
BVerfG zur Tätigkeit des Bundestages nach seiner Auflösung
Art. 39 GG bestimmt:
(1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.
(2) Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen.
(3) Der Bundestag bestimmt den Schluss und den Wiederbeginn seiner Sitzungen. Der Präsident des Bundestages kann ihn früher einberufen. Er ist hierzu verpflichtet, wenn ein Drittel der Mitglieder, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler es verlangen.
Art 68 GG lautet auszugsweise:
(1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen.
A. Vereinfachter Sachverhalt
Der Bundeskanzler hat am 16.12.2024 im Bundestag auf die Vertrauensfrage nicht die erforderliche Mehrheit erhalten. Der Bundespräsident hat am 27.12.2024 den 20. Bundestag aufgelöst. Die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag fand am 23.02.2025 statt.
Am 04.03.2025 wurde bekannt, dass die Parteien CDU, CSU und SPD sich im Rahmen von Sondierungsgesprächen für eine künftige Regierungskoalition darauf geeinigt hatten, noch im „alten Bundestag“ über Änderungen des GG abzustimmen. Am 06.03.2025 wurde den Abgeordneten eine Formulierungshilfe für diese Grundgesetzänderungen mit Begründung im Gesamtumfang von 14 Seiten zugänglich gemacht. Ebenfalls am 06.03.2025 beriet der Ältestenrat des 20. Deutschen Bundestages über das Verfahren und den Zeitplan für die Sitzungen zur Änderungen des Grundgesetzes. Die parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion, welche zusammen 403 und damit mehr als 1/3 der Mitglieder des 20. Deutschen Bundestages umfassten, beantragten die Einberufung von zwei Sondersitzungen am 13. und 18.03.2025.
Die Bundestagspräsidentin teilte den Mitgliedern des 20. Deutschen Bundestages diese Einberufung unter Verweis auf das Verlangen der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU noch am selben Tag mit. Seit dem 10.03.2025 lag der mit der Formulierungshilfe weitgehend gleichlautende Gesetzentwurf dieser Fraktionen zur Änderung der Art. 109, 115 und 143h GG als Bundestagsdrucksache (BTDrucks 20/15096) vor. Oppositionsfraktionen und einige ihrer Abgeordneten hatten beantragt, die Sitzungen des „alten Bundestages“ abzusetzen.
Zudem fand am 10.03.2025 unter Leitung der Bundestagspräsidentin die Sitzung des „Vor-Ältestenrates“ des 21. Deutschen Bundestages zur Abstimmung seiner konstituierenden Sitzung statt, für die der Ältestenrat des 20. Deutschen Bundestages noch vor der BT-Wahl als Termin den 25.03.2025 vorgesehen hatte. Im Vor-Ältestenrat kam es nicht zu einem Einvernehmen zwischen den Fraktionen. Am 25.03.2025 trat der 21. Bundestag nach Einberufung durch die Bundestagspräsidentin unter Hinweis auf § 1 I GO-BT zur konstituierenden Sitzung zusammen.
Die Opposition und ihre Abgeordneten erstreben die Beantwortung der folgenden Fragen:
War die Einberufung der Sondersitzungen am 13. und 18.03.2025 zum 20. Deutschen Bundestag verfassungsgemäß, obwohl der Bundespräsident zuvor den Bundestag aufgelöst hatte und bereits Neuwahlen für den 21. Deutschen Bundestag stattgefunden hatten?
Mit welchen Verfahren können Fraktionen und Abgeordnete gerichtlich vorgehen?
B. Die Entscheidungen
Frage 1: Materielle Rechtslage
Nach Art. 39 I 2 GG endet die Wahlperiode des „alten“ Bundestages mit dem erstmaligen Zusammentritt eines neu gewählten Bundestages. Dies gilt auch bei vorzeitiger Auflösung des Bundestages nach Art. 68 I GG. Die Disposition über den Zusammentritt des neuen Bundestages und damit über das Ende der Wahlperiode liegt allein bei ihm.
1. Ende der Wahlperiode
Zu diesem Grundsatz (Art. 39 I 2 GG) und zur vorzeitigen Auflösung des Bundestages nach Art. 68 I GG führt das BVerfG aus (BVerfG, 13.03.2025, 2 BvE 5/25 Rn. 10):
„…..Nach Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG endet die Wahlperiode mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages. Damit wird sichergestellt, dass die Wahlperioden lückenlos aneinander anschließen und der Staat zu keinem Zeitpunkt ohne ein handlungsfähiges Parlament ist (vgl. Schliesky, in: Huber/Voßkuhle, GG, Bd. 2, 8. Aufl. 2024, Art. 39 Rn. 3; Groh, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 39 Rn. 13). Bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages, der nach Art. 39 Abs. 2 GG spätestens am 30. Tag nach der Wahl erfolgen muss, ist der alte Bundestag in seinen Handlungsmöglichkeiten nicht beschränkt (vgl. Kochsiek, Der Alt-Bundestag, 2002, S. 167 f.; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 39 Rn. 19; Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 39 Rn. 10 <Dez. 2024>).
Dies gilt auch bei einer Auflösung des Parlaments nach Art. 68 Abs. 1 GG (vgl. Groh, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 39 Rn. 12).“
2. Konsequenzen für den „alten“ Bundestag
Solange die Tätigkeitsperiode des „alten“ Bundestages nach Art. 39 I 2 GG noch andauert, ist er in seinen Kompetenzen nicht begrenzt.
BVerfG, 13.03.2025, 2 BvE 3/25 Rn. 14:
„Nach Art. 39 Abs. 3 Satz 2 GG kann die Bundestagspräsidentin … den alten Bundestag jederzeit einberufen. Dies gilt auch für eine Einberufung nach dem Wahltermin und innerhalb der 30-Tage-Frist des Art. 39 Abs. 2 GG (vgl. Groh, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 39 Rn. 47; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 39 Rn. 18). Beantragt ein Drittel der Mitglieder des Bundestages die Einberufung, ist die Präsidentin nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG hierzu verpflichtet. Eine politische Bewertung des Einberufungsverlangens steht ihr dabei nicht zu (vgl. Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 39 Rn. 27 <Dez. 2024>). …“
Deshalb ist es unerheblich, welche Fragen im alten Bundestag noch verhandelt werden sollen. Auch eine Verfassungsänderung kann somit Gegenstand der Bundestagssitzungen sein.
BVerfG, 13.03.2025, 2 BvE 2/25 Rn. 10:
„Insbesondere benötigt die Präsidentin des Deutschen Bundestages keine spezifischen Gründe, um eine Sitzung des Bundestages gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 2 GG einzuberufen (vgl. Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 39 Rn. 77 <Aug. 2024>; a.A. Schliesky, in: Huber/Voßkuhle, GG, Bd. 2, 8. Aufl. 2024, Art. 39 Rn. 41; Groh, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 39 Rn. 43). Denn die Abhaltung einer Sitzung liegt letztlich in der Entscheidung des Deutschen Bundestages im Rahmen seines Selbstversammlungsrechts. So muss die Präsidentin zu Beginn der nach Art. 39 Abs. 3 Satz 2 GG anberaumten Sitzung die Genehmigung des Bundestages einholen (vgl. Dicke, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. 2, 2002, Art. 39 Rn. 48) und der Bundestag kann die Sitzung auch direkt wieder vertagen (vgl. Schliesky, in: Huber/Voßkuhle, GG, Bd. 2, 8. Aufl. 2024, Art. 39 Rn. 41 m.w.N.).“
Da mehr als 1/3 der Mitglieder des 20. Deutschen Bundestages die Einberufung der Sitzungen gefordert hatten und der neue Bundestag noch nicht zusammengetreten war, waren die Voraussetzungen für die Einberufungen der Sondersitzungen am 13. und 18.03.2025 zum 20. Deutschen Bundestag erfüllt.
3. Schutz des neuen Bundestages
Durch diese Regelung und die Entscheidung der Bundestagspräsidentin wurde weder das Wählervotum noch der neue Bundestag in seiner Bedeutung berührt.
BVerfG, 13.03.2025, 2 BvE 3/25 Rn. 12 und 13:
Rn. 12 „Der neue Bundestag ist durch die Einberufung des alten Bundestages nicht an seiner Konstituierung gehindert. Umgekehrt beendet der Zusammentritt des neuen Bundestages gemäß Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG die Wahlperiode des alten Bundestages. Das Grundgesetz macht hierfür - abgesehen von der 30-Tage-Frist des Art. 39 Abs. 2 GG - keine Vorgaben. Allein der neue Bundestag entscheidet über seinen Zusammentritt (vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis, § 1 GO-BT, I f) <Sep. 2010>) und damit das Erlöschen der Rechte und Pflichten des alten Bundestages.
Rn. 13 Zwar entspricht es der parlamentarischen Übung und § 1 Abs. 1 GO-BT, dass die Präsidentin des alten Bundestages den neuen Bundestag einberuft. Insoweit stützt sie sich aber nicht auf das ihr vom alten Bundestag verliehene Amt. Ihr Handeln wird vielmehr als treuhänderische Ausübung des Selbstversammlungsrechts des neugewählten Bundestages angesehen (vgl. etwa Hölscheidt, in: Bonner Kommentar, Art. 39 Rn. 126 f. <Juli 2019>; Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 39 Rn. 46 <August 2024>: “ohne Auftrag als dessen Geschäftsführer handelnd”). Diesem steht es frei, auch auf anderem Wege zusammenzutreten (vgl. Hölscheidt, in: Bonner Kommentar, Art. 39 Rn. 127 <Juli 2019>; Payandeh, in: Schliesky/Morlok/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 7 Rn. 9).“
Die Bundestagspräsidentin hätte somit auch den neuen Bundestag einberufen können.
Es lag aber ein verpflichtendes Begehren lediglich des alten Bundestages vor, der noch handlungsfähig war, weil sich der neue Bundestag noch nicht konstituiert hatte. Bezogen auf die 1. Sitzung des neuen Bundestages hatte der Ältestenrat des 20. Deutschen Bundestages entsprechend der Parlamentstradition noch vor der BT-Wahl als Termin den 25.03.2025 vorgesehen.
Davon hätte der „Vor-Ältestenrat“ des 21. Deutschen Bundestages in seiner Sitzung vom 10.03.2025 abweichen können. Die Bundestagspräsidentin hätte dann in „treuhänderischer Ausübung des Selbstversammlungsrechts des neugewählten Bundestages“ die konstituierende Sitzung vorziehen können mit der Folge, dass der 20. Deutsche Bundestag nicht mehr hätte zusammenkommen können (Art. 39 I 2 GG). Da es im „Vor-Ältestenrat“ des 21. Deutschen Bundestages zu keiner Einigung gekommen ist, blieb es jedoch bei dem Termin vom 25.03.2025.
Ergebnis zu Frage 1 ist damit, dass vor dem 25.03.2025 der 20. Deutsche Bundestag in zwei Sondersitzungen am 13. und 18.03.2025 zusammentreten und dabei auch das Grundgesetz ändern konnte.
Frage 2: Prozessuale Rechtslage
Prozessuale Möglichkeiten ergeben sich aus der Organklage nach § 13 Nr. 5 i.V.m. §§ 63 ff BVerfGG bzw. aus darauf bezogenen einstweiligen Anordnungen (§ 32 BVerfGG).
Antragsgegner ist der Bundestag, Antragsteller können die Fraktionen des alten Bundestages und die Vorfraktionen des neuen Bundestages sein. Sie können die Rechte des alten/neuen Bundestages zumindest geltend machen. § 64 I BVerfGG (2. Alternative) sieht eine derartige Prozessstandschaft ausdrücklich vor.
Einzelne Abgeordnete scheiden hingegen als Antragsteller aus, da sie mangels verstetigter Unterorganstellung nicht wie Fraktionen die Rechte des Bundestages verfolgen können.
Einstweiligen Anordnungen in verfassungsprozessualen Streitigkeiten können allerdings nicht ergehen, wenn die Hauptsache offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Organstreitigkeiten einzelner Abgeordnete waren mangels Prozessstandschaft unzulässig, die von Fraktionen zumindest offensichtlich unbegründet (siehe oben).
BVerfG, 13.03.2025, 2 BvE 2/25 Rn. 8:
„Im Übrigen sind die Anträge jedenfalls offensichtlich unbegründet. Ungeachtet dessen, dass Abgeordnete bereits nicht befugt sind, in Prozessstandschaft für den Bundestag dessen Rechte geltend zu machen (vgl. BVerfGE 90, 286 <343f.>; 117, 359 <366 ff.>; 123, 267 <337>; 134, 141 <198 Rn. 172>; stRspr), können sich weder der Bundestag noch einzelne Abgeordnete auf ein verfassungsmäßiges Recht berufen, dass der Bundestag nicht zu Sitzungen zusammentritt.“
Ergebnis
Die Sitzungen des 20. Deutschen Bundestages am 13. und 18.03.2025 waren verfassungsrechtlich zulässig. Der vorläufige Rechtsschutz blieb ohne Erfolg, weil die Hauptsache offensichtlich unzulässig (Abgeordnete), zumindest offensichtlich unbegründet war (Fraktionen).
(BVerfG, Beschlüsse vom 13.03.2025, 2 BvE 2/25, BvE 3/25, 2 BvE 5/25)
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