In welchem Umfang besteht eine Verkehrssicherungspflicht für einen Gartenteich in einer in offener Bauweise gestalteten und allgemein zugänglichen Gemeinschaftsanlage?
Sofern die im Einzelfall konkret zu bestimmende Verkehrssicherungspflicht für einen Gartenteich von dem Eigentümer und Vermieter verletzt wurde, stellt sich bei schwerster Verletzung eines Kleinkindes von 2 Jahren und 1 Monat aufgrund eines Sturzes in den Teich die Frage, ob und wie hoch seine Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines etwaigen Mitverschuldens seiner Eltern herabzusetzen sind.
A. Sachverhalt
Der Kläger K wohnte mit seinen Eltern in einer Erdgeschosswohnung, einer Wohnanlage der Beklagten B – der Vermieterin und Eigentümerin. Die Wohnanlage war in offener Bauweise gestaltet mit allgemein zugänglichen Gemeinschaftsanlagen. Dazu gehörte auch ein Gartenteich, welcher von den Häusern frei zugänglich war. In den Mietverträgen wurden die Mieter darauf hingewiesen, dass die Teichanlage nicht betreten werden darf. Als K 2 Jahre und 1 Monat alt war, ließen die Eltern ihn für 5 Minuten unbeaufsichtigt. K entfernte sich – er war zuvor schon mehrfach weggelaufen– von der Terrasse und fiel kopfüber in den Gartenteich. Er wurde reanimiert und ist seitdem zu 100 % - körperlich und geistig - schwerbehindert. 1 Jahr vor dem Unfallereignis war das Kleinkind eines anderen Mieters in den Teich gefallen, woraufhin dieser Mieter einen Zaun um die Anlage errichtet hat. Auf Veranlassung von B musste der Zaun jedoch wieder entfernt werden.
K verlangt von B die Zahlung von Schmerzensgeld und begehrt die Feststellung der Ersatzpflicht zukünftiger materieller und immaterieller Schäden.
B. Entscheidung
K macht insofern Schmerzensgeld geltend sowie die Feststellung der Ersatzpflicht zukünftiger materieller und immaterieller Schäden.
Deliktische Ansprüche
In Betracht kommen nur deliktische Ansprüche.
I. Schmerzensgeld, §§ 823 I, 253 II BGB
K könnte gegen B einen Anspruch auf Schmerzensgeld gem. §§ 823 I, 253 II BGB haben.
Grundsätzlich kann nur ein Vermögensschaden geltend gemacht werden. Wegen eines Nichtvermögensschadens kann nach § 253 I BGB eine Entschädigung in Geld nur in durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden (z.B. bei nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit nach § 651n II BGB). Nach § 253 II BGB kann, sofern wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten ist, auch wegen eines Nichtvermögensschadens eine billige Entschädigung in Geld (= Schmerzensgeld) gefordert werden. Voraussetzung für die Geltendmachung von Schmerzensgeld ist also zunächst das Bestehen eines entsprechenden Schadensersatzanspruchs.
Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 I BGB setzt voraus:
Rechtsgutsverletzung
Handlung
haftungsbegründende Kausalität
Rechtswidrigkeit
Verschulden
Schaden
haftungsausfüllende Kausalität
gegebenenfalls Mitverschulden, § 254 BGB.
1. Rechtsgutsverletzung
Rechtsgüter im Sinne des § 823 I BGB sind Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder sonstige Rechte. Die Begriffe Körper- und Gesundheitsverletzung lassen sich nur schwer voneinander abgrenzen. In der Regel bezieht sich die Körperverletzung stärker auf äußere Einwirkungen und die Gesundheitsverletzung eher auf die Beeinträchtigung von inneren körperlichen Funktionen. K ist zu 100 % körperlich und geistig schwerbehindert. Bei ihm liegt sowohl eine Körper- als auch eine Gesundheitsverletzung vor.
2. Handlung
Ferner bedarf es einer entsprechenden Handlung durch B. Unter einer Handlung ist ein bewusstes und willentlich beherrschbares Verhalten eines Menschen zu verstehen. Eine Handlung im Sinne der Norm kann aber nicht nur in einem aktiven Tun, sondern ebenso in einem Unterlassen bestehen. Das ist der Fall bei der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten.
Nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen muss derjenige, der eine Gefahrenquelle schafft oder andauern lässt, alle nach Lage der Verhältnisse notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern …. Unterlässt der Verkehrssicherungspflichtige dies und wird der Dritte dadurch in seinen durch § 823 I BGB geschützten Rechtsgütern verletzt, kann er wegen der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht schadensersatzpflichtig werden. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann; eine absolute Sicherheit kann und muss nicht gewährleistet werden. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger und umsichtiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren und die ihn den Umständen nach zumutbar sind ….Danach bestehen Verkehrspflichten immer nur im Rahmen der dem Sicherungspflichtigen in der konkreten Handlungssituation ex ante zur Verfügung stehenden faktischen und rechtlichen Handlungsmöglichkeiten …. Dies gilt grundsätzlich auch für den Schutz von Kindern. Dabei ist bei ihnen in besonderem Maße auf diejenigen Gefahren Bedacht zu nehmen, die ihnen aufgrund ihrer Unerfahrenheit, ihres Leichtsinns und Spieltriebes drohen. Daher muss jeder Grundstückseigentümer grundsätzlich wirksame und auf Dauer angelegte Schutzmaßnahmen ergreifen, um Kinder vor Unfällen als Folge ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit zu schützen, wenn ihm bekannt ist oder bekannt sein muss, dass Kinder sein Grundstück - befugt oder unbefugt - zum Spielen benutzen und die Gefahr besteht, dass sie sich dort an gefährlichen Gegenständen zu schaffen machen und dabei Schaden erleiden können.
Aufgrund der offenen Bauweise traf B eine gesteigerte Pflicht, alle Bewohner vor Gefahren zu schützen, die aus der Teichanlage resultierten. Zwar kann sich auch ein Verkehrssicherungspflichtiger grundsätzlich darauf verlassen, dass die Eltern ihre Kinder sorgfältig beaufsichtigen. Bei konkreten Anhaltspunkten für Aufsichtsversäumnisse der Eltern ist dann auch diesen Gefahren zu begegnen. Solche konkreten Anhaltspunkte ergeben sich schon aus der uneingezäunten Teichanlage.
Schon dies hätte sie dazu bewegen müssen, Sicherungsvorkehrungen zu treffen, die den gesamten Teich betrafen und sich nicht nur auf eine teilweise Einzäunung beschränken dürfen. Jedenfalls aber war sie dazu verpflichtet, nachdem sie Kenntnis davon erlangt hat, dass es bereits an genau der Stelle, an der auch der Kläger in den Teich gefallen ist, bereits im Jahr 2013 einen ähnlichen Unfall gegeben hat und ein Kleinkind dort fast ertrunken wäre.
Damit bestand für B eine entsprechende Verkehrssicherungspflicht. Diese hat sie verletzt, indem sie keine Sicherheitsvorkehrungen wie die Errichtung eines ausreichend hohen und stabilen Zaunes getroffen hat. Sie konnte ihre Verkehrssicherungspflicht auch nicht durch die Hinweise in den Mietverträgen, dass die Teichanlage nicht betreten werden darf, auf die Mieter abwälzen.
Die Verkehrssicherungspflicht für die mit dem ungesicherten Teich bestehende Gefahrenquelle konnte sie schon deshalb nicht auf ihre Mieter abwälzen, weil sie selbst die Entscheidung getroffen hat, diese Gefahrenquelle ungesichert zu belassen.
3. Haftungsbegründende Kausalität
Die haftungsbegründende Kausalität ist die Kausalität zwischen der Rechtsgutsverletzung und der Handlung. Diese ist gegeben, wenn die Handlung nicht hinweggedacht – beziehungsweise wie hier bei einem Unterlassen nicht hinzugedacht – werden kann, ohne dass der konkrete Erfolg entfiele (Äquivalenztheorie in der Form der conditio sine qua non Formel). Hätte B zuvor einen entsprechenden Zaun errichtet, wäre es nicht zu der Rechtsgutsverletzung gekommen. Ferner ist die Kausalität im Sinne der Adäquanztheorie gegeben, wonach die Möglichkeit des Schadenseintritts nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung liegen darf, wobei eine objektiv nachträgliche Prognose vorgenommen wird. Zudem ist sie auch nach der Lehre vom Schutzzweck der Norm erfasst. Danach kommt eine Haftung nur in Betracht, wenn die verletzte Norm insbesondere die Verhinderung des eingetretenen Erfolges erfasst.
4. Rechtswidrigkeit
Die Rechtswidrigkeit – also ein widerrechtliches Verhalten – ist gegeben, sofern keine Rechtfertigungsgründe eingreifen. Dabei indiziert die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit.
5. Verschulden
Zudem müsste das Verhalten auch schuldhaft gewesen sein. Der Schuldner hat nach § 276 I 1 BGB Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Anhaltspunkte für ein vorsätzliches Verhalten waren nicht ersichtlich. B könnte jedoch fahrlässig gehandelt haben. Fahrlässig handelt nach § 276 II BGB, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Dabei ist nicht auf die individuellen Fähigkeiten abzustellen. B hätte erkennen müssen, dass der Gartenteich zum Schutz für kleine Kinder einzuzäunen gewesen wäre. Insofern ist das Verhalten von B fahrlässig gewesen.
6. Schaden
Ferner müsste K ein Schaden, also ein unfreiwilliges Vermögensopfer, entstanden sein. Im Rahmen der von § 249 I BGB vorausgesetzten Differenzhypothese (= Differenz zwischen realer und hypothetischer Vermögenslage) kann K den Differenzschaden als Schadensersatz verlangen.
7. Haftungsausfüllende Kausalität
Schließlich ist auch die haftungsausfüllende Kausalität, also die Kausalität zwischen der Rechtsgutsverletzung und dem Schaden, gegeben.
8. Gegebenenfalls Mitverschulden, § 254 BGB
Gegebenenfalls muss sich der Geschädigte nach § 254 BGB ein Mitverschulden seiner Eltern anrechnen lassen. Es handelt sich um ein „Verschulden gegen sich selbst“ und stellt insofern eine Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben dar.
Der Kläger muss sich das Mitverschulden seiner aufsichtspflichtigen Eltern zurechnen lassen.
Die Eltern des Klägers haben, auch unter Berücksichtigung des Haftungsmaßstabes des § 1664 BGB, die ihnen ihrem Kind gegenüber obliegende Aufsichtspflicht (§ 1631 I BGB) verletzt.
Der Umfang der gebotenen Aufsicht über Minderjährige bestimmt sich nach deren Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen danach richtet, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müssen, um Schädigungen zu verhindern (vgl.BGH, Urteil vom 19.01.2021 – VI ZR 210/18). Bei der Festlegung der Anforderungen, die an Aufsichtspflichtige zu stellen sind, ist zu berücksichtigen, dass Kleinkinder wie der zum Unfallzeitpunkt zwei Jahre alte Kläger der ständigen Aufsicht bedürfen. Aufgrund ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit sind gerade Kleinkinder nicht in der Lage, die in ihrer Umgebung befindlichen Gefahren zu erkennen oder zu beherrschen. Um dem zu begegnen, sind Aufsichtspflichtige gehalten, Kleinkinder umfassend zu beaufsichtigen, d.h. sie auch nicht für kurze Zeit unbeaufsichtigt zu lassen. Es muss sichergestellt sein, dass sie stets die Möglichkeit haben, Gefahrensituationen in kürzester Zeit zu erkennen und dementsprechend einzugreifen.
Dem sind die Eltern nicht nachgekommen,
indem sie ihn nach den bindenden Feststellungen des Landgerichts draußen jedenfalls für 5 Minuten ohne Aufsicht haben spielen lassen, obwohl sie wussten, dass er sich von der Terrasse ihrer Wohnung frei wegbewegen konnte und dies zuvor auch schon getan hat.
Das OLG hat ein überwiegendes Mitverschulden der Eltern i.H.v. 70 % angenommen und den Mitverursachungsbeitrag von B mit 30 % bemessen. Der Höhe nach ist es von einem Schmerzensgeldbetrag von 250.000 Euro ausgegangen und dementsprechend bei 30 % von einem Schmerzensgeld i.H.v. 75.000 Euro.
Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers …. Die Funktion des Schmerzensgeldes besteht nach ständiger Rechtsprechung darin, dem Verletzten einen Ausgleich für die erlittenen immateriellen Schäden und ferner Genugtuung für das ihm zugefügte Leid zu geben …
Des Weiteren wurde eine monatliche Schmerzensgeldrente von 300 Euro zugesprochen.
In dem Ausnahmefall eines schweren körperlichen Dauerschadens kann neben einem Schmerzensgeldkapitalbetrag zusätzlich eine Schmerzensgeldrente zuerkannt werden, wenn schwere lebenslange Beeinträchtigungen entstehen und sich der Geschädigte der schweren Beschränkungen seiner Lebenssphäre ständig neu bewusst wird.
Ergebnis
K hat gegen B einen Anspruch auf Schmerzensgeld gem. §§ 823 I, 253 II BGB i.H.v. 75.000 Euro und einer monatlichen Schmerzensgeldrente von 300 Euro.
II. Feststellung Ersatzpflicht zukünftiger materieller und immaterieller Schäden
Zudem wurde eine Ersatzpflicht von 30 % zukünftiger materieller und immaterieller Schäden festgestellt.
Der Feststellungsantrag ist gemäß § 256 I ZPO zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm 30 % der zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen. Es ist aufgrund der Schwere der Unfallfolgen nicht unwahrscheinlich, dass noch weitere Schäden eintreten können.
C. Prüfungsrelevanz
Das Deliktsrecht mit dem Schwerpunkt auf der Prüfung Verkehrssicherungspflichtverletzung ist regelmäßig Prüfungsgegenstand. In der vorliegenden Entscheidung ging es dabei um Schmerzensgeld und die Berücksichtigung eines etwaigen Mitverschuldens seiner Eltern.
Die Entscheidung ist sehr prüfungsrelevant, da sie die Möglichkeit bietet, Ansprüche auf Schmerzensgeld nach § 253 II BGB und somit auch Schadensersatzansprüche aus dem Deliktsrecht nach § 823 I BGB zu prüfen und sich dabei intensiv mit Verkehrssicherungspflichten und Mitverschulden nach § 254 BGB auseinanderzusetzen.
(OLG Brandenburg Urt. v. 30.01.2024 – 3 U 30/22)
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