Schwarzfahrer-Fall

A. Sachverhalt

Nach den Urteilsfeststellungen hatten der Angeklagte B. in der Zeit vom 29. September 2006 bis zum 20. Dezember 2006 in sieben Fällen, der Angeklagte G. in der Zeit vom 20. November 2006 bis zum 9. Januar 2007 in sechs Fällen und die Angeklagte Ba. In der Zeit vom 10. März 2007 bis zum 5. Juni 2007 in 14 Fällen öffentliche Verkehrsmittel (Straßenbahnen) der H. V. AG (H.) benutzt, ohne - wie bei Fahrausweiskontrollen festgestellt wurde - im Besitz eines gültigen Fahrscheins zu sein. Die Angeklagten hatten sich jeweils bemüht, durch ihr Verhalten keine Aufmerksamkeit zu erregen, um den Eindruck zu erwecken, als nutzten sie die Straßenbahn mit einem gültigen Fahrausweis.

B. Worum geht es?

Weil der „Schwarzfahrer“, der in der Absicht, den Fahrpreis nicht zu entrichten, in ein öffentliches Verkehrsmittel (bspw. Bus oder Eisenbahn) einsteigt, in der Regel nicht täuschen wird, fehlt es in der Regel auch an einer Strafbarkeit wegen Betruges nach § 263 I StGB. Es geht daher um die Reichweite des Tatbestandes des Erschleichens von Leistungen nach § 265a I StGB.

Das Amtsgericht hatte die Angeklagten aus Rechtsgründen freigesprochen, weil ein unauffälliges oder unbefangenes Benutzen eines öffentlichen Verkehrsmittels ohne Entgelt nicht ausreiche, um das Tatbestandsmerkmal des Erschleichens im Sinne des § 265a I StGB zu erfüllen. Gegen dieses Urteil wandte sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Sprungrevision (§ 335 StPO). Das zur Entscheidung über die Revision berufene Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigte, die Revision der Staatsanwaltschaft als unbegründet zu verwerfen. Es war – in Übereinstimmung mit der damals im Schrifttum herrschenden Meinung – der Ansicht, dass ein Erschleichen einer Beförderung durch ein Verkehrsmittel im Sinne des § 265a I StGB voraussetze, dass der Täter sich mit einem täuschungsähnlichen oder manipulativen Verhalten in den Genuss der Leistung bringe; allein die Entgegennahme einer Beförderungsleistung ohne gültigen Fahrausweis, die nicht mit der Umgehung von Kontroll- oder Zugangssperren oder sonstigen Sicherheitsvorkehrungen verbunden sei, reiche nicht aus. Dies folge zum einen aus dem Wortsinn des Begriffs “Erschleichen”, zum anderen aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Rahmen der §§ 263 bis 265 b StGB. Da der Gesetzgeber für alle Handlungsalternativen des § 265a I StGB ein „Erschleichen“ verlange und sich nicht mit der heimlichen und unberechtigten Inanspruchnahme einer Leistung begnüge, habe der Gesetzgeber ein zusätzliches Erfordernis an den Handlungsunwert aufgestellt.

 

An einer solchen Entscheidung sah sich das OLG aber gehindert, weil zuvor andere Oberlandesgerichte eine Strafbarkeit des „Schwarzfahrens“ bejaht hatten. Deswegen legte das OLG im Rahmen einer sogenannten Divergenzvorlage nach § 120 II Nr. 1 GVG dem BGH die folgende Frage zur Beantwortung vor:

Erschleicht der Täter eine Beförderungsleistung im Sinne des § 265a StGB, wenn er ein Verkehrsmittel benutzt, ohne im Besitz eines nach den Geschäftsbedingungen des Betreibers des Verkehrsmittels erforderlichen Fahrausweises zu sein, und - ohne sich den Genuss der Beförderungsleistung durch weitere Handlungen oder Unterlassungen zu ermöglichen oder zu erhalten - lediglich hofft, nicht aufzufallen?

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH bejaht im Schwarzfahrer-Fall (Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08 (BGHSt 53, 122 ff.)) eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Erschleichens von Leistungen nach § 265a I StGB. Eine Beförderungsleistung wird bereits dann im Sinne des § 265a I StGB erschlichen, wenn der Täter ein Verkehrsmittel unberechtigt benutzt und sich dabei allgemein mit dem Anschein umgibt, er erfülle die nach den Geschäftsbedingungen des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen.

 

Zunächst führt der BGH aus, dass der Wortlaut der Norm („erschleicht“) weder das Umgehen noch das Ausschalten von konkreten Kontrollen oder Sicherungsvorkehrungen voraussetze:

„Der Wortlaut der Norm setzt weder das Umgehen noch das Ausschalten vorhandener Sicherungsvorkehrungen oder regelmäßiger Kontrollen voraus. Nach seinem allgemeinen Wortsinn beinhaltet der Begriff der “Erschleichung” lediglich die Herbeiführung eines Erfolges auf unrechtmäßigem, unlauterem oder unmoralischem Wege (vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 8. Bd. [1999], Sp. 2136; Brockhaus, 10. Aufl. Bd. 2 S. 1217). Er enthält allenfalls ein “täuschungsähnliches” Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt wird; nicht erforderlich ist, dass der Täter etwa eine konkrete Schutzvorrichtung überwinden oder eine Kontrolle umgehen muss.“

 

Diese Auslegung verletzte nicht das Bestimmtheitsgebot (§ 1 StGB, Art. 103 II GG):

„Diese Auslegung des Tatbestandsmerkmals “Erschleichen” verstößt auch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG. Da das Tatbestandsmerkmal schon im Hinblick auf seine Funktion der Lückenausfüllung eine weitere Auslegung zulässt, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, unter dem Erschleichen einer Beförderung jedes der Ordnung widersprechende Verhalten zu verstehen, durch das sich der Täter in den Genuss der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt (BVerfG Beschluss vom 9. Februar 1998 - 2 BvR 1907/97 = 13 NJW 1998, 1135, 1136; vgl. auch BVerfG Beschluss vom 7. April 1999 - 2 BvR 480/99).“

 

Auch die Entstehungsgeschichte der Norm spreche für die Auslegung des Begriffs des Erschleichens in diesem Sinne:

„Die Vorschrift des § 265 a StGB geht, soweit sie das “Schwarzfahren” unter Strafe stellt, auf Art. 8 der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 zurück (RGBl. I 839, 842). Sie sollte vor allem die Lücke schließen, die sich bei der Erschleichung von Massenleistungen bezüglich der Anwendung des § 263 StGB ergaben (vgl. Lenckner/Perron aaO § 265 a Rdn. 1; Tiedemann aaO § 265 a Rdn. 1-3; Falkenbach, Die Leistungserschleichung, 1983, S. 70, 75-77).

Das Reichsgericht hatte bereits im Jahre 1908 in einem “Schwarzfahrerfall” entschieden, dass der Tatbestand des § 263 StGB keine Anwendung finden könne, da nicht festgestellt war, in welcher Weise sich der Täter die Möglichkeit zur Benutzung der Eisenbahn verschafft und ob er einen Bahnmitarbeiter getäuscht hatte (RGSt 42, 40, 41); es hatte angeregt, die bestehende Strafbarkeitslücke für sogenannte blinde Passagiere durch eine neue Strafvorschrift zu schließen.

Die im Jahre 1935 eingeführte Vorschrift des § 265 a StGB entsprach fast wörtlich dem § 347 (Erschleichen freien Zutritts) des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, in dessen Begründung es unter anderem heißt: “Erschleichen ist nicht gleichbedeutend mit Einschleichen. Auch wer offen durch die Sperre geht, sich dabei aber so benimmt, als habe er das Eintrittsgeld entrichtet, erschleicht den Eintritt. Auch ein bloß passives Verhalten kann den Tatbestand des Erschleichens erfüllen; so fällt auch der Fahrgast einer Straßenbahn unter die Strafdrohung, der sich entgegen einer bestehenden Verpflichtung nicht um die Erlangung eines Fahrscheins kümmert” (Materialien zur Strafrechtsreform, 4. Band, Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927 mit Begründung und 2 Anlagen [Reichstagsvorlage], Bonn 1954 [Nachdruck], S. 178/179; Die Strafrechtsnovellen vom 28. Juni 1935 und die amtlichen Begründungen, Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 10, S. 41).

Die Vorschrift sollte also gerade diejenigen Fälle erfassen, in denen es unklar bleibt, ob der Täter durch täuschungsähnliches oder manipulatives Verhalten Kontrollen umgeht. Der gesetzgeberische Wille ist nicht etwa deswegen unbeachtlich, weil sich die bei Schaffung des Gesetzes bestehenden Verhältnisse insoweit geändert haben, als heute, auch zu Gunsten einer kostengünstigeren Tarifgestaltung, auf Fahrscheinkontrollen weitgehend verzichtet wird (vgl. hierzu Rengier Strafrecht BT I 6. Aufl. § 16 Rdn. 6; Schmidt/Priebe Strafrecht BT II 4. Auflage Rdn. 512). Der Gesetzgeber hat die Bestimmung so weit gefasst, dass sie auch auf neue Fallgestaltungen angewendet werden kann (vgl. Senatsurteil vom 8. August 1974 - 4 StR 264/74).“

Auch der aktuelle Wille des Gesetzgebers spreche dafür. Dieser Wille werde daraus deutlich, dass § 265a I StGB trotz verschiedener Reformvorhaben unverändert gelassen wurde:

„Zwei Gesetzesentwürfe scheiterten. Der Gesetzentwurf des Bundesrates (BTDrucks. 12/6484; BTDrucks. 13/374), der für eine Beförderungserschleichung eine Beschränkung des § 265 a StGB auf wiederholtes Handeln oder solches unter Umgehung von Kontrollmechanismen und die Einführung eines Ordnungswidrigkeitstatbestandes für erstmaliges Schwarzfahren vorsah, ist nach einer ersten Beratung im Bundestag nicht weiter behandelt worden. Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der unter anderem die Streichung der Alternative “Beförderung durch ein Verkehrsmittel” in § 265 a StGB und die Ersetzung durch einen Bußgeldtatbestand vorsah (BTDrucks. 13/2005), wurde während der Beratungen zum 6. StrRÄndG abgelehnt (BTDrucks. 13/9064 S. 2, 7). Auch die Vorschläge der niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts, die eine ersatzlose Streichung des § 265 a StGB gefordert hatte, und der hessischen Kommission “Kriminalpolitik”, die eine Ergänzung der dritten Alternative des § 265 a Abs. 1 StGB um das Merkmal der Täuschung einer Kontrollperson vorgeschlagen hatte, gaben dem Gesetzgeber keine Veranlassung zu einer Änderung bezüglich der Beförderungserschleichung.“

 

Schließlich führe auch der Vergleich mit den anderen Tatbestandsalternativen des § 265a I StGB zu keiner anderen Auslegung des Tatbestandsmerkmals “Erschleichen“:

„Zwar erfordert die unberechtigte Inanspruchnahme von Automatenleistungen oder von Leistungen eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationssystems in der Regel eine aktive Manipulation oder Umgehung von Sicherungsmaßnahmen. Dies folgt aber daraus, dass diese Leistungen nur auf eine spezielle Anforderung hin erbracht werden.

Im Unterschied dazu wird die Beförderungsleistung dadurch für eine bestimmte Person erbracht, dass diese in das ohnehin in Betrieb befindliche Verkehrsmittel einsteigt und sich befördern lässt; eine vergleichbare aktive Umgehung von Kontrolleinrichtungen beim Zugang zu einem Verkehrsmittel ist daher schon der Sache nach nicht erforderlich (vgl. auch OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2001, 269, 270). Notwendig ist deshalb auch nicht, dass der Anschein ordnungsgemäßer Erfüllung der Geschäftsbedingungen gerade gegenüber dem Beförderungsbetreiber oder seinen Bediensteten erregt wird; es genügt vielmehr, dass sich der Täter lediglich allgemein mit einem entsprechenden Anschein umgibt.“

 

Soweit in der Literatur Gesichtspunkte der Entkriminalisierung des “Schwarzfahrens” angeführt, sei dies für die Auslegung des § 265a StGB unbeachtlich. Es sei nicht Aufgabe der Rechtsprechung, die an Recht und Gesetz gebunden ist (Art. 20 III, 97 I GG), dem Gesetzgeber vorbehaltene rechtspolitische Zielsetzungen zu verwirklichen.

D. Fazit

Auch wenn nach wie vor starke Stimmen in der Literatur gegen eine Strafbarkeit des bloßen Schwarzfahrens nach § 265a StGB plädieren, hat der BGH mit dieser Entscheidung die Frage nach § 265a StGB für die strafgerichtliche Praxis geklärt. Die in der Praxis heutzutage auftretenden Probleme stellen sich insbesondere in Fällen, in denen sich der Schwarzfahrer weitgehend offen (bspw. durch eine entsprechende Aufschrift auf der Bekleidung, einen Aufnäher, ein Schild etc.) zu seiner Schwarzfahrt bekennt und eben nicht den „Anschein der Ordnungsgemäßheit“ zu erwecken versucht (siehe dazu bspw. OLG Frankfurt a.M. Urt. v. 23.12.2016 – 1 Ss 253/16 und unsere Besprechung im Urteilsticker).