Pillen-Fall

A. Sachverhalt

Die Kläger waren Prozessbevollmächtigte des Beklagten in einem von diesem gegen Frau S. vor dem Amts- und Landgericht K. geführten Rechtsstreit (Vorprozess). Mit der Klage verfolgen sie ihren Gebührenanspruch.

Der Beklagte macht geltend, zur Zahlung nicht verpflichtet zu sein, weil die Kläger ihm wegen Verletzung ihrer anwaltlichen Pflichten schadensersatzpflichtig seien.

Der unverheiratete Beklagte lebte seit Ende 1977 mit der damals 18 Jahre alten, ledigen Frau S. zusammen. Er bezeichnet das damalige Verhältnis als eheähnliche Lebensgemeinschaft. Die Partner waren sich zumindest bis Ende 1980 darüber einig, dass aus ihren Beziehungen kein Kind hervorgehen und Frau S. empfängnisverhütende Medikamente einnehmen solle. Im Dezember 1980 setzte Frau S. diese ab. Dies teilte sie dem Beklagten nicht mit. Als er im März 1981 von ihrer Schwangerschaft erfuhr, zerbrach das Verhältnis. Am 3. November 1981 wurde das Kind Sv. S. geboren. Es ist rechtskräftig festgestellt worden, dass der Beklagte dessen nicht ehelicher Vater ist. Er wurde zur Zahlung des Regelunterhalts verurteilt. In dem Vaterschaftsprozess hatten die Kläger den Beklagten vertreten. Frau S. hatte als Zeugin ausgesagt, sie habe unbedingt ein Kind von dem Beklagten haben wollen und daher »die Pille« nicht mehr genommen.

Der Beklagte war der Auffassung, er könne von Frau S. Schadensersatz verlangen, und beauftragte die Kläger mit der Wahrnehmung seiner Interessen. Er informierte sie dahin, dass seine mit Frau S. getroffene Vereinbarung, keine Kinder haben zu wollen, auch zur Zeit der Empfängnis von Sv. gegolten habe. Frau S. habe »die Pille« vorsätzlich abgesetzt, um von ihm ein Kind zu bekommen und ihn zur Heirat zu bewegen. Sie habe einer Zeugin gegenüber eingestanden, ohne sein Wissen und gegen seinen Willen »die Pille« abgesetzt und ihn dabei »ganz schön reingelegt zu haben«.

Die Kläger sahen unter dem Gesichtspunkt einer Vertragsverletzung Erfolgsaussichten für ein Klagebegehren auf Erstattung des dem Kind zu zahlenden Regelunterhalts. Sie gingen dabei davon aus, Sv. S. sei im Sinne der Entscheidungen des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 18. März 1980 (BGHZ 76,249,259) ein aus Gründen der Familienplanung unerwünschtes Kind. Sie rieten dem Beklagten deshalb zu einer Klage gegen seine frühere Gefährtin.

In der im Dezember 1982 anhängig gemachten Klage stellten die Kläger unter Beweisantritt den ihnen von dem Beklagten geschilderten Sachverhalt dar. Sie führten aus, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von einem Schaden auszugehen und der Vertrag über die empfängnisverhütenden Maßnahmen wirksam sei. Zusammenfassend legten die Kläger dar:

»Wenn dann die Beklagte, wie eingeräumt, ohne Wissen des Klägers und gegen die getroffene Vereinbarung sich entschließt, die Pille abzusetzen, um ein Kind zu bekommen, dessen Vater der Kläger ist, so stellt dies ein schadensersatzverpflichtendes vertragswidriges Verhalten dar«.

Das Amtsgericht hielt die Klage nicht für schlüssig und wies sie ab. Es bezweifelte einen rechtlichen Bindungswillen von Frau S., die Vereinbarkeit eines eventuellen Rechtsgeschäfts mit § 138 BGB und hielt einen Vertrag jedenfalls gemäß § 306 BGB; [a.F. Anm.: Die Norm existiert seit dem 1.1.2002 nicht mehr; stattdessen gilt § 311a I BGB] für nichtig, weil die Einnahme eines empfängnisverhütenden Medikaments keinen sicheren Schutz vor einer Empfängnis bieten könne. Ansprüche aus §§ 823 ff. BGB verneinte das Gericht.

In ihrem Schreiben, mit dem die Kläger den Beklagten über den Verlust des Rechtsstreits in der ersten Instanz informierten, erklärten sie dies damit, dass das Gericht »sich offensichtlich nicht an die auch heikle Frage in der Bewertung des Vertrages herangewagt« habe. Sie fuhren fort, es sei »sinnvoll und unbedingt erforderlich, gegen dieses Urteil Berufung einzulegen«. Der Beklagte erteilte dazu Auftrag. Die Kläger begründeten die Berufung unter Wiederholung ihrer bisher vorgetragenen Rechtsauffassung. Nachdem das Berufungsgericht den Streitwert heraufgesetzt hatte, kamen dem Beklagten Bedenken, ob es im Hinblick auf die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse der von Sozialhilfe lebenden Frau S. sinnvoll sei, das Berufungsverfahren weiter durchzuführen. Er bat die Kläger dazu um Rat und fragte, ob es nicht eventuell so sei, dass ihm »laut Rechtsprechung« ein Schadensersatz zustehe, er diesen jedoch »mangels Masse« nie erhalte. Die Kläger antworteten, dass selbst bei einem obsiegenden Urteil die Möglichkeiten einer Vollstreckung sehr gering seien. Der Beklagte erwiderte: »Nur aus Kostengründen würde ich die Berufung zurückziehen. Andererseits würde ich gerne zu meinem Recht kommen, um dadurch gewissermaßen ein Exempel zu statuieren«. Die Kläger nahmen die Berufung im Auftrag und Namen des Beklagten zurück. Sie berechneten ihre Gebühren auf der Grundlage eines Streitwerts von 15 000 DM. Der Beklagte wandte ein, die Kläger seien ihm durch die Führung des aussichtslosen Vorprozesses schadensersatzpflichtig geworden; dies schließe die Geltendmachung ihrer Gebührenforderung aus. In dem vorliegenden Rechtsstreit machen die Kläger ihren Gebührenanspruch geltend. Mit seiner Widerklage begehrt der Beklagte die Zahlung von ihm gezahlter Verfahrenskosten.

 

B. Worum geht es?

Die Kläger verfolgen ihren Honoraranspruch aus dem Mandatsvertrag (§§ 675, 611 BGB). Der beklagte Mandant verteidigt sich und meint, die klagenden Rechtsanwälte hätten ihre Pflichten aus dem Mandatsvertrag verletzt und seien ihm gegenüber schadensersatzpflichtig. Der Schaden des Beklagten bestünde in der Belastung mit der Gebührenforderung seiner Rechtsanwälte, sodass er die Freistellung davon verlangen könnte. Dann könnte sich der Beklagte mit Erfolg unter Berufung auf die Fallgruppe „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“ (§ 242 BGB) gegen die Honorarklage verteidigen.

Dabei stellt sich zunächst die Frage, welche Pflichten die Kläger aus dem Mandatsvertrag trafen: Wird einem Rechtsanwalt der Auftrag übertragen, angebliche Rechte seines Mandanten gegen einen Dritten zu verfolgen, so obliegt es ihm zu prüfen, ob dessen Begehren bei dem vorgetragenen Sachverhalt Erfolg haben kann. Ist eine Klage praktisch aussichtslos, muss der Rechtsanwalt von der Klageerhebung abraten. Wünscht der Mandant dennoch die Klage, so muss der Anwalt das Prozessrisiko klar herausstellen. Bleibt der Mandant nach einer solchen eindringlichen Belehrung bei seiner Entscheidung, die Klage durchzuführen, so kann der Anwalt dem ohne Verstoß gegen seine Mandatspflicht entsprechen. Auch dann, wenn das Begehren des Mandanten aufgrund einer gut vertretbaren Rechtsauffassung zwar Erfolg haben kann, die Rechtslage aber dennoch zweifelhaft ist, weil sich etwa eine gefestigte Rechtsprechung noch nicht gebildet hat, muss der Anwalt gegenüber seinem Mandanten Zweifel und Bedenken, zu denen die Rechtslage Anlass gibt, darlegen und erörtern und die weiteren Schritte von der nach dieser Belehrung zu treffenden Entscheidung des Mandanten abhängig machen.

Die Kläger haben unstreitig dem Beklagten zu dem Rechtsstreit gegen dessen ehemalige Partnerin (Frau S.) und zur Einlegung der Berufung geraten, weil sie sein Begehren für aussichtsreich hielten. Das wäre pflichtwidrig gewesen, wenn die Rechtslage zu Zweifeln und Bedenken an einem Erfolg der Klage und demnach zu einer entsprechenden Beratung und Aufklärung Anlass gegeben hätte. Im Mittelpunkt steht also die Frage, ob dem Beklagten Schadensersatzansprüche gegen seine ehemalige Lebensgefährtin (Frau S.) zugestanden haben.

 

Der BGH hatte also die folgende Frage zu beantworten:

Können sich aus einer Vereinbarung unter Lebenspartnern, wonach aus ihrer Lebensgemeinschaft ein Kind nicht hervorgehen und deswegen ein Partner empfängnisverhütende Medikamente einnehmen soll, Schadensersatzansprüche ergeben, wenn ein Partner sich abredewidrig und heimlich nicht mehr an die Abrede hält und es zu einer Schwangerschaft kommt?

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH weist im Pillen-Fall (Urt. v 17.4.1986 – IX ZR 200/85 (BGHZ 97, 372)) die Honorarklage ab; die klagenden Rechtsanwälte hätten ihre Pflichten aus dem Mandatsvertrag verletzt, weil die Klage, zu denen sie dem Beklagten gegen Frau S. geraten haben, keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.

Zunächst verneint der BGH vertragliche Schadensersatzansprüche. Zunächst sei ein Rechtsbindungswille der Lebenspartner (Beklagter und Frau S.) zweifelhaft:

„Ein Rechtsgeschäft kommt durch Abgabe entsprechender Willenserklärungen zustande. Eine Willenserklärung liegt vor, wenn der Erklärende das Bewußtsein hat, eine verbindliche rechtsgeschäftliche Erklärung abzugeben, oder wenn die Erklärung nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte als eine mit rechtlichem Bindungswillen ab gegebene Äußerung aufgefaßt werden durfte (BGHZ 91, 324, 327, 329, 330).

Die Zusage der Frau S., zur Verhütung einer Schwangerschaft Medikamente nehmen zu wollen, mußte nach der Verkehrssitte nicht ohne weiteres als eine Erklärung verstanden werden, mit der sie sich rechtlich binden wollte.

Bestehen für die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft keine rechtlichen oder wirtschaftlichen Hindernisse zur Eingehung einer Ehe - von diesem Fall ist auch hier auszugehen -, so verzichten sie im allgemeinen bewußt auf die mit der Institution der Ehe zur Verfügung stehende rechtliche Ordnung ihrer Beziehungen. Sie wollen ihre freie Partnerschaft nicht Rechtsvorschriften unterordnen (zur üblichen Einstellung betroffener Partner vgl. von Münch, Zusammenleben ohne Trauschein, 1982, S. 146,147; BGB-AK/Münder Anh. § 1302 Rdnr. 9). Im Allgemeinen gründen Partner solcher Gemeinschaften ihre Beziehungen daher auf ihre individuellen Vorstellungen von Moral und Anstand sowie auf Gefühl und Vertrauen. Sie wollen für ihre persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen gerade keine rechtliche Regelung (BGHZ 77,55,58; BGH Urteile v. 23. Februar 1981 - II ZR 124/80, FamRZ 1981,530; v. 16. September 1985 - II ZR 283/84, JZ 1986,239; MünchKomm/Ulmer 2. Aufl. vor § 705 Rdnr. 53; Palandt/Diederichsen, BGB 45. Aufl. Einführung § 1353 Bem. 8a; Schwab, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1978, S. 76; De Witt/ Huffmann, Nichteheliche Lebensgemeinschaft 2. Aufl. Rdnr. 70,71; a. A. BGB-RGRK/Roth-Stielow 12. Aufl. vor § 1353 Rdnr. 31). Rechtliche Bindungen zur Ordnung vermögensrechtlicher Beziehungen unter den Partnern sind daher die Ausnahme (BGH Urt. v. 3. Oktober 1983 - II ZR 133/82, FamRZ 1983,1213,1214). Noch ferner liegt es nach allgemeiner Vorstellung, daß Partner ihre persönlichen, intimen Beziehungen zum Gegenstand vertraglicher Bindung machen wollen.

Die Kläger hatten nicht ermittelt, ob der Beklagte mit Frau S. auch seine übrigen persönlichen und vor allem die beiderseitigen wirtschaftlichen Verhältnisse vertraglich geregelt hatte. Fehlte eine solche Regelung des Partnerschaftsverhältnisses, so mußte sich aus der Sicht eines objektiven Beurteilers (vgl. dazu BGHZ 21, 102, 107) eine Abrede ausgerechnet über engste persönliche Beziehungen nicht ohne weiteres als gesondert vereinbarte, rechtsverbindlich gewollte Absprache darstellen.

In dem Vorprozeß hat das Amtsgericht daher mit Recht bezweifelt, ob bei dem von den Klägern vorgetragenen Sachverhalt ein rechtlicher Bindungswille der Frau S. vorgelegen habe.“

 

Jedenfalls aber sei eine entsprechende Vereinbarung unwirksam, weil sie den engsten persönlichen Freiheitsbereich betreffe, der einer vertraglichen Regelung entzogen sei:

„Selbst wenn aber angenommen werden könnte, Frau S. habe an der Vereinbarung in dem Bewußtsein mitgewirkt, eine verbindliche rechtsgeschäftliche Erklärung abzugeben, so wäre dieses Rechtsgeschäft nicht wirksam, weil der von ihm erfaßte engste persönliche Freiheitsbereich einer vertraglichen Regelung entzogen ist.

Zur personalen Würde und zum Persönlichkeitsrecht von Partnern, die miteinander Geschlechtsverkehr haben, gehört es, sich immer wieder neu und frei für ein Kind entscheiden zu können. Sie müssen daher in ihrer Entscheidung, ob sie zur Vermeidung einer Schwangerschaft empfängnisverhütende Mittel gebrauchen, frei bleiben. Diese Entscheidungsfreiheit betrifft den engsten Kern ihrer Persönlichkeit und ihrer Entfaltung in Selbstbestimmung (vgl. auch LAG Hamm DB 1969,2353,2354). Daraus folgt, daß ein Partner sich nicht wirksam im Voraus zur regelmäßigen Anwendung eines Empfängnisverhütungsmittel rechtsverbindlich verpflichten kann.

Wenn der Partner zur Mitwirkung bei der Empfängnisverhütung nicht mehr bereit ist, kann daraus daher auch dann kein vertraglicher Schadensersatzanspruch hergeleitet werden, wenn er dies dem anderen nicht mitteilt, weil auch dadurch seine Intimsphäre unzumutbar berührt würde.“

Auch deliktische Ansprüche (§§ 823 ff. BGB) schieden aus, weil der freiwillige und selbstverantwortliche Geschlechtsverkehr, dem das „Risiko“ einer Schwangerschaft immanent sei, dem Anwendungsbereich der §§ 823 ff. BGB entzogen sei. Das sei auch im Interesse des Kindes geboten:

„Die §§ 823 ff. BGB knüpfen Haftungsfolgen an ein Verhalten, das sittlichen Grundvorstellungen und Ordnungsprinzipien des Gemeinschaftslebens widerspricht (BGB-RGRK/ Steffen, 12. Aufl. § 826 Rdnr. 15). Der Intimbereich zweier volljähriger Partner, die beim freiwilligen Geschlechtsverkehr nicht nur ihr sexuelles Bedürfnis befriedigen, sondern das Entstehen von Leben verantworten, unterliegt im Falle der Geburt eines Kindes grundsätzlich auch dann nicht dem Deliktsrecht, wenn der eine Partner dabei den anderen über die Anwendung empfängnisverhütender Maßnahmen getäuscht hat.

Dieses ist im vorliegenden Fall darüber hinaus auch durch die Interessen des Kindes geboten. Der Sohn des Beklagten lebt bei seiner Mutter, Frau S., die ihn betreut und erzieht und ihm dadurch gemäß § 1606 Abs. 3 BGB Unterhalt leistet. Er nimmt dabei naturgemäß in allen seinen Lebensbedingungen an den Lebensverhältnissen der Mutter und ihrem Lebensstandard teil. Wegen des Schadensersatzverlangens seines eigenen Vaters müßte er daher bis zum Ende seiner Unterhaltsbedürftigkeit erhebliche persönliche, psychische und wirtschaftliche Beeinträchtigungen erleiden. Das Kind müßte die finanzielle und seelische Belastung der Mutter miterleben und mitempfinden. Besonders schwerwiegend wären diese Auswirkungen im Falle einer zwangsweisen Beitreibung des Anspruchs gegen die Mutter. Möglicherweise würde diese durch ihre im Ergebnis doppelte Unterhaltslast auch zu einem beruflichen Einsatz veranlaßt, der die Belange des Kindes nicht mehr wahrt. Einem Kind, dessen Mutter derartigen seelischen und finanziellen Belastungen ausgesetzt ist, werden die Ursachen dafür nicht verborgen bleiben. Die damit notwendigerweise verbundene Erkenntnis des Kindes, daß es durch seine eigene Existenz eine Haftung der Mutter gegenüber dem Vater ausgelöst hat, betrifft das Kind in der ihm zukommenden Menschenwürde.“

D. Fazit

Ein Fall, der der Abgrenzung von Gefälligkeit und Rechtsgeschäft (siehe dazu auch den LKW-Fahrer-Fall) eine weitere Facette hinzufügt und sich darum bemüht, bestimmte höchstpersönliche Entscheidungen einer verbindlichen rechtlichen Regelung zu entziehen.

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