OVG Hamburg: Anordnung einer Fahrtenbuchauflage trotz Zeugnisverweigerungsrechts?

A. Sachverhalt (leicht vereinfacht)

K, der in Hamburg ein Transportunternehmen betreibt, war Halter des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen HH-AB 123. Am 12. Juni 2011 um 11:33 Uhr wurde mit diesem Fahrzeug auf der Bundesautobahn A 7 die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 28 km/h überschritten. Zu einer Ermittlung des Fahrers und zu weiteren Maßnahmen seitens der zuständigen Behörde B kam es nicht.

Am 13. Juni 2011 um 2:33 Uhr wurde mit demselben Fahrzeug auf der Bundesautobahn A 7 die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 62 km/h überschritten. Am 17. Juni 2016 wurde K in dem wegen des Verstoßes vom 13. Juni 2011 eingeleiteten Bußgeldverfahren ein Anhörungsbogen übersandt. Auf dem Anschreiben ist das Foto des Fahrers abgedruckt, auf dem dieser gut zu erkennen ist. K sandte den Anhörungsbogen nicht zurück. Auf Ersuchen des zuständigen Landkreises leitete die Behörde B eine letztlich erfolglose Fahrerermittlung ein, die jedoch zu der Feststellung führte, dass K auf dem Beifahrersitz saß.

Den ihm von der B unter dem 15. August 2011 zugesandten Zeugenfragebogen, in dem dem K mitgeteilt worden war, dass er mit einer Fahrtenbuchauflage rechnen müsse, wenn der Fahrer nicht ermittelt werden könne, sandte er nicht zurück.

Mit Bescheid vom 14. September 2011 erteilte B dem K die Auflage, für das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen HH-AB 123 für den Zeitraum von 18 Monaten ein Fahrtenbuch zu führen. Zur Begründung wurde ausgeführt, es bestünden, nachdem es habe ausgeschlossen werden können, dass K bzw. einer seiner Söhne der Fahrer gewesen sei, keine weiteren Ermittlungsansätze.

Den dagegen eingelegten ordnungsgemäßen Widerspruch, zu dessen Begründung sich K auf ein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 46 I OWiG, § 52 I Nr. 3 StPO berief, da ein naher Verwandter den Verkehrsverstoß begangen habe, wies B mit Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2012 zurück.

 

Hat die ordnungsgemäß erhobene Klage des K Aussicht auf Erfolg?

B. Die Entscheidung des OVG Hamburg (Beschl. v. 28.6.2016 – 4 Bf 97/15.Z)

Der Klage hat Aussicht auf Erfolg, soweit der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist und die Klage zulässig und begründet ist.

 

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges

Der Verwaltungsrechtsweg ist gem. § 40 I VwGO eröffnet, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art handelt. Öffentlich-rechtlich ist die Streitigkeit, wenn die streitentscheidenden Normen dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind. Als Rechtsgrundlage für die Fahrtenbuchauflage kommt § 31a StVZO in Betracht. Dabei handelt sich um eine Norm, die einen Hoheitsträger berechtigt und verpflichtet und damit öffentlich-rechtlicher Natur ist. Es handelt sich auch nicht um eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art, so dass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.

 

II. Zulässigkeit der Klage

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (§ 88 VwGO). K wendet sich gegen die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage. Dabei handelt es sich nicht um eine Nebenbestimmung im Sinne von § 36 VwVfG, sondern um einen eigenständigen Verwaltungsakt nach § 35 VwVfG. Deswegen ist die Anfechtungsklage iSv § 42 I Alt. 1 VwGO die statthafte Klageart.

K müsste klagebefugt sein (§ 42 II VwGO). Seine Klagebefugnis ergibt sich als Adressat der Fahrtenbuchauflage jedenfalls aus der Möglichkeit einer Verletzung seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG). Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor, insbesondere ist ein Vorverfahren durchgeführt (§ 68 VwGO) und die Klagefrist (§ 74 VwGO) eingehalten worden. Die Klage ist damit zulässig.

 

III. Begründetheit der Klage

Die Anfechtungsklage ist begründet, soweit die Anordnung der Fahrtenbuchauflage rechtswidrig ist und K in seinen Rechten verletzt (§ 113 I 1 VwGO).

 

1. Ermächtigungsgrundlage

Rechtsgrundlage für die Anordnung der Fahrtenbuchauflage ist § 31a I 1 StVZO.

 

2. Formelle Rechtmäßigkeit

Die Anordnung der Fahrtenbuchauflage ist formell rechtmäßig ergangen, insbesondere wurde K zuvor angehört (§ 28 VwVfG).

 

3. Materielle Rechtmäßigkeit

Fraglich ist, ob die Anordnung der Fahrtenbuchauflage materiell rechtmäßig ist. Nach § 31a I 1 StVZO kann die zuständige Behörde gegenüber einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war.

 

a. Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften

Der Führer des Fahrzeugs hat am 12. Juni und am 13. Juni jeweils die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Auf Autobahnen gelten zwar nicht die gesetzlich normierten Höchstgeschwindigkeiten des § 3 III 1 StVO (§ 3 III 2 StVO), der Führer hat aber die durch Vorschriftszeichen angeordnete zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten (§ 41 I StVO iVm Anlage 2, Zeichen 274 Nr. 1).

b. Feststellung des Fahrzeugführers nicht möglich

Die Feststellung des Kraftfahrzeugführers ist im Sinne von § 31a I  StVZO unmöglich, wenn die Behörde nach den Umständen des Einzelfalls alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um ihn innerhalb der dreimonatigen Verfolgungsverjährungsfrist (§ 26 III StVG) zu ermitteln. Art und Ausmaß der Ermittlungen hängen insbesondere von der Art des jeweiligen Verkehrsverstoßes und der Bereitschaft des Kraftfahrzeughalters zur Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrers ab. Die Behörde hat in sachgemäßem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen zu treffen, die in gleich gelagerten Fällen erfahrungsgemäß zum Erfolg führen. Für die B standen keine weiteren Ermittlungsansätze zur Verfügung, weswegen ihr die Ermittlung des Fahrzeugführers unmöglich war.

c. Teleologische bzw. verfassungskonforme Reduktion wegen Zeugnisverweigerungsrecht

K macht geltend, dass ihm ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 46 I OWiG iVm § 52 I Nr. 3 StPO zugestanden habe. Man könnte argumentieren, dass der Anwendungsbereich von § 31a StVZO verfassungskonform auf die Fälle reduziert werden müsse, in denen die Täterermittlung nicht an der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts scheitere, da andernfalls ein Unterlaufen des Zeugnisverweigerungsrechts drohe:

„Im strafrechtlichen Bereich habe sich der Gesetzgeber dafür entschieden, dem Postulat des Grundgesetzes über den Schutz der Ehe und Familie nach Art. 6 I GG durch das Zeugnisverweigerungsrecht Rechnung zu tragen. Die Möglichkeit der Fahrtenbuchauflage resultiere aus der Obliegenheit jedes Halters eines Kraftfahrzeugs, an der Aufklärung eines mit seinem Kraftfahrzeug begangenen Verkehrsverstoßes so weit mitzuwirken, wie es ihm möglich und zumutbar sei. Hierzu gehöre auch, die Täterfeststellung zu fördern. Sofern die mangelnde Mitwirkung auf der Geltendmachung eines Zeugnisverweigerungsrechts beruhe, verkenne die Rechtsprechung, dass es dem betreffenden Halter angesichts des Schutzes von Ehe und Familie aus Art. 6 GG nicht zumutbar sei, seine Angehörigen anzuzeigen. Dann bestehe keine Obliegenheit zur Mitwirkung. Es werde auch kein „doppeltes Recht“ eingeräumt, es gehe um das Recht auf Zeugnisverweigerung, das nicht durch die Fahrtenbuchauflage sanktioniert oder unterlaufen werden dürfe. Die Führung des Fahrtenbuchs bewirke, dass der Verstoß schon im Voraus denunziert werde, bevor überhaupt der Anhörungsbogen auf dem Tisch liege. Das Fahrtenbuch werde eingesetzt, um das Zeugnisverweigerungsrecht auszuhebeln.“

 

Dem tritt das OVG entgegen. Ein Unterlaufen des Zeugnisverweigerungsrechts drohe nicht, da die Fahrtenbuchauflage ein präventives Instrument im Rahmen der Gefahrenabwehr sei und eine Reaktion auf die unterbliebene Mitwirkung des Fahrzeughalters darstelle. Die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage habe keinen Sanktionscharakter, sondern solle sicherstellen, dass der verantwortliche Fahrer eines Kraftfahrzeugs in Zukunft bei Zuwiderhandlungen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften ermittelt werden könne:

„Mit der Fahrtenbuchauflage wird zunächst nicht das vom Kläger im Hinblick auf den Verkehrsverstoß vom 13. Juni 2011 in Anspruch genommene Zeugnisverweigerungsrecht unterlaufen. Die Fahrtenbuchauflage zwingt den Kläger nicht, den seinerzeitigen Fahrer preiszugeben, sie kann auch - weil nur für die Zukunft wirksam - nicht zu dessen Aufdeckung führen. Die Auflage lässt das Zeugnisverweigerungsrecht des Fahrzeughalters auch nicht im Hinblick auf mögliche künftige Verkehrsverstöße von Fahrern des auf ihn zugelassenen Fahrzeugs leerlaufen. Das Zeugnisverweigerungsrecht wird lediglich im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren gewährt, wo es durch die Fahrtenbuchauflage nicht infrage gestellt wird. Die Fahrtenbuchauflage selbst ist ein präventives Instrument im Rahmen der Gefahrenabwehr und stellt eine Reaktion auf die - aus welchen Gründen auch immer - unterbliebene Mitwirkung des Fahrzeughalters dar. Sie soll einerseits sicherstellen, dass die Feststellung des Fahrers bei künftigen Verkehrsverstößen mit dem betreffenden Fahrzeug möglich ist und andererseits künftigen Fahrern zum Bewusstsein bringen, dass sie für den Fall der Begehung von Verkehrsdelikten aufgrund der Fahrtenbucheintragungen als Täter ermittelt und mit Sanktionen belegt werden können, wodurch sich gegebenenfalls weitere Verkehrsverstöße unterbinden lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.5.2015, 3 C 13.14, BVerwGE 152, 180, juris Rn. 19; VGH Mannheim, Beschl. v. 28.5.2002, 10 S 1408/01, VBlBW 2002, 390-392, juris Rn. 10). Diesem gewichtigen allgemeinen Interesse, Gefahren für die anderen Verkehrsteilnehmer vorzubeugen, dient die Anordnung, ein Fahrtenbuch zu führen. Es hält sowohl den Fahrzeughalter als auch etwaige Fahrer zum Einhalten der Verkehrsvorschriften an und trägt damit zur Verkehrssicherheit bei. Entgegen der Auffassung des Klägers bedarf dies wegen Offensichtlichkeit keines statistischen Beleges.“

 

Auch eine verfassungskonforme Auslegung sei nicht geboten:

„Der Schutzzweck des Zeugnisverweigerungsrechts gebietet entgegen der Auffassung des Klägers keine verfassungskonforme Reduktion von § 31a StVZO im Lichte von Art. 6 Abs. 1 GG, da dieser Schutzzweck durch die Anordnung, ein Fahrtenbuch zu führen, nicht berührt wird. Der Kläger hat ein schutzwürdiges Interesse daran, nicht über einen Verwandten als Täter einer Ordnungswidrigkeit aussagen zu müssen, insofern steht ihm im Ordnungswidrigkeitenverfahren ein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 52 StPO zu. Das Zeugnisverweigerungsrecht dient jedoch nicht primär dem Schutz des Täters der Ordnungswidrigkeit vor einer Verfolgung, sondern insbesondere dem Schutz des Zeugen - hier also des Klägers - vor Konfliktlagen (vgl. BGH, Beschl. v. 4.6.2014, 2 StR 656/13, NStZ, 2014, 426, juris). Eine derartige Konfliktlage besteht aber bei der Führung eines Fahrtenbuchs nicht. Jeder Fahrer des betreffenden Fahrzeugs weiß bzw. muss nach entsprechender Information durch den Kläger wissen, dass ein Fahrtenbuch geführt wird und er im Falle des Begehens eines Verkehrsverstoßes identifiziert werden kann, ohne dass es dafür nach Begehung der Ordnungswidrigkeit der Mitwirkung des Klägers bedürfte. Eine aus der Loyalität gegenüber dem verwandten Fahrer folgende Konfliktlage des Klägers kann sich in diesem Fall, weil es seiner Mitwirkung nicht mehr bedarf, nicht ergeben.“

Die Fahrtenbuchauflage ist ein geringer Eingriff in die Handlungsfreiheit eines Kraftfahrzeughalters. Ein doppeltes „Recht“, nach einem Verkehrsverstoß einerseits im Ordnungswidrigkeitenverfahren die Aussage zu verweigern und zugleich trotz fehlender Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrzeugführers von einer Fahrtenbuchauflage verschont zu bleiben, besteht auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht. Eine teleologische oder verfassungskonforme Reduktion des § 31a StVZO ist damit nicht geboten.

 

d. Ordnungsgemäße Ermessensausübung

Die Anordnung müsste ermessensfehlerfrei ergangen sei (§ 114 VwGO). Der Fahrzeugführer hat am 13. Juni die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 62 km/h überschritten. Darin liegt eine Ordnungswidrigkeit (§ 24 I StVG, § 49 III Nr. 4 StVO), die nach dem Bußgeldkatalog im Regelfall (§ 1 II BKatV) mit einer Geldbuße von 440 Euro und einem Fahrverbot von 2 Monaten geahndet wird (Ziffer 11.3.9 des Bußgeldkataloges). Im Punktesystem nach der Anlage 13 zu § 40 FeV ist der Verstoß mit 2 Punkten bewertet (Ziffer 2.2.3); dort hat der Verordnungsgeber selbst eine Gewichtung der Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr vorgenommen und ist in Beziehung zu setzen zu § 4 V Nr. 3 StVG, wonach die Fahrerlaubnis ab 8 Punkten zu entziehen ist. Deswegen rechtfertigt das Gewicht dieses Verstoßes Anordnung und Dauer der Fahrtenbuchauflage.

 

IV. Ergebnis

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

C. Fazit

Eine Rechtsfrage, die das Strafprozessrecht mit dem Verwaltungsrecht kombiniert und daher insbesondere für das Assessorexamen von Relevanz ist.