichspost (§ 3 Reichspostgesetz vom 28. Oktober 1871), die Telegraphenanstalten (§ 5 Reichstelegraphengesetz vom 6. April 1892) gegeben sind. Die eben erwähnten Vorschriften sind nicht Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes, daß etwa Anstalten, welche ihre Dienste dem gesamten Publikum anbieten und zu diesem Behufe konzessioniert sind, den Abschluß ihrer Geschäfte nicht willkürlich, sondern nur aus guten Gründen verweigern dürfen (so Dernburg a.a. O.9; sie sind vielmehr Ausnahmevorschriften vom Grundsatz der Vertragsfreiheit. … Eine verwaltungsrechtlich erteilte Konzession kann nur dann zur Annahme eines Abschlußzwangs führen, wenn sie eine entsprechende Auflage enthält, was aber für das Theaterunternehmen der Beklagten nicht der Fall ist. Die Verwendung öffentlicher Mittel für solche Zwecke kann zu einer öffentlichrechtlichen Verantwortlichkeit der städtischen Behörden für richtigen Gebrauch des Unternehmens führen, sie bewirkt aber keine Abänderung der hier anzuwendenden Privatrechtsbestimmungen.“

 Ein Kontrahierungszwang könne sich aber aus § 826 BGB ergeben, wenn man in der Verweigerung des Abschlusses eines Vertrages eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung sieht. Das sei denkbar, wenn eine rechtliche oder tatsächliche Monopolstellung missbraucht wird. Insoweit komme es aber immer auf den Einzelfall an:

„Einen nicht nur für Theater öffentlicher Rechtspersönlichkeiten, sondern auch für solche von Privatunternehmern geltenden Abschlußzwang hat man für diejenigen Theater annehmen wollen, die sich in rechtlicher oder tatsächlicher Monopolstellung befinden (vgl. Opet a.a.O. S. 256 flg.) Die Revision vertritt die Auffassung, ein solcher Zwang aus Monopolstellung sei im vorliegenden Falle zu bejahen: “Das Theater der Beklagten besitze als einziges derartiges Bildungsinstitut in B. ein tatsächliches Monopol. Das Bedürfnis, zur allgemeinen Bildung ein solches Bildungsinstitut zu besuchen, sei modernen Anschauungen entsprechend als rechtlich geschütztes Bedürfnis anzuerkennen.” Allerdings ist in der Rechtsprechung des Reichsgerichts anerkannt, daß der Mißbrauch einer rechtlichen oder tatsächlichen Monopolstellung, insbesondere die Weigerung eines in solcher Vorzugsstellung befindlichen Unternehmers, zu den allgemeinen und angemessenen Bedingungen Verträge abzuschließen, eine gegen die guten Sitten verstoßende Handlung darstellen und zur Schadensersatzpflicht führen kann ( vgl. RGZ Bd. 48 S. 114, Bd. 62 S. 264, Bd. 79 S. 229, Bd. 115 S. 258). Verpflichtungen aus dem Mißbrauch einer Monopolstellung können aber nur auf der rechtlichen Grundlage des § 826 BGB entstehen. Ob Raum für die Anwendung dieser Bestimmung ist, richtet sich ganz nach der Lage des Einzelfalls. Ein allgemeiner Satz des Inhalts, daß Unternehmer in Monopolstellung einem Abschlußzwang unterlägen, ist nicht aufzustellen. Das würde dem schon hervorgehobenen gesetzlichen Grundsatze der Vertragsfreiheit widersprechen.”

 Ein Kontrahierungszwang könnte sich aus § 826 BGB ergeben, wenn die Stadtverwaltung den Abschluss von Theaterbesuchsverträgen aus willkürlichen oder offensichtlich nichtssagenden Gründen verweigern würde. Im Falle eines Theaterkritikers könnte das der Fall sein, wenn der Unternehmer bezwecken würde, sachliche Kritiken zu hindern oder unsachliche Kritiken zu erzielen und so die freie Meinungsäußerung der Theaterkritik zu erschweren oder zu unterbinden. Das sei im Streitfall indes nicht der Fall, da die Verwaltung lediglich eine Schädigung ihres Theaters durch „unsachliche, unrichtige und schädigende“ Kritik habe vermeiden wollen:

„Eine Schranke für die Ausübung der grundsätzlich bestehenden Vertragsfreiheit der Beklagten ist aber durch die Vorschrift des § 826 BGB gesetzt, nach der die vorsätzliche, gegen die guten Sitten verstoßende Schädigung eines anderen schadensersatzpflichtig macht. Als hiergegen verstoßend und daher rechtswidrig könnte es z. B. angesehen werden, wenn eine Stadtverwaltung den Abschluß von Theaterbesuchsverträgen aus willkürlichen oder offensichtlich nichtssagenden Gründen verweigern wollte. § 826 bietet eine Handhabe, unparteiischer Berichterstattung und sachlicher Kritik den nötigen Schutz zu gewähren. Einem Kritiker gegenüber könnte die Verweigerung des Abschlusses eines Theaterbesuchsvertrags gerade dann verwerflich sein, wenn der Unternehmer damit bezwecken würde, sachliche Kritiken zu hindern oder unsachliche Kritiken zu erzielen und so die freie Meinungsäußerung der Theaterkritik zu erschweren oder zu unterbinden. Um die Ausschließung als rechtswidrig und als unter § 826 BGB fallend zu kennzeichnen, müßte indes der Kläger darlegen, daß die Beklagte willkürlich oder leichtfertig oder mit den eben als verwerflich bezeichneten Zielen gehandelt habe. Dafür ist aber nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils in diesem Falle kein Raum. Dort ist gesagt, nach den Darlegungen der Parteinen habe die Beklagte das Verbot nicht aus Willkür ausgesprochen, sondern weil sie sich durch die veränderte kritische Stellungnahme des Klägers benachteiligt fühlte. Sie habe auf den Kläger keinen Druck ausüben wollen, um unsachliche Kritiken zu erhalten, sondern lediglich eine Schädigung ihres Theaters durch seine Kritik vermeiden wollen, die sie für unsachlich, unrichtig und schädigend gehalten habe. So habe sie zum Schutze ihrer eigenen berechtigten Belange gehandelt und auch gewichtige Gründe für ihr Vorgehen gehabt.In diesen Ausführungen sind unangreifbare tatsächliche Feststellungen enthalten. Aus ihnen ergibt sich, daß der Vorderrichter die Frage des Verstoßes gegen § 826 BGB nicht, wie die Revision meint, nach rein subjektiven Gesichtspunkten geprüft hat, sondern daß er annimmt, die Beklagte habe gewichtige Gründe für ihr Vorgehen, also nachprüfbare Unterlagen gehabt, die eben die Annahme der Willkür und der Leichtfertigkeit ausschlössen. Das Berufungsgericht verneint auch ausdrücklich den Beweggrund unzulässiger Beeinflussung der Kritik. Deswegen kann die Verweigerung des Vertragsschlusses in diesem Falle nicht als unsittliche Schädigung des Klägers angesehen werden.“

D. Fazit

Der Kritiker-Fall ist Ausgangspunkt einer Rechtsprechung, wonach ein Kontrahierungszwang für Monopolbetriebe dann angenommen werden kann, wenn die Verweigerung des Abschlusses zu den für alle geltenden oder zu den angemessenen Bedingungen nach den Umständen des Einzelfalls eine sittenwidrige Schädigung im Sinne von § 826 BGB darstellt. Die Einzelheiten der Herleitung und die Voraussetzungen im Einzelfall sind indes auch heute noch streitig.