Examensreport: ÖR II 1. Examen aus dem Mai 2016 Durchgang in Nordrhein-Westfalen

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

Das Versandhandelsunternehmen (die P-GmbH) ist deutschlandweit tätig und unterhält u.a. ein großes Auslieferungszentrum in Werne (Kreis Unna, Nordrhein-Westfalen). P hat sich insbesondere darauf spezialisiert, kurzfristige Bestellungen zu ermöglichen und den Kunden extrem kurze Lieferzeiten zu garantieren. Die kostenpflichtige Versandoption „Express-Lieferung” ist gerade vor Weihnachten sehr beliebt und betrifft im Logistikzentrum Werne ca. 75% der Bestellungen.

Daher beantragte die P im Oktober 2015 bei der dafür zuständigen Bezirksregierung eine Ausnahmegenehmigung nach dem Arbeitszeitgesetz. (Nr. 78 Schönfelder Ergänzungsband) für den dritten und vierten Adventssonntag des Jahres 2015. Anders ließe sich der vor Weihnachten exponentiell ansteigende Bedarf nach möglichst kurzfristiger Versendung von Waren, die noch vor Weihnachten den Kunden erreichen sollen, nicht bewerkstelligen.

Die Bezirksregierung prüfte den Antrag und erteilte am 3. November 2015 in einem formell rechtmäßigen Bescheid der P eine Ausnahmegenehmigung nach dem Arbeitszeitgesetz für die beiden Adventssonntage. Zur Begründung führte sie aus, das Unternehmen habe nachvollziehbar sein berechtigtes Interesse an der Sonntagsarbeit im Logistikzentrum dargelegt. Die besonders versandintensive Weihnachtszeit schaffe eine Sondersituation, die ein punktuelles Zurücktreten des Sonntagsschutzes rechtfertige. Weiterungen im Sinne einer generellen Lockerung des Sonntagsschutzes seien nicht zu befürchten.

Die P hält daher - entsprechend der Ausnahmegenehmigung - an den beiden letzten Adventssonntagen den Betrieb in ihrem Auslieferungszentrum in Werne aufrecht. Die Dienstleistungsgewerkschaft (D) - ein nicht eingetragener Verein - erlangt im Januar 2016 durch ihre bei P beschäftigten Mitglieder von der erteilten Genehmigung Kenntnis. Sie hält die Genehmigung für rechtswidrig. Die P könne sich auf keinen der Ausnahmetatbestände des Arbeitszeitgesetzes stützen und verletze den verfassungsrechtlich garantierten Sonntagsschutz. Die P habe den Bedarf an Sonntagsarbeit durch ihr Geschäftsmodell selbst verursacht. Indem die P sich bewusst dazu entschieden habe, die Spontanbestellungen der Kunden zu realisieren, nehme sie die notwendige Arbeit an Sonntagen billigend in Kauf. Auch seien keine Anstrengungen der P zu erkennen, um eine Arbeit an Sonntagen zu vermeiden.

Die P kündigt bereits im Februar 2016 an, für das kommende Weihnachtsgeschäft 2016 erneut eine Ausnahmegenehmigung für die Sonntagsarbeit beantragen zu wollen. Die Umstände, die die P zur Antragsstellung veranlasst hätten, lägen – was zutrifft – weiterhin –wie im Jahr 2015 – vor. D erfährt von den Plänen der P und erhebt daher am 1. März 2016 formgerecht Klage vor dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht und begehrt Feststellung, dass die Ausnahmegenehmigung aus dem Jahr 2015 rechtswidrig gewesen sei. Die beigeladene P ist der Meinung, der Bescheid der Bezirksregierung sei erstens rechtmäßig; immerhin sei zu ihren Gunsten ihre Berufs- oder wenigstens Wirtschaftsfreiheit zu berücksichtigen. Zweitens sei D durch die Ausnahmegenehmigung nicht in eigenen Rechten betroffen und versuche letztlich, sich zum selbst ernannten „Wächter des Sonntagsschutzes” aufzuschwingen.

D tritt diesem Vorbringen ihrerseits entgegen: Eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Sonntagsschutzes verkürze sehr wohl ihre Koalitionsfreiheit — für Gewerkschaften dürfe nichts anderes gelten als für die Kirchen.

Aufgabe 1: Hat die Klage der D Aussicht auf Erfolg?

Fallabwandlung:

D erfährt bereits im November 2015 von der erteilten Ausnahmegenehmigung und erhebt noch im November 2015 Klage vor dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht. Daraufhin wendet sich P sofort an das zuständige Verwaltungsgericht und beantragt formgerecht, die sofortige Vollziehung der Ausnahmegenehmigung anzuordnen.

Aufgabe 2: Ist der Antrag der P zulässig?

Bearbeitungsvermerk für die Fallabwandlung: Begutachtungszeitpunkt ist November 2015.

Bearbeitungsvermerk für sämtliche Aufgaben: Alle durch die Aufgaben aufgeworfenen Rechtsfragen sind - ggf. hilfsgutachterlich - in einem umfassenden Gutachten zu beantworten. Insbesondere sind die Zulässigkeitsprüfungen bei sämtlichen Aufgaben fortzusetzen, wenn einzelne Zulässigkeitsvoraussetzungen als nicht gegeben angesehen werden. Auf §§ 9, 10, 12-15 Arbeitszeitgesetz (ArbZG; Nr. 78 Schönfelder Ergänzungsband) wird hingewiesen. Es ist davon auszugehen, dass etwa auf der Grundlage des ArbZG erlassene Verordnungen, insbesondere solche i.S.v. § 13 ArbZG, für die Lösung des Falles keine Rolle spielen. Auch Tarifverträge i.S.v. § 12 ArbZG sind nicht einschlägig.

Vorschriften des Feiertagsgesetzes NRW sind nicht zu prüfen.

 

Unverbindliche Lösungsskizze

Ausgangsfall

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg

Hier: § 13 ArbZG

II. Statthafte Klageart

-> Fortsetzungsfeststellungsklage, § 113 I 4 VwGO analog

  1. VA

Hier: Ausnahmegenehmigung

  1. Erledigung

Hier: Adventssonntage verstrichen

  1. Zeitpunkt der Erledigung
  • Eigentlich: Nach Klageerhebung; Arg.: Systematik

  • Bei Erledigung vor Klageerhebung: § 113 I 4 VwGO analog; **Arg.:**Vergleichbarkeit; Feststellungsklage ermöglicht keine Feststellungen bzgl. der Rechtswidrigkeit eines VA

III. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

  1. Fortsetzungsfeststellungsinteresse

Hier: Wiederholungsgefahr

  1. Klagebefugnis, § 42 II VwGO analog

Hier: Art. 9 I und III GG (Koalitionsfreiheit) i.V.m. Art. 140 GG; Art. 139 WRV; Arg: Schutzpflicht des Staates bzgl. der Sonntagsruhe auch zugunsten der Arbeitnehmer(zusammenschlüsse).

  1. Erfolgloses Vorverfahren, §§ 68 ff. VwGO analog

Problem: Erforderlichkeit

aA: (+), und zwar auch im konkreten Fall, vgl. § 110 III Nr. 5 JustG NRW; Arg.: Sinn und Zweck des Vorverfahrens (Selbstkontrolle)

hM: (-) Arg.: Sinn und Zweck des Vorverfahrens (Selbstkorrektur)

  1. Klagefrist, § 74 I 1 VwGO analog

aA: (+), und zwar 1 Jahr; Arg.: § 58 II VwGO

- hM: (-)

Hier: Streitentscheid nicht erforderlich, da kein Jahr verstrichen.

  1. Klagegegner, § 78 I VwGO (+)

IV. Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen

-> §§ 61, 62 VwGO (+)

B. Begründetheit

I. Rechtswidrigkeit des VA (= Ausnahmebewilligung)

  1. Ermächtigungsgrundlage

Hier: § 13 III Nr. 2 lit. b ArbZG

  1. Formelle Rechtmäßigkeit (+)

  2. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Voraussetzungen

(+), wenn besondere Verhältnisse zur Verhütung eines unverhältnismäßigen Schaden dies erfordern.

aa) Besondere Verhältnisse

Hier: Exponentiell ansteigender Bedarf nach möglichst kurzfristiger Versendung von Waren im Weihnachtsgeschäft

bb) Unverhältnismäßiger Schaden

Hier: 75 % der Sendungen betroffen

b) Rechtsfolge: Ermessen

-> Verhältnismäßigkeit

aa) Zweck

Hier: Förderung der wirtschaftlichen Betätigung der P, Art. 12 I GG

bb) Geeignetheit (+)

cc) Erforderlichkeit (+)

dd) Verhältnismäßigkeit i.e.S.

  • Abwägung: Berufsfreiheit (in Form der Berufsausübungsfreiheit, 1. Stufe) gegenüber dem Schutz der Sonntagsruhe, den auch die Gewerkschaften zum Zwecke des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer einfordern können, Art. 9 I, III; 2 II; 140 GG, Art. 139 WRV.

  • Konkret: Mehraufwand selbst verschuldet, durch Vertriebsstrategie; keine Anstrengungen zur Vermeidung der Sonntagsarbeit erkennbar (andere Ansicht vertretbar).

ee) Ergebnis: (-)

II. Rechtsverletzung (+)

C. Gesamtergebnis: (+)

Abwandlung:

I. Verwaltungsrechtsweg (+)

II. Statthaftigkeit

Hier: §§ 80a III, I Nr. 1 VwGO; Arg.: gerichtlicher Eilantrag bei VA mit Drittwirkung

III. Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog (+), s.o.

IV. Antragsgegner, § 78 I VwGO analog (+)

V. Rechtsschutzbedürfnis

  1. Hauptsacherechtsbehelf nicht offensichtlich unzulässig (+)

  2. Aufschiebende Wirkung des Hauptsacherechtsbehelfs, § 80 I VwGO

Hier: Kein Fall von § 80 II VwGO

  1. Vorheriger Antrag bei der Behörde, § 80a I Nr. 1 VwGO

- Problem: Erforderlichkeit

- aA: (+); Arg.: zumutbar

- hM: (-); Arg.: effektiver Rechtsschutz, Art. 19 IV GG

VI. Ergebnis: (+)

 

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