Endiviensalat-Fall

A. Sachverhalt

Ende Dezember 1952 traten in Stuttgart und Umgebung epidemische Erkrankungen an Typhus abdominalis auf. Bis zum 18. Januar 1953 stieg die Zahl der Kranken für Groß-Stuttgart auf 388 an; dazu kamen weitere Fälle in verschiedenen Kreisen der Regierungsbezirke Nordwürttemberg und Südwürttemberg-Hohenzollern.

Am Sonntag, dem 18. Januar 1953, fand vormittags eine Besprechung zwischen Vertretern des Innenministeriums, des Regierungspräsidiums Nordwürttemberg und der Stadt Stuttgart statt. Das Innenministerium war durch Ministerialrat Dr. U. vertreten. Bei dieser Besprechung kam man zu dem Ergebnis, dass mit größter Wahrscheinlichkeit Endiviensalat die Infektionsquelle sei. Am Nachmittag desselben Tages fand eine weitere Besprechung auf dem Bürgermeisteramt statt. Vor dieser Besprechung hatte Ministerialrat Dr. U. von dem Ministerialdirektor des Innenministeriums fernmündlich die Vollmacht erhalten zu veranlassen, was er, Dr. U., für richtig halte. Im Anschluss an diese Besprechung hielt Oberbürgermeister Dr. K. in Gegenwart von Ministerialrat Dr. U. eine Pressekonferenz ab und gab u.a. bekannt, die Gesundheitsabteilung des Innenministeriums habe angeordnet, dass von sofort an bis auf weiteres in den vom Typhus betroffenen Kreisen Nord- und Südwürttembergs der Groß- und Einzelhandel mit Endiviensalat verboten sei.

Der Süddeutsche Rundfunk gab am 18. Januar 1953 u.a. folgende Durchsage:

Die Bevölkerung wird nachdrücklich vor dem Genuss von Endiviensalat gewarnt. Der Verkauf von Endiviensalat durch Groß- und Kleinhändler ist ab sofort in allen von Typhus betroffenen Städten und Kreisen Nord- und Südwürttembergs verboten. Diese Anordnung ist vom Innenministerium des Landes Baden-Württemberg erlassen worden.

Am 19. Januar 1953 erschienen in den großen Stuttgarter Tageszeitungen auf Grund der Pressekonferenz des Oberbürgermeisters Dr. K. Artikel mit den Überschriften “Handel mit Endiviensalat grundsätzlich verboten” und “Der Handel mit Endiviensalat ist ab sofort verboten”.

B. Worum geht es?

Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die Frage nach der Rechtsnatur des Verkaufsverbots. Da das Innenministerium für die Adressaten des Verbots (Groß- und Kleinhändler in den betroffenen Städten und Kreisen) eine verbindliche Rechtsfolge setzen wollte, scheidet ein bloßer Realakt aus. Stattdessen könnte es sich um einen Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG) oder eine (untergesetzliche) Rechtsnorm in Form einer Rechtsverordnung (vgl. Art. 80 GG, § 53 LVwG SH) handeln. (Eine Rechtsnorm in Form einer Satzung scheidet aus, weil es sich dabei um bloßes Binnenrecht handelt, das Innenministerium aber offensichtlich eine Maßnahme mit Außenwirkung treffen wollte.) Die Abgrenzung zwischen Verwaltungsakt und Rechtsverordnung ist sowohl materiell-rechtlich als auch prozessual von Relevanz. Zu den Unterschieden zählen beispielsweise:

  • Verwaltungsakte werden bekanntgegeben (§ 41 VwVfG), Rechtsverordnungen werden verkündet (vgl. Art. 82 I 2 GG).
  • Der Verwaltungsakt ist ein Vollstreckungstitel und kann zwangsweise vollstreckt (vgl. § 3 II lit. a) VwVG für Leistungsbescheide, die auf Zahlung eines Geldbetrages gerichtet sind) bzw. durchgesetzt werden (vgl. § 6 I VwVG für Verwaltungsakte, die auf Vornahme einer Handlung oder auf Duldung oder Unterlassung gerichtet sind). Rechtsverordnungen hingegen können ohne Ausführungsakt nicht zwangsweise durchgesetzt werden.
  • Rechtswidrige Verwaltungsakte sind grundsätzlich wirksam (§ 43 II VwVfG; Ausnahme: Nichtigkeit, §§ 44, 43 III VwVfG); rechtswidrige Rechtsverordnungen sind grundsätzlich nichtig.
  • Verwaltungsakte können mit der Anfechtungsklage (§ 42 I VwGO) angegriffen werden; bei Erfolg hebt das Gericht den Verwaltungsakt auf (§ 113 I 1 VwGO). Rechtsnormen hingegen können nur ausnahmsweise zum Gegenstand eines verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens gemacht werden (§ 47 VwGO).

Die Abgrenzung zwischen Verwaltungsakt und Rechtsnorm wird anhand der Fragen „Welcher Sachverhalt wird erfasst?“ und „An welchen Adressat ist die Regelung gerichtet?“ vorgenommen, wobei zwischen den Begriffen konkret und abstrakt (im Hinblick auf die erfassten Sachverhalte) sowie individuell und generell (im Hinblick auf den Adressat) zu unterscheiden ist:

Ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG) ist eine hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls (Sachverhalt und Adressat) auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Ein Verwaltungsakt regelt also einen Sachverhalt (konkret) und hat einen Adressaten (individuell), weswegen es sich typischerweise um eine konkret-individuelle Regelung handelt.

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Eine Rechtsverordnung ist hingegen eine Anordnung an eine unbestimmte Anzahl von Personen (Adressaten) zur Regelung einer unbestimmten Anzahl von Fällen (Sachverhalten), die aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung von Behörden getroffen wird (vgl. § 53 LVwG SH). Das Wesen einer Rechtsverordnung besteht also darin, dass sie mehrere Sachverhalte regelt (abstrakt) und mehrere Adressaten anspricht (generell); es handelt sich um eine abstrakt-generelle Regelung.

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Das Verkaufsverbot richtete sich an alle Groß- und Kleinhändler in den betroffenen Städten und Kreisen. Die Regelung war also im Hinblick auf die Adressaten „generell“. Damit ist aber noch keine Entscheidung über die richtige Einordnung der Maßnahme getroffen, weil ein Verwaltungsakt nach § 35 S. 2 VwVfG auch dann vorliegen kann, wenn er sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet (sogenannte adressatenbezogene Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 Var. 1 VwVfG). Es handelt sich dann um eine (konkret-generelle) Allgemeinverfügung.

Die Einordnung des Verkaufsverbots als Allgemeinverfügung oder Rechtsverordnung hängt also davon ab, ob er einen Sachverhalt betrifft („konkret“; dann: Allgemeinverfügung) oder mehrere Sachverhalte („abstrakt“; dann: Rechtsverordnung).

Das BVerwG hatte also die folgende Frage zu beantworten:

Ist ein Verkaufsverbot zur Abwehr einer epidemischen Erkrankung als konkret-generelle (Allgemeinverfügung) oder abstrakt-generelle (Rechtsverordnung) Regelung einzuordnen?

C. Wie hat das BVerwG entschieden?

Das BVerwG ordnet im Endiviensalat-Fall (Urt. v. 28.2.1961 – I C 54/57 (BVerwGE 12, 87 ff.)) das Verkaufsverbot als Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2 VwVfG) ein.

Das überrascht, wenn man darauf abstellt, dass das Verkaufsverbot eine Vielzahl von unbestimmten Verkaufsvorgängen betrifft. Bei dieser Sichtweise läge es näher, von einer Vielzahl unbestimmter geregelter Sachverhalte auszugehen und das Verkaufsverbot daher als abstrakt-generelle Regelung einzuordnen. Daher wird das Verkaufsverbot von nicht wenigen Stimmen in der Literatur auch als Rechtsverordnung qualifiziert.

Das BVerwG stellt hingegen – im Einklang mit der wohl h.M. – darauf ab, dass das Verkaufsverbot einen einzelnen Sachverhalt, nämlich die Seuchengefahr regele. Wesentlich für die Einordnung des Verbots als Allgemeinverfügung sei deren Anlassbezogenheit, weil es auf einen bestimmten Anlass hin erlassen wurde und insbesondere auch zeitlich darauf beschränkt sein soll. Darin (in der Seuchengefahr) liege dann der (einzelne) geregelte Sachverhalt, weswegen es sich um eine konkret-generelle Regelung handele:

„Das Berufungsgericht hat das Verkaufsverbot als Allgemeinverfügung und nicht als Rechtsnorm angesehen. Dem war beizutreten. Das behauptete Verkaufsverbot traf keine abstrakten Anweisungen, sondern regelte einen Einzelfall des öffentlichen Rechts (BVerwGE 7, 54 [55]). Gegenstand des Verkaufsverbots war ein einzelnes reales Vorkommnis, die konkrete Seuchengefahr, in deren Regelung es sich erschöpfte (Thoma, Der Polizeibefehl im badischen Recht, S. 64; Brohm, Rechtsschutz im Bauplanungsrecht, S. 47).
Der Charakter des Verkaufsverbots als Allgemeinverfügung wird auch nicht dadurch berührt, daß es nicht nur gegen die Verbreitung der Epidemie in den schon betroffenen Kreisen, sondern auch gegen das Übergreifen auf bisher noch nicht befallene Gebiete Vorsorge treffen sollte. Das Schwergewicht des behaupteten Verbots als einer Notmaßnahme lag zunächst in der Fürsorge der einwandfrei befallenen Bezirke von Baden- Württemberg. Von hier aus erhielt die Maßnahme ihr Gepräge. Im übrigen schrieb das Verkaufsverbot auch den Groß- und Einzelhändlern in den bisher noch nicht betroffenen Bezirken bereits jetzt vor, wie sie sich zu verhalten hätten, wenn die Seuche ihr Gebiet ergreifen sollte. Dies war kein “gedachter Fall”, wie er für eine Rechtsnorm charakteristisch und erforderlich ist. Hier war eine spezielle Typhusepidemie bereits im Anzug, die jederzeit auch die bisher noch verschont gebliebenen Bezirke ergreifen konnte. Diese konkrete Gefahr bestimmte einheitlich den Charakter des Verkaufsverbots auch hinsichtlich der noch seuchenfreien Gebiete.
Richtig ist, daß der Kreis der Adressaten des Verkaufsverbots im Zeitpunkt seines Erlasses nicht genau bestimmbar war. Es waren nicht alle Kreise von der Epidemie ergriffen. Einige waren stark, einige nur schwach betroffen. Der einzelne Händler konnte unter Umständen nicht wissen, ob er unter das Verbot fiel, z.B. dann, wenn nur eine einzige, vielleicht der Allgemeinheit unbekannte Erkrankung oder nur ein “Verdachtsfall” vorlag. Der Senat hat dem in Anbetracht der oben gewürdigten Umstände jedoch kein entscheidendes Gewicht beigemessen. Es handelt sich hierbei nur um partielle und ausscheidbare Unbestimmtheiten, die die Allgemeinverfügung vielleicht insoweit fehlerhaft erscheinen lassen, sie jedoch nicht begrifflich ausschließen. Gegen die Annahme einer Rechtsnorm sprach schließlich insbesondere auch die Erwägung, daß es sich im vorliegenden Fall um eine polizeiliche Maßnahme handelt. Als Rechtsnorm könnte das Verkaufsverbot nur eine Polizeiverordnung sein. Polizeiverordnungen dienen aber der Abwehr abstrakter Gefahren. Die Abwehr einer konkreten Gefahr geschieht im Wege der polizeilichen Verfügung.“

D. Fazit

Die Definition des Verwaltungsakts (§ 35 VwVfG) gehört zum verwaltungsrechtlichen Standardwissen. Der Endiviensalat-Fall zeigt, dass es Fallgestaltungen gibt, die den Rechtsanwender wegen der Abgrenzung zwischen Verwaltungsakt (in Form einer Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 VwVfG) und Rechtsnorm (Rechtsverordnung) vor einige Probleme stellen können. Schon die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vom 18.7.1973 führt aus (BT-Drs. 7/910, S.. 57 [linke Spalte]):

Besondere Schwierigkeiten bereitet in der Praxis die Abgrenzung zwischen Rechtsnorm und Allgemeinverfügung, die ein Verwaltungsakt ist.

Da Allgemeinverfügungen in letzter Zeit nicht selten Gegenstand prüfungsgeeigneter Fallgestaltungen waren (erinnert sei etwa an das „Kuttenverbot“ oder das Aufenthaltsverbot für Fußballfans) und die „richtige“ Abgrenzung zur Rechtsverordnung nach dem oben Gesagten wichtige Weichen in der Klausurprüfung stellt, lohnt es sich, sich das Wesen der Allgemeinverfügung erneut vor Augen zu führen.