BVerfG zum "Kopftuchverbot" für Rechtsreferendarinnen

A. Sachverhalt

Die 1982 in Frankfurt am Main geborene B besitzt die deutsche und die marokkanische Staatsangehörigkeit. Sie ist seit dem 2. Januar 2017 Rechtsreferendarin im Land Hessen, seit Mai 2017 in der Ausbildungsstation Strafrecht. Als Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung trägt sie in der Öffentlichkeit ein Kopftuch.
 
Noch vor Aufnahme der Ausbildung erhielt B über das Oberlandesgericht ein Hinweisblatt, welches inhaltlich den Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28. Juni 2007 - 2220-V/A3-2007/6920-V - wiedergab. Der Erlass hat folgenden Wortlaut:

„Wenn aus den Bewerbungsunterlagen für die Einstellung in den juristischen Vorbereitungsdienst erkennbar wird, dass während des Vorbereitungsdienstes ein Kopftuch getragen werden soll, sind die Bewerberinnen vor der Einstellung in den Vorbereitungsdienst dahingehend zu belehren, dass sich auch Rechtsreferendarinnen im juristischen Vorbereitungsdienst gegenüber Bürgerinnen und Bürgern politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten haben. Das bedeutet, dass sie, wenn sie während ihrer Ausbildung ein Kopftuch tragen, keine Tätigkeiten ausüben dürfen, bei denen sie von Bürgerinnen und Bürgern als Repräsentantin der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden können.
 
Praktisch bedeutet dies insbesondere, dass Referendarinnen, die ein Kopftuch tragen,

  • bei Verhandlungen im Gerichtssaal nicht auf der Richterbank sitzen dürfen, sondern im Zuschauerraum der Sitzung beiwohnen können,

-keine Sitzungsleitungen und/oder Beweisaufnahmen durchführen können,

-keine Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft übernehmen können,

-während der Verwaltungsstation keine Anhörungsausschusssitzung leiten können.
 
Die Bewerberinnen sind darüber zu belehren, dass sich der Umstand, dass einzelne Ausbildungsleistungen nicht erbracht werden können, negativ auf die Bewertung der Gesamtleistung auswirken kann, da nicht erbrachte Regelleistungen grundsätzlich mit „ungenügend“ zu bewerten sein werden. Wie sich dies im Einzelfall auf die abschließende Bewertung der Leistung in der Ausbildungsstelle auswirkt, entscheidet die Einzelausbilderin oder der Einzelausbilder.“

Am 7. Dezember 2016 erklärte B die Annahme des ihr angebotenen Ausbildungsplatzes und merkte an, das Hinweisblatt zur Kenntnis genommen zu haben.
 
Mit Schreiben vom 9. Januar 2017 legte B eine Beschwerde gegen die Verwaltungspraxis in Gestalt des Hinweises ein. Mit Schreiben vom 24. Januar 2017 teilte der Präsident des Landgerichts Frankfurt am Main der Beschwerdeführerin unter Hinweis auf Erlasse des Hessischen Ministeriums für Justiz vom 28. Juni 2007 und vom 21. September 2015 mit, dass er der Beschwerde nicht abzuhelfen vermöge.
 
Hiergegen stellte B mit Schriftsatz vom 10. Februar 2017 beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.
 
Anlässlich des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens überprüfte das Justizprüfungsamt die Erlasslage und das Hinweisblatt. Mit Schreiben vom 6. März 2017 teilte das Justizprüfungsamt dem Präsidenten des Oberlandesgerichts mit, der Erlass vom 28. Juni 2007 werde insbesondere bezüglich der Bewertung nicht erbrachter Ausbildungsleistungen nicht mehr aufrechterhalten. Eine nicht erbrachte Regelleistung als Folge einer Weigerung, dabei auf das Tragen eines Kopftuches aus religiösen Gründen zu verzichten, solle sich nicht negativ auf die Gesamtnote in der Ausbildungsstation auswirken, sondern durch andere Leistungen kompensiert werden können.
 
Mit Beschluss vom 12. April 2017 hat das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main das Land Hessen verpflichtet sicherzustellen, dass B vorläufig ihre Ausbildung als Rechtsreferendarin vollumfänglich mit Kopftuch wahrnehmen kann, und sie insbesondere nicht den Beschränkungen unterliegt, die sich aus dem Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28. Juni 2007 ergeben (Az. 9 L 1298/17.F).
 
Auf die Beschwerde des Landes Hessen hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 23. Mai 2017 den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 12. April 2017 aufgehoben (Az. 1 B 1056/17). Zur Begründung führte der Hessische Verwaltungsgerichtshof aus, eine hinreichende gesetzliche Grundlage sei für die Anordnung eines solchen Kopftuchverbots für Rechtsreferendarinnen mit § 27 I 2 Gesetz über die juristische Ausbildung (Juristenausbildungsgesetz - JAG) in Verbindung mit § 45 I HBG gegeben.
 
Am 23. Mai 2017 nahm B an einem Lehrgang zur Vorbereitung auf die Sitzung für die Amtsanwaltschaft teil. Am Ende sei ihr mitgeteilt worden, dass ihr Sitzungstermin auf den 6. Juli 2017 angesetzt sei. Mit Schriftsatz vom 6. Juni 2017 hat B Klage beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist.
 
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich B unmittelbar gegen den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. Mai 2017 und mittelbar gegen § 45 HBG und den Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 28. Juni 2007 - 2220-V/A3-2007/6920-V -. Sie beantragt zudem den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG.
 
Ist der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet?  

B. Die Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 27.6.2017 – 2 BvR 1333/17)

Das BVerfG stellt zunächst den Maßstab für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG dar. Dabei nimmt das BVerfG eine Folgenabwägung vor, wobei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich außer Betracht bleiben, es sei denn, der Antrag in der Hauptsache ist von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, nimmt das BVerfG eine sogenannte Doppelhypothese vor. Es wägt die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen ab, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre:

„Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).
 
Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiesen sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Erweist sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).
 
Die Folgenabwägung gemäß § 32 BVerfGG stützt sich auf eine bloße Einschätzung der Entscheidungswirkungen (BVerfGE 94, 166 <217>). Hierbei legt das Bundesverfassungsgericht in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen zugrunde, wie sie in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommen worden sind (vgl. BVerfGE 34, 211 <216>; 36, 37 <40>; BVerfGK 16, 410 <415>).“

 

I. Unzulässigkeit oder offensichtliche Unbegründet der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde erscheint weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet:

„Zu klären ist insbesondere, ob und unter welchen Umständen das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal, im Rahmen der Sitzungsleitung oder Beweisaufnahme, der Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft oder bei der Leitung des Anhörungsausschusses die Neutralitätspflicht, die Unabhängigkeit der Justiz und die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Verfahrensbeteiligten berührt und inwieweit dies hinzunehmen ist, weil der positiven Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und der Berufsfreiheit der Rechtsreferendarinnen Rechnung getragen werden soll. Diese Fragen bedürfen der Klärung im Rahmen einer Hauptsacheentscheidung, die gegebenenfalls dem Senat vorbehalten ist (§§ 93b, 93c BVerfGG).“

 

II. Folgenabwägung im engeren Sinne (Doppelhypothese)

Im Rahmen einer Folgenabwägung im engeren Sinne sind die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (Doppelhypothese).  

1. Nachteilige Folgen der Ablehnung einer einstweiligen Anordnung bei Erfolg der Verfassungsbeschwerde

Im Rahmen der Doppelhypothese führt das BVerfG zunächst die Folgen aus, die sich ergäben, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte.
 
In erster Linie wäre B in ihrem Grundrecht auf Glaubensfreiheit (Art. 4 GG) verletzt:

„Eine dem Rechtsreferendar auferlegte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen er als Repräsentant des Staates wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden könnte, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Sie stellt den Betroffenen vor die Wahl, entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihm als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.
 
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht (vgl. BVerfGE 24, 236 <245 f.>; 32, 98 <106>; 44, 37 <49>; 83, 341 <354>; 108, 282 <297>; 125, 39 <79>; stRspr). Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben (vgl. BVerfGE 12, 1 <4>; 24, 236 <245>; 105, 279 <294>; 123, 148 <177>). Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens (vgl. BVerfGE 24, 236 <245 f.>; 93, 1 <17>). Dazu gehört auch das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben; dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze (vgl. BVerfGE 108, 282 <297>; 138, 296 <328 f. Rn. 85>). Die Beschwerdeführerin kann sich auch als Angestellte im öffentlichen Dienst auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen; ihre Grundrechtsberechtigung wird durch die Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. BVerfGE 138, 296 <328 Rn. 84> sowie für Beamte BVerfGE 108, 282 <297 f.>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 -, juris, Rn. 58).
 
Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 24, 236 <247 f.>; 108, 282 <298 f.>). Die Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich dafür auch im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Darauf, dass im Islam unterschiedliche Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot vertreten werden, kommt es insoweit nicht an, da die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung jedenfalls hinreichend plausibel ist (vgl. BVerfGE 108, 282 <298 f.>; 138, 296 <330 Rn. 87 ff.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 -, juris, Rn. 59).“

 
Daneben käme auch eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG und ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) in Betracht.
 
Das Gewicht der Grundrechtsverletzung wäre indes in zeitlicher und örtlicher Hinsicht begrenzt. Die ihr verwehrte Teilnahme an einem amtsanwaltschaftlichen Sitzungsdienst stelle im Rahmen der Ausbildung keine Regelleistungen im engeren Sinne dar. Zudem sehe der Erlass nunmehr nicht mehr vor, dass die nicht erbrachte Leistung sich negativ auf die Gesamtnote auswirke:

„Das gesetzliche Bekundungsverbot greift in die Grundrechte der Beschwerdeführerin allerdings in zeitlicher sowie örtlicher Hinsicht lediglich begrenzt ein, indem die Beschwerdeführerin ausschließlich von der Repräsentation der Justiz oder des Staates im Rahmen der Ausbildung ausgeschlossen wird, soweit sie das Kopftuch tragen möchte. So erstreckt sich das Verbot etwa auf den Zeitraum einer mündlichen Verhandlung und das Platznehmen hinter der Richterbank. Hingegen bleiben die übrigen, weit überwiegenden Ausbildungsinhalte im Rahmen der Einzelausbildung oder der Arbeitsgemeinschaften unberührt.
 
Nach dem eigenen Vorbringen der Beschwerdeführerin ist sie seit Mai 2017 in Ausbildung bei einer Strafrichterin. Sie wird nicht gezwungen, ihr Kopftuch abzunehmen, sie kann vielmehr den gerichtlichen Verhandlungen mit Kopftuch im Zuschauerbereich des Gerichtssaals folgen. Lediglich die Sitzungsleitung und Verfahrenshandlungen wie Beweisaufnahmen kann sie nicht durchführen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Rechtsreferendare keinen Anspruch auf Übernahme und Durchführung dieser Tätigkeiten haben. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 JAG soll die Rechtsreferendarin oder der Rechtsreferendar in möglichst weitem Umfang praktische Aufgaben selbstständig und, soweit die Art der Tätigkeit es zulässt, eigenverantwortlich erledigen. Dabei obliegt es nach § 16 Verordnung zur Ausführung des Juristenausbildungsgesetzes (Juristische Ausbildungsordnung - JAO) der Ausbilderin beziehungsweise dem Ausbilder zu entscheiden, ob eine Übertragung eigenverantwortlicher Tätigkeiten im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben möglich ist. Dies gilt unterschiedslos für alle Rechtsreferendare. Der Beschwerdeführerin wird somit - selbst wenn es bei einem Verbot der Teilnahme an den genannten Tätigkeiten bleibt - nicht eine den Vorgaben der §§ 28 ff. JAG entsprechende Ausbildung verwehrt.
 
Soweit die Beschwerdeführerin vorträgt, dass sie am 6. Juli 2017 eine Sitzungsvertretung für die Amtsanwaltschaft wahrnehmen solle, könnte sie diesen Termin allerdings mit Kopftuch nicht wahrnehmen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich - soweit vorgetragen - nur um einen Termin im Rahmen der Strafstation handelt. Nach dem Ausbildungsplan für die Ausbildung in Strafsachen nach § 31 Abs. 1 Satz 3, § 37 Abs. 4 JAG (RdErl. d. MdJ vom 21. Oktober 2014, JMBl S. 703, 722) sollen Rechtsreferendare selbstständig als Sitzungsvertreter der Amtsanwaltschaft auftreten. Ausweislich des Ausbildungsplans handelt es sich aber um keine Regelleistungen im engeren Sinne, da sie grundsätzlich einer konkreten Beurteilung durch die Ausbilderin beziehungsweise den Ausbilder nicht zugänglich seien. …
 
Schließlich ist zu beachten, dass nach der geänderten Erlasslage eine nicht erbrachte Regelleistung als Folge einer Weigerung, dabei auf das Tragen eines Kopftuches aus religiösen Gründen zu verzichten, sich nicht negativ auf die Gesamtnote in der Ausbildungsstation auswirken soll.“

 

2. Nachteilige Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung bei Misserfolg der Verfassungsbeschwerde

Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg, würden die vom Landesgesetzgeber mit § 27 JAG in Verbindung mit § 45 HBG verfolgten Belangen, einstweilen nicht verwirklicht.
 
In erster Linie betroffen sei die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, die dem Staat gebietet, auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten, und ihm verbietet, sich mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren:

„Das Grundgesetz begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) in Verbindung mit Art. 140 GG die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger (vgl. BVerfGE 19, 206 <216>; 24, 236 <246>; 33, 23 <28>; 93, 1 <17>). Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten (vgl. BVerfGE 19, 1 <8>; 19, 206 <216>; 24, 236 <246>; 93, 1 <17>; 108, 282 <299 f.>) und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren (vgl. BVerfGE 30, 415 <422>; 93, 1 <17>; 108, 282 <300>). Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründet dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist (vgl. BVerfGE 41, 29 <50>; 108, 282 <300 f.>). Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist indessen nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch im positiven Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern (vgl. BVerfGE 41, 29 <49>; 93, 1 <16>). Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden (vgl. BVerfGE 93, 1 <16 f.>; 108, 282 <300>). Auch verwehrt es der Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten (vgl. BVerfGE 33, 23 <29>; 108, 282 <300>; 137, 273 <305 Rn. 88>; 138, 296 <339 Rn. 110>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 -, juris, Rn. 67).“

 
Die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität gelte insbesondere auch für den vom Staat garantierten und gewährleisteten Bereich der Justiz. Daran seien auch Rechtsreferendare, die als Repräsentanten staatlicher Gewalt auftreten, gebunden:

„Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet (vgl. BVerfGE 4, 412 <416>; 21, 139 <145 f.>; 23, 321 <325>; 82, 286 <298>; 89, 28 <36>). Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG) ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von einem „nicht beteiligten Dritten“ ausgeübt wird (vgl. BVerfGE 3, 377 <381>; 4, 331 <346>; 21, 139 <145>; 27, 312 <322>; 48, 300 <316>; 87, 68 <85>; 103, 111 <140>). Diese Vorstellung von neutraler Amtsführung ist mit den Begriffen „Richter“ und „Gericht“ untrennbar verknüpft (vgl. BVerfGE 4, 331 <346>; 60, 175 <214>; 103, 111 <140>). Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten (BVerfGE 21, 139 <146>; 103, 111 <140>). Das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt deshalb nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergebenden Richter (vgl. BVerfGE 89, 28 <36>), sondern garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einem Richter steht, der aufgrund persönlicher oder sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt (BVerfGE 21, 139 <146>; 89, 28 <36>). Dieses Verlangen nach Unvoreingenommenheit und Neutralität des Richters ist zugleich ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit (vgl. BVerfGE 3, 377 <381>; 37, 57 <65>; 133, 168 <202 f. Rn. 62>).
 
Auch Rechtsreferendare, die als Repräsentanten staatlicher Gewalt auftreten und als solche wahrgenommen werden, haben das staatliche Neutralitätsgebot zu beachten.“

 
Das religiös motivierte Tragen einer Kopfbedeckung  könne als Anzeichen religiöser Identität verstanden werden und daher den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Auftrag der Rechtspflege und der öffentlichen Verwaltung beeinträchtigen:

„Das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge durch Rechtsreferendare kann den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Auftrag der Rechtspflege und der öffentlichen Verwaltung beeinträchtigen. Kopfbedeckungen und andere Kleidungsstücke sind zwar nicht aus sich heraus religiöse Symbole. Dies gilt auch für das Kopftuch. Eine vergleichbare Wirkung kann es erst im Zusammenwirken mit anderen Faktoren entfalten (vgl. BVerfGE 108, 282 <304>; 138, 296 <332 Rn. 94>). Auch wenn ein islamisches Kopftuch nur der Erfüllung eines religiösen Gebots dient und ihm von der Trägerin kein symbolischer Charakter beigemessen wird, sondern es lediglich als Kleidungsstück angesehen wird, das die Religion vorschreibt, ändert dies nichts daran, dass es in Abhängigkeit vom sozialen Kontext verbreitet als Hinweis auf die muslimische Religionszugehörigkeit der Trägerin gedeutet wird. In diesem Sinne ist es ein religiös konnotiertes Kleidungsstück. Wird es als äußeres Anzeichen religiöser Identität verstanden, so bewirkt es das Bekenntnis einer religiösen Überzeugung, ohne dass es hierfür einer besonderen Kundgabeabsicht oder eines zusätzlichen wirkungsverstärkenden Verhaltens bedarf. Dessen wird sich die Trägerin eines in typischer Weise gebundenen Kopftuchs regelmäßig auch bewusst sein. Diese Wirkung kann sich - je nach den Umständen des Einzelfalls - auch für andere Formen der Kopf- und Halsbedeckung ergeben (vgl. BVerfGE 138, 296 <332 Rn. 94>).“

 
Zudem rekurriert das BVerfG auf die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten. Diese seien nämlich einem unausweichlichen Zwang ausgesetzt, einen Rechtsstreit unter der Beteiligung von Repräsentanten des Staates zu führen, die ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen erkennbar nach außen tragen:

„Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben; das bezieht sich auch auf Riten und Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellen. Die Einzelnen haben in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, allerdings kein Recht darauf, von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist eine vom Staat geschaffene Lage, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen sich dieser manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist (vgl. BVerfGE 93, 1 <15 f.>; 138, 296 <336 Rn. 104>).
 
In Bezug auf den justiziellen Bereich kann von einer solchen unausweichlichen Situation gesprochen werden. Es erscheint nachvollziehbar, wenn sich Prozessbeteiligte in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG verletzt fühlen, wenn sie dem für sie unausweichlichen Zwang ausgesetzt werden, einen Rechtsstreit unter der Beteiligung von Repräsentanten des Staates zu führen, die ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen erkennbar nach außen tragen. Das als unverletzlich gewährleistete Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit steht - wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat - in enger Beziehung zur Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte und muss wegen seines Ranges daher extensiv ausgelegt werden (vgl. BVerfGE 24, 236 <246>; 35, 366 <375 f.>).“

 

3. Abwägung

Die mit der landesgesetzlichen Regelung verfolgten Belange sind mit denen der B zumindest gleich zu gewichten. Dabei spielt insbesondere auch eine Rolle, dass das Gewicht des Grundrechtseingriffs auf Seiten der B als Rechtsreferendarin zeitlich und örtlich begrenzt ist.  

III. Ergebnis

Die Belange der B überwiegen demnach nicht, weswegen der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht kommt.  

C. Fazit

Die Frage nach einem „Kopftuchverbot“ ist ein Klassiker der juristischen Ausbildung. Man darf gespannt sein, wie (und wann) das BVerfG über die Verfassungsbeschwerde entscheiden wird. Der vorliegende Beschluss, der von 3 Senatsmitgliedern erlassen wurde, zeigt jedenfalls schon einmal die denkbaren Argumentationsmuster auf und bietet genügend Hilfestellungen für die eigene Argumentation in Ausbildung und Prüfung, wobei - insbesondere im Hinblick auf das Gewicht des Grundrechtseingriffs - zu beachten ist, dass es hier um eine Referendarin ging. Ein ähnlicher Fall, der aber nicht nur Referendare betraf, war bereits Gegenstand einer Examensklausur in Bremen, worüber wir im Examensreport berichtet hatten.

(Vermeintlich) religiös motivierte Kopfbedeckungen können auch in anderen Fallgestaltungen ausbildungsrelevant sein. Erinnert sei an dieser Stelle etwa an den Fall des Mitglieds der „Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Deutschland e.V.“, der das Fotos seines Personalausweis gerne mit einer Piratenkopfbedeckung geziert hätte (siehe dazu unseren Urteilsticker).