Examensreport: ÖR I 1. Examen aus dem Dezember 2016 in Hamburg

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

 

Der Transportunternehmer T ist Halter eines Pkw. Mit diesem Pkw wurde am 12 Juni 2016 auf der A7 die durch Verkehrszeichen ausgewiesene Höchstgeschwindigkeit um 28 km/h überschritten. In der Folge wurden keine weiteren Ermittlungen durchgeführt.

Am 13 Juni 2016 kam es zu einem weiteren Verkehrsverstoß mit dem Pkw des T auf der A7. Diesmal wurde die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 62 km/h überschritten.

Wegen dieses Verkehrsverstoßes wurde dem T am 17. Juni 2016 ein Anhörungsschreiben übermittelt, auf das dieser allerdings nicht reagierte. Aus diesem Grund führte die zuständige Behörde B daraufhin eine Fahrerermittlung durch, bei der nur festgestellt werden konnte, dass der T auf dem Beifahrersitz saß. Der Fahrer selbst konnte nicht festgestellt werden.

Mit Schreiben vom 15.08.2016 gab die B dem T Gelegenheit zu dem Vorgang Stellung zu nehmen und stellte für den Fall der Unermittelbarkeit des Fahrzeugführers in Aussicht, dass die Führung eines Fahrtenbuchs auferlegt werde.

Da der T auch hierauf nicht reagierte, erteilte die B dem T mit Bescheid vom 14.09.2016 Fahrtenbuchauflage für 18 Monate. Der T sei nicht gefahren, auch die Söhne des T seien als Fahrzeugführer auszuschließen, so dass keine weiteren Ermittlungsansätze gegeben seien. Außerdem ordnete die B die sofortige Vollziehung der Fahrtenbuchauflage an. Zur Begründung führte die B aus, dass ein besonderes Interesse daran bestehe, sofort Anreize zu schaffen, Verkehrsverstöße und die damit einhergehenden Gefahren für Leib und Leben zu unterbinden.

Hiergegen legte der T fristgerecht Widerspruch ein und stellte beim zuständigen Verwaltungsgericht einen Antrag. Zur Begründung dieser Rechtsbehelfe verweist der T auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 46 OWiG, § 52 I Nr. 2 StPO., weil ein naher Verwandter den Verkehrsverstoß begangen habe. Tatsächlich hat auch der Bruder des T das Fahrzeug geführt, als der Verkehrsverstoß begangen wurde.

Hat der Antrag des T bei dem Verwaltungsgericht Erfolg?

 

Unverbindliche Lösungsskizze

 

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO
Hier: § 31 StVZO

II. Statthaftigkeit
Hier: Antrag nach § 80 V 1 VwGO; Arg.: Fahrtenbuch = VA, § 35 VwVfG (nicht: „Auflage“ i.S.v. § 36 I Nr. 4 VwVfG) und daher Anfechtungsklage in der Hauptsache statthaft, § 42 I 1. Fall VwGO.

III. Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog
Hier: Art. 2 I GG.

IV. Antragsgegner, § 78 I VwGO (+)

V. Rechtsschutzbedürfnis

  1. Widerspruch (+)

  2. Nicht offensichtlich unzulässig (+)

  3. Keine aufschiebende Wirkung, § 80 II VwGO
    Hier: Anordnung der sofortigen Vollziehung, § 80 II 1 Nr. 4 VwGO

  4. Vorheriger Antrag bei der Behörde, § 80 IV VwGO

  • Problem: Erforderlichkeit
  • aA: (+); Arg.: einfachere Möglichkeit des Rechtsschutzes
  • hM: nur bei § 80 II 1 Nr. 1 VwGO; Arg.: Umkehrschluss aus § 80 VI VwGO; effektiver Rechtsschutz

B. Begründetheit des Antrag nach § 80 V 1 2. Fall VwGO

I. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung (AsV)

  1. Zuständigkeit, § 80 II 1 Nr. 4 VwGO (+)

  2. Verfahren

  • Problem: Erforderlichkeit einer Anhörung gem. § 28 VwVfG
  • aA: (+); Arg.: AsV = VA
  • hM: (-); Arg. AsV kein VA; Arg.: AsV der Bestandskraft nicht zugänglich
  1. Form
    -> Gesonderte, schriftliche tragfähige Begründung (+)

II. Materielle Rechtmäßigkeit der AsV

  1. Rechtmäßigkeit des VA (= Fahrtenbuchauflage)

a) Ermächtigungsgrundlage: § 31a StVZO

b) Formelle Rechtmäßigkeit

aa) Zuständigkeit (+)

bb) Anhörung, § 28 I VwVfG (+)

cc) Form (+)

c) Materielle Rechtmäßigkeit

aa) Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage

(1) Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften
Hier: Verstoß gegen Verkehrszeichenregelung, § 41 I StVO i.V.m. Anlage 2, Zeichen 274 Nr. 1.

(2) Feststellung des Fahrers nicht möglich
-> Zumutbare und angemessene Anstrengungen müssen unternommen werden.
Hier: T und Söhne als Fahrer ausgeschlossen ausreichend.
-> Teleologische Reduktion wegen des Zeugnisverweigerungsrechts, § 46 OWiG, § 52 I Nr. 3 StPO (-); Arg.: Fahrtenbuch dient der Gefahrenabwehr, nicht der Strafverfolgung bzw. Sanktionierung.
-> Verfassungskonforme Auslegung im Hinblick auf Art. 6 GG (-); Arg.: Führen eines Fahrtenbuch führt nicht zu einer familiären Konfliktsituation.

bb) Rechtsfolge: Ermessen
-> Verhältnismäßigkeit (+); Arg.: erheblicher Verstoß.

  1. Weitere Interessenabwägung
    Hier: erhebliche Gefahren für Leib und Leben.

III. Ergebnis: (-)

C. Ergebnis
Der Antrag hat keinen Erfolg.

 

Entscheidung des OVG zum Thema “Anordnung einer Fahrtenbuchauflage trotz Zeugnisverweigerungsrechts?”