Der Rücktritt des Alleintäters richtet sich nach § 24 Abs. 1 StGB und bemisst sich vor allem nach der Vorstellung des Täters. Glaubt dieser, sein Ziel noch erreichen zu können, obgleich es noch nicht erreicht wurde oder glaubt er, es bereits erreicht zu haben? Auf welchen Zeitpunkt ist abzustellen? Mit diesen Fragen hat sich der BGH erneut befasst.
A. Sachverhalt
Zwischen A und N kam es über einen Zeitraum von einem Jahr hinweg immer wieder zu Spannungen, die auch zu wechselseitigen Strafanzeigen führten. Am Tattag lief A auf einem parallel zur Straße führenden Feldweg, der in erster Linie von landwirtschaftlich genutzten Fahrzeugen befahren wurde, als ihm zum wiederholten Mal N mit seinem Fahrzeug auf diesem Weg entgegenkam und dicht an ihm vorbeifuhr. A empfand das als Provokation und schlug mit der Hand auf den Außenspiegel. Daraufhin hielt N nach 2 bis 3 Metern ab Passieren des A an, stieg aus und schrie A an, der nun ein mitgeführtes Messer mit einer Klingenlänge von 8 cm zückte, auf N zulief, diesen zu Boden brachte und 2-mal linksseitig auf ihn einstach. Er wollte N „eine Lektion erteilen“, wobei er dessen Tod billigend in Kauf nahm. Als A erkannte, dass N einen Stomabeutel trug, riss er, um N zu demütigen, den Beutel ab und warf ihn weg. Da weder körperliche Auswirkungen noch ein größerer Blutverlust bei N zu erkennen waren, ging A davon aus, dass er N keine lebensgefährdenden Verletzungen zugefügt hatte und ließ von weiteren, ihm möglichen Stichen ab. Das bisherige Einwirken verstand er als ausreichende Lektion. Er wand sich ab und verließ langsam den Tatort. Bei zweimaligem Umdrehen erkannte er, dass N aufgestanden war und aufrecht an seinem Wagen stand. Die im Fahrzeug des N sitzende Lebensgefährtin verständigte telefonisch den Rettungsdienst, der N kurze Zeit später versorgte und in ein Krankenhaus brachte. Ohne ärztliche Hilfe wäre N innerhalb von 3 Stunden verblutet.
Das Landgericht Limburg nahm einen strafbefreienden Rücktritt vom versuchten Mord an und verurteilte A u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung. Gegen dieses Urteil legte N als Nebenkläger Revision ein.
B. Lösung
Der BGH (Urteil vom 26.02.2025 – 2 StR 454/24) hat das Urteil des Landgerichts bestätigt und den strafbefreienden Rücktritt ebenfalls bejaht.
In Deiner Klausur würdest Du mit der Prüfung des versuchten Mordes beginnen.
I. §§ 211, 212, 22, 23 StGB
A könnte sich wegen versuchtem Mord strafbar gemacht haben, indem er auf N einstach.
1. Vorprüfung
Da N überlebt hat, wurde die Tat nicht vollendet. Als Verbrechen ist der Mord im Versuch auch strafbar.
2. Tatentschluss
Auch wenn es A vorrangig um das Erteilen einer Lektion durch Verletzung der körperlichen Integrität des N ging, erkannte er zum Zeitpunkt des Zustechens doch die Möglichkeit eines nahen Todes und nahm diesen billigend in Kauf.
Dabei könnte sein Tatentschluss auf eine heimtückische Tötung gerichtet gewesen sein. Heimtücke liegt vor, wenn der Täter die Arg- und darauf beruhende Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Die Arglosigkeit muss zum Zeitpunkt des Eintretens der Tat in das Versuchsstadium vorliegen. Aufgrund der geringen Wegstrecke (max. 3 Meter), die A überwinden musste, um zu N zu gelangen, und des sofortigen Einstechens auf N kann das unmittelbare Ansetzen bereits im Zücken des Messers und Loslaufen auf N gesehen werden. Auch wenn es zuvor Auseinandersetzungen zwischen A und N gegeben hat, so kann man doch davon ausgehen, dass N nicht mit einem tödlichen Angriff rechnete, infolgedessen also arglos und in seiner Abwehrfähigkeit eingeschränkt, mithin wehrlos war. Auf diese Umstände bezog sich auch der Tatentschluss des A, dessen Angriff von Überraschung und Schnelligkeit gekennzeichnet war.
In der Literatur wird teilweise darüber hinaus eine besondere, positiv festzustellende Verwerflichkeit verlangt, die teilweise einen verwerflichen Vertrauensbruch voraussetzt. Diese einzelfallbezogene Einbeziehung persönlicher, sich aus dem Täter-Opfer-Verhältnis ergebender Umstände führt aber zur Unbestimmtheit des Mordmerkmals und damit zu einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Eine tatbestandliche Eingrenzung des Mordmerkmals ist daher abzulehnen.
Des Weiteren hat A aus niedrigen Beweggründen gehandelt, da das Zustechen der Demütigung des N und dem Erteilen einer Lektion dienen sollte. Diese Beweggründe sind hemmungslos, eigensüchtig und rücksichtslos.
3. Unmittelbares Ansetzen
Spätestens zum Zeitpunkt des Zustechens hat A durch Ausführen der Tathandlung die Schwelle zum „Jetzt geht`s los“ überschritten und das Rechtsgut ohne weitere Zwischenschritte konkret gefährdet.
4. Rechtswidrigkeit und Schuld
Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich.
5. Strafbefreiender Rücktritt gem. § 24 Abs. 1 StGB
A könnte strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten sein, indem er N liegen ließ und sich entfernte.
Dann müsste ein Rücktritt zunächst noch möglich gewesen sein. Dies erscheint hier fraglich, da es A in erster Linie um das Erteilen einer Lektion und damit um das Erreichen außertatbestandlicher Ziele ging. Dieses Ziel hatte A erreicht. Ein weiteres Zustechen war für A zwar auch nach seiner Vorstellung tatsächlich noch möglich (der Versuch war mithin nicht fehlgeschlagen), aber nicht mehr sinnvoll.
Eine in der Literatur vertretene Auffassung verneint einen strafbefreienden Rücktritt, da ein Täter, der sein außertatbestandliches Ziel erreicht habe, kein Motiv mehr für eine Tötung habe, sodass sein Vorsatz im Hinblick auf die Tatvollendung entfalle. Da ein Rücktritt allerdings voraussetze, dass der Täter seinen Vorsatz aufgebe, komme eine Strafbefreiung gem. § 24 nicht in Betracht. (Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 54. Auflage 2024, Rn. 1050)
Der BGH (a.a.O.) bezieht sich vorliegend auf seine ständige Rechtsprechung und führt lediglich folgendes aus:
„Der Umstand, dass der Angeklagte sein außertatbestandliches Handlungsziel – hier der Denkzettel für den Nebenkläger – durch die Messerstiche erreicht hatte, schließt einen freiwilligen Rücktritt vom unbeendeten Versuch nicht aus.“*
Der Große Strafsenat des BGH (Beschluss vom 19.05.1993, GSSt 1 /93) hatte seinerzeit Folgendes zugunsten eines Rücktritts ausgeführt:
„§ 24 Abs. 1 StGB ermöglicht den Rücktritt durch Aufgabe weiterer Tatausführung oder Verhinderung der Vollendung. Tat i. S. von § 24 StGB ist die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne, also die in den gesetzlichen Straftatbeständen umschriebene tatbestandsmäßige Handlung und der tatbestandsmäßige Erfolg … Hierauf bezieht sich der strafwürdige Vorsatz des Versuchstäters. Dementsprechend beschränkt sich beim unbeendeten Versuch der Entschluss, die weitere Tatausführung aufzugeben, auf die Verwirklichung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale. Auf weitergehende, außertatbestandsmäßige Beweggründe, Absichten oder Ziele stellen weder der die Strafbarkeit des Versuchs begründende § 22 StGB, noch der spiegelbildlich dazu eine Strafbefreiung durch Rücktritt ermöglichende § 24 StGB ab…. Daher kann auch derjenige vom unbeendeten Tötungsversuch - sei er mit direktem oder lediglich mit bedingtem Vorsatz ausgeführt - strafbefreiend zurücktreten, der von ihm möglichen weiteren Tötungshandlungen allein deshalb absieht, weil er sein außertatbestandsmäßiges Handlungsziel bereits erreicht hat oder erreicht zu haben glaubt (wenn im Übrigen Freiwilligkeit im Sinne des Fehlens einer äußeren oder inneren Zwangslage vorliegt). Von einem solchen Täter über das bloße Abstandnehmen von weiterer Tatausführung hinaus einen “honorierbaren Verzicht” oder eine “Umkehr” zu fordern, findet in § 24 Abs. 1 StGB keine Stütze. Das Gesetz honoriert den Verzicht auf mögliches Weiterhandeln mit Straffreiheit und erschöpft sich dabei seinem Wortsinn nach in der Forderung, ein bestimmtes äußerliches Verhalten zu erbringen. Für zusätzliche wertende Elemente ist bei diesem objektiven Merkmal des Rücktrittstatbestands kein Raum.”*
Nachdem Du in Deiner Klausur geklärt hast, ob ein Rücktritt noch möglich ist, grenzt Du den unbeendeten vom beendeten Versuch ab. Da A lediglich die weitere Ausführung der Tat aufgegeben hat, kommt ein strafbefreiender Rücktritt nur in Betracht, wenn es sich um einen unbeendeten Versuch handelt. Zur Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch führt der BGH (a.a.O.) folgendes aus:
„Für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Anforderungen an die Rücktrittsleistung des Täters kommt es darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont) Wenn der Täter nach seinem Kenntnisstand nach der letzten Ausführungshandlung in zutreffender Einschätzung der durch die Tathandlung verursachten Gefährdung des Opfers oder in Verkennung der tatsächlichen Ungeeignetheit seiner Handlung den Erfolgseintritt für möglich hält, ist der Versuch beendet; rechnet der Täter dagegen nach der letzten Ausführungshandlung nach seinem Kenntnisstand (noch) nicht mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges, und sei es auch nur in Verkennung der durch seine Handlung verursachten Gefährdung des Opfers, so ist der Versuch unbeendet, wenn die Vollendung aus der Sicht des Täters noch möglich ist.“
Da für A weder körperliche Auswirkungen noch ein größerer Blutverlust nach Ausführung des letzten Stiches bei N erkennbar waren, er zudem kurz darauf N an seinem Wagen aufrecht stehen sah, muss davon ausgegangen werden, dass er annahm, N nicht lebensgefährdend verletzt zu haben, mithin noch nicht alles zur Erfolgsherbeiführung Erforderliche getan zu haben. Nach Vorstellung des A, die allein maßgebend ist, lag damit ein unbeendeter Versuch vor, von dem er durch Aufgeben der Tat zurücktreten konnte.
„Schließlich war A durch nichts daran gehindert, seinen Angriff auf N fortzusetzen. Insbesondere hielt ihn auch nicht die Anwesenheit der sich passiv verhaltenen Lebensgefährtin des Nebenklägers von der Tatbegehung ab.“
Der Rücktritt erfolgte damit auch freiwillig.
Eine Strafbarkeit gem. §§ 211, 212, 22, 23 StGB kommt damit nicht in Betracht.
II. §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB
A hat sich aber wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht.
C. Prüfungsrelevanz
Versuch und Rücktritt gehören zu den Strafrecht-AT Basics, die Du sicher beherrschen solltest. Die „Denkzettel“ Fälle tauchen dabei regelmäßig in Klausuren auf. Anders als beim fehlgeschlagenen Versuch, bei dem aus Sicht des Täters eine Vollendung nicht mehr möglich ist – und bei dem ein Rücktritt ausgeschlossen ist – ist bei den „Denkzettel“ Fällen eine Vollendung sehr wohl möglich, aber für den Täter nicht mehr sinnvoll. Du kannst das Problem wie hier eingangs der Prüfung darstellen oder wie es teilweise in der Literatur gemacht wird, bei der Freiwilligkeit.
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