Examensreport: ÖR II 1. Examen aus dem Juli 2016 Durchgang in Hessen

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

Aufgrund einer zunehmenden „Landflucht“ der Ärzte wurde im Jahre 2002 im Grundversorgungsgesetz geregelt, dass Ärzte, die sich in ländlichen Gebieten ansiedeln, auf Antrag ein zinsloses Darlehen i.H.v. 100.000 Euro bekommen sollten. Außerdem war vorgesehen, dass verlorene, also nicht rückzahlbare Zuschüsse i.H.v. 50.000 Euro an solche Ärzte gezahlt werden können.

Aufgrund knapper Kassen beschließt der Bundestag im Oktober 2014 - bei nur 70 anwesenden Abgeordneten – ein Änderungsgesetz zum Grundversorgungsgesetz. Danach sollen gewährte Darlehen künftig mit 6 % p.a. verzinst werden. Darlehen, die in den letzten zwei Jahren vor Verkündung des Änderungsgesetzes gewährt worden sind, sollen mit 3 % verzinst werden. Zudem sollen bereits ausgezahlte Zuschüsse hälftig zurückgefordert werden. Bewilligte, aber noch nicht ausgezahlte Zuschüsse sollen einbehalten werden.

Arzt X hat im Jahre 2003 ein Darlehen in Höhe von 55.500 Euro erhalten. Er bekommt jetzt einen Zinsbescheid i.H.v. 3 % für die letzten zwei Jahre. Arzt Y wird aufgefordert 12.500 Euro von den 25.000 Euro, die er erhalten hat, zurückzuzahlen. Arzt Z hatte schon einen Zuschuss bewilligt, aber noch nicht ausgezahlt bekommen. Den Zuschuss hält die Behörde nunmehr zurück.

Die Ärzte klagen jeweils gegen diese Maßnahmen. Sie tragen vor, dass es sich bei der Regelung um eine „unzulässige Enteignung“ handele. Außerdem verstoße das Gesetz gegen das Rechtsstaatsprinzip. Die Klagen sowie alle Rechtsmittel bleiben erfolglos.

X, Y und Z erheben nunmehr Verfassungsbeschwerde. Mit Erfolg?

Unverbindliche Lösungsskizze

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts

Hier: Verfassungsbeschwerde, Art. 93 I Nr. 4a GG; §§ 13 Nr. 8a, 90ff. BVerfGG

II. Beteiligtenfähigkeit, § 90 I BVerfGG

-> Jedermann, der Träger von Grundrechten ist

Hier: X, Y und Z Träger aller Grundrechte

III. Beschwerdegegenstand, § 90 I BVerfGG

Hier: Bescheide als Akte der Exekutive in Gestalt der letztinstanzlichen Urteile als Akte der Judikative.

IV. Beschwerdebefugnis, § 90 I BVerfGG

  1. Mögliche Grundrechtsverletzung

Hier: Art. 14 I GG, zumindest aber Art. 2 I GG.

  1. Selbst, unmittelbar und gegenwärtig (+)

V. Rechtswegerschöpfung, § 90 II BVerfGG

(+); Arg.: X, Y und Z haben durch alle Instanzen geklagt.

VI. Form und Frist, §§ 23, 92, 93 BVerfGG (+)

B. Begründetheit

I. Verletzung der Eigentumsgarantie, Art. 14 I GG

  1. Schutzbereich

a) Persönlicher Schutzbereich

-> Jedermann (+)

b) Sachlicher Schutzbereich

-> Eigentum, nicht: Vermögen

  • Bzgl. X: Die Verpflichtung, Zinsen zu zahlen, betrifft das Vermögen; Arg.: Es geht nicht um konkrete Geldscheine, sondern nur um einen Wert, der abgeführt werden muss.

  • Bzgl. Y: Die Verpflichtung, den Zuschuss hälftig zurückzuzahlen, betrifft aus demselben Grund nicht das Eigentum, sondern nur das Vermögen. Außerdem liegt keine „erdrosselnde Wirkung“ vor.

  • Bzgl. Z: Z hat noch nicht einmal Zahlungen erhalten. Insoweit handelt es sich nur um eine „Expektanz“, die ebenfalls nicht von Art. 14 I GG erfasst ist.

  1. Ergebnis: (-)

II. Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG

  1. Schutzbereich

a) Persönlicher Schutzbereich

-> Jedermann (+)

b) Sachlicher Schutzbereich

-> Allgemeine Handlungsfreiheit (= jedes Verhalten), also auch nicht Zinsen bzw. Zuschüsse nicht zahlen zu müssen.

  1. Eingriff (+)

  2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

a) Bestimmung der Schranke

-> Einfacher Gesetzesvorbehalt; Arg.: „Verfassungsmäßige Ordnung“ = jedes formell wie materiell verfassungsgemäße Gesetz.

b) Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage (= Änderungsgesetz zum Grundversorgungsgesetz)

aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit

-> Nur 70 Abgeordnete anwesend – unerheblich; Arg.: Mehrheit der anwesenden Abgeordneten ausreichend, Mehrheit der Mitglieder des Bundestages nicht erforderlich.

bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit

(1) Verhältnismäßigkeit

(a) Zulässiger Zweck

Hier: Entlastung des Haushalts

(b) Geeignetheit (+)

(c) Erforderlichkeit (+)

(d) Verhältnismäßigkeit i.e.S.

  • Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit vs. Entlastung des Haushalts

  • Bzgl. X: (-); Arg.: Überschaubarer Betrag, allerdings auch nur eine geringe Entlastung des Haushalts

  • Bzgl. Y: (-); Arg.: Erheblicher Betrag, nämlich 12.500 Euro (= 50 %). Erhebliche Belastung für Y, wenn Betrag ausgegeben.

  • Bzgl. Z: (+); Arg.: Keine Dispositionen im Vertrauen auf den Erhalt des Zuschusses ersichtlich.

(2) Verstoß gegen sonstige Verfassungsgrundsätze

-> Rechtsstaatsprinzip

-> Rechtssicherheit/Vertrauensschutz

  • Problem: Rückwirkung von Gesetzen

  • Bzgl. X: Echte Rückwirkung – grundsätzlich unzulässig; Ausnahme: evtl. Bagatellfall, allerdings immer noch mehrere tausend Euro. Im Ergebnis wohl: (-).

  • Bzgl. Y: Echte Rückwirkung – grundsätzlich unzulässig; Ausnahmen nicht ersichtlich.

  • Bzgl. Z: Unechte Rückwirkung; Arg.: Lebenssachverhalt noch nicht abgeschlossen – grundsätzlich zulässig; Ausnahme: überwiegendes schutzwürdiges Vertrauen – hier: (-).

C. Ergebnis

  • Bzgl. X und Y: (+)

  • Bzgl. Z: (-)