Nach Vertrauensfrage: Mögliches Comeback des Organstreitverfahrens?

Nach Vertrauensfrage: Mögliches Comeback des Organstreitverfahrens?

Wiederholt sich die Geschichte nach Beantwortung der Vertrauensfrage?

Die Vertrauensfrage ist das dominierende Thema der Vorweihnachtszeit. Da kommt man nicht umhin, sich mit den Hintergründen und ihren möglichen juristischen Folgen zu beschäftigen.

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Hintergrund und Sachverhalt

Nach der verlorenen Abstimmung über die Vertrauensfrage kann der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen, Art. 68 I 1 GG. Im Anschluss bleiben Frank-Walter Steinmeier 21 Tage, um zu entscheiden, ob er dem Antrag entsprechen will. Der Bundespräsident kann dies tun, muss es aber nicht. Nach Art. 39 I 4 GG hängt an dem Zeitpunkt der Auflösung wiederum eine Frist: Innerhalb von 60 Tagen ab der Auflösung des Bundestages müssen Neuwahlen stattfinden. Um den Terminplan für die möglichen Neuwahlen am 23.04.2025 nicht zu gefährden, ist realistischerweise mit der Entscheidung des Bundespräsidenten also erst nach den Weihnachtsfeiertagen zu rechnen. Falls er sich, wie erwartet dazu entscheidet, den Bundestag aufzulösen, käme es mehr als ein halbes Jahr vor dem regulären Wahltermin, dem 28.09.2025, zu Neuwahlen. Die Abgeordneten des 20. Deutschen Bundestages verlören ihr Mandat folglich vorzeitig.

Genau an dieser Stelle, lediglich fünf Legislaturperioden früher, knüpfen die Organstreitverfahren (Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG) einer Abgeordneten aus den Reihen der SPD sowie eines Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an. Bevor Irritationen entstehen: Beide haben das Bundesverfassungsgericht nicht gemeinsam angerufen, die Verfahren wurden allerdings wegen der inhaltlich selben Fragestellung nach § 66 BVerfGG verbunden:

Wir schreiben das Jahr 2005. Gerhard Schröder (SPD) ist Bundeskanzler. Während er mit seiner ersten Vertrauensfrage im Jahr 2001 noch Erfolg hatte, forcierte er vier Jahre später bewusst die „Niederlage“, um vorgezogene Neuwahlen zu ermöglichen. Im Anschluss an die Hartz-IV-Reformen entflammten innerhalb der regierenden SPD nämlich verbitterte Streitigkeit um die Sinnhaftigkeit dieser Reform. Besonders die eher linksorientierten Mitglieder der SPD kritisierten das Reformpaket heftig. Nicht nur in der SPD, sondern auch innerhalb der Bevölkerung schieden sich die Geister am „Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, wie Schröders Novelle offiziell heißt. Tausende gingen auf die Straße, die SPD fuhr bei den Landtagswahlen eine Wahlschlappe nach der nächsten ein. Als die Sozialdemokraten auch im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen deutlich verloren hatten, zog Schröder die Reißleine. Nach der verlorenen Vertrauensfrage folgte der damalige Bundespräsident Horst Köhler dem Antrag und löste den Bundestag auf.

Schröder selbst gab zwar zu bedenken, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes seinen Plan so nicht intendiert hätten, man jedoch auch nicht davon ausgehen könne, dass ihm diese „die Möglichkeit einer Neuwahl hätten verwehren wollen, wenn die Lage dies gebiete“.

Wegen eben jener verfassungsrechtlichen Zweifel an Schröders Vorgehen, das als sog. unechte Vertrauensfrage bezeichnet wird, kam es zu dem Organstreitverfahren. Die beiden Abgeordneten sahen sich in ihrem Status als Abgeordnete nach Art. 38 I 2 GG i.V.m. Art. 38 I 1 GG verletzt. Der Antragsteller aus den Reihen des Bündnis 90/Die Grünen bezeichnete die „fingierte Vertrauensfrage“ von Schröder schließlich nicht nur als „Tiefpunkt der demokratischen Kultur“, sondern als „würdelosen Abgang“.

Entscheidung des BVerfG

Das BVerfG hat mit Urteil vom 25.8.2005 (Az. 2 BvE 4/05, 2 BvE 7/05) die Anträge zurückgewiesen. Nachdem das Gericht die Zulässigkeit kurz (auf weniger als zwei Seiten der Entscheidung – Stichwort: Schwerpunktsetzung) geprüft hat, formulierte das Gericht zunächst den Prüfungsmaßstab aus Art. 38 I 2 GG i.V.m. Art. 39 I 1 GG und Art. 68 GG. Die Auflösung des Bundestages vor dem regulären Ablauf der Wahlperiode greife in den Status der für die Dauer von vier Jahren gewählten Abgeordneten ein.

Der Eingriff könne nur gerechtfertigt sein, wenn das Grundgesetz dies erlaube. Dazu müsste die Auflösung des Bundestages nicht nur den formellen Anforderungen genügen, sondern auch dem Zweck des Art. 68 GG entsprechen. Dieser läge darin, eine handlungsfähige Regierung zu erhalten, die wiederum vorläge, wenn der Bundeskanzler eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten hinter sich wisse. Fehle es an einer solchen Mehrheit, ermögliche das Grundgesetz zwar auch, das Land anhand einer Minderheitsregierung zu führen. In erster Linie biete unsere Verfassung jedoch mit der Vertrauensfrage einen Ausweg, der auf die Wiederherstellung von Mehrheitsverhältnissen ausgerichtet sei. Damit sei der Eingriff in die Statusrechte der Abgeordneten (Art. 38 I 2, 39 I 1 GG) durch Art. 68 GG gerechtfertigt, wenn der Bundeskanzler die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in Hinblick auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament berechtigterweise als beeinträchtigt ansieht. Hierzu reicht es, dass die Einschätzung des Kanzlers aufgrund der allgemeinen politischen Lage sowie der individuellen Umstände als plausibel anzusehen sei. Andersrum formuliert, würde der Einschätzungsspielraum des Kanzlers nur dann auf dem verfassungsrechtlich geforderten Niveau geachtet, „wenn bei der Rechtsprüfung gefragt werde, ob eine andere Einschätzung der politischen Lage auf Grund von Tatsachen eindeutig vorzuziehen sei.“

Nach Ansicht des Gerichts ließe sich aus den Geschehnissen rund um die Hartz-IV-Reform plausibel ablesen, dass der Kanzler die Vertrauensfrage nicht zweckwidrig gebrauche, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages zu gelangen. Schröder sprach im Zusammenhang mit der Reform von „heftigen Debatten“ und herben Stimmverlusten bei sämtlichen Landtagswahlen und der Europawahl. Damit stehe der Einschätzung des Kanzlers, er könne künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, keine andere Einschätzung gegenüber, die eindeutig vorzuziehen sei. Dass er die vorgezogenen Neuwahlen mit der Vertrauensfrage bewusst herbeiführe, weil er „sich ein neues Mandat für seine Politik vom Wähler verschaffen wollen würde“, widerlege dies nicht. Dies sei eher als rhetorische Floskel einzustufen und wäre selbst als weiteres Motiv des Kanzlers für die Verfassungsmäßigkeit seiner Entscheidung nicht schädlich.

Das BVerfG hebt zudem das Zusammenwirken der drei Verfassungsorgane (Bundeskanzler, Parlament und Bundespräsident) als angemessene Teilung der Verantwortung hervor. Dadurch, dass die Auflösung des Bundestages nach verlorener Vertrauensfrage nicht allein von einem Verfassungsorgan durchgeführt werden kann, ist dies nach Art. 68 GG nicht gegen den Willen der drei genannten Verfassungsorgane möglich. Jedes Organ müsse im Rahmen der Verantwortungskette seinen Beitrag zur Auflösung leisten.

So müsse auch der Bundespräsident die Auflösungsanordnung nach Art. 68 GG als eine politische Leitentscheidung in eigener Verantwortung mit pflichtgemäßem Ermessen ausgeübt haben, wobei ihm allein eine Evidenzkontrolle möglich sei. Das Organstreitverfahren hätte Erfolg, wenn die Tatbestandserfordernisse des Art. 68 GG nicht erfüllt wären, wodurch die Auflösung des Deutschen Bundestages als verfassungswidrig einzustufen wäre.

Bei der Prüfung bleibt dem BVerfG jedoch nur die zweckgerechte Anwendung des Art. 68 GG in einem eingeschränkten Umfang zu überprüfen, weil es den anderen Verfassungsorganen den grundgesetzlich garantierten Raum zur freien politischen Gestaltung und Verantwortung offenhalten müsse.

Jedenfalls in Bezug auf das Ende von Schröders Regierungsauftrags sollte der Antragssteller recht behalten, da der große Wurf in Form von stabilen Mehrheitsverhältnissen zugunsten der SPD bekanntlich ausblieb: Die rot-grüne Koalition war abgewählt, der Ära Merkel wurde der Weg geebnet.

Besonders interessant an der Entscheidung ist, dass sie zwei Sondervoten enthält, in der die Richterin Lübbe-Wolff und der Richter Jentsch jeweils ihre eigenen rechtlichen Einschätzungen detailliert schildern. Während der Richter Jentsch zu dem Ergebnis kommt, die Anträge seien begründet, da das Grundgesetz allein das konstruktive und kein „konstruiertes“ Misstrauensvotum kenne, ist die Richterin Lübbe-Wolf davon überzeugt, dass das BVerfG den Art. 68 GG inhaltlich nicht sinngemäß auslegen würde und der Beantwortung der Vertrauensfrage ihres „adressatenabhängigen Sinnes“ berauben würde. Schließlich habe zunächst der Bundespräsident nach vorgenannter Auslegung die Möglichkeit, auch bei einer gescheiterten Vertrauensfrage eine Auflösung des Bundestages zu unterlassen.

Denn „die Vertrauensfrage, wie die Frage vor dem Traualtar,“ sei „keine Wissensfrage, auf die ebenso gut wie der Gefragte“ (gemeint ist damit das Parlament selbst) „ein Anderer“ (also der Bundespräsident oder das im Streitfall zuständige BVerfG) „antworten könne“.

Fazit

Es ist eher nicht damit zu rechnen, dass sich die Geschichte an dieser Stelle wiederholt. Die Erkenntnisse aus dem Organstreitverfahren sind schließlich eindeutig: Sogar bei einer unechten Vertrauensfrage, für die im Jahr 2024 nichts spricht, sind die Anforderungen an eine Rechtswidrigkeit der Auflösung des Bundestages äußerst hoch.

Auch wenn es sehr unwahrscheinlich erscheint: Man weiß ja nie, ob nicht doch jemand unter den Abgeordneten und Abgeordnetinnen die gerichtliche Überprüfung anstrebt. Insbesondere nach den symbolischen Ja-Stimmen aus Reihen der blauen Oppositionspartei bei der Vertrauensfrage (zugunsten des aktuellen Kanzlers und als Kritik an dem möglicherweise nächsten Kanzler) ist diese Entwicklung zumindest denkbar.

Was allerdings so sicher ist wie das Amen in der Kirche: Unruhige Zeiten bilden eine Steilvorlage für Prüfungsämter. Nur zu gern werden Entscheidungen in Klausursachverhalten verarbeitet, aber besonders auch in der mündlichen Prüfung muss man auf entsprechende Fragen zu aktuellen Geschehnissen (inklusiver kreativer Abwandlungen) gefasst sein. So handelt es sich nicht nur für diejenigen, die sich demnächst vor einer Prüfungskommission zu behaupten haben, um den richtigen Zeitpunkt, sich mit diesem Klassiker vertraut zu machen. Spätestens an den Feiertagen bei einem Wiedersehen mit Familie, Freunden oder alten Bekannten dürfte der Satz fallen: „Sag mal, Du studierst doch Jura. Ich hab da mal ne Frage…“.

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