Nach der „Basis-Definition“ liegt das Mordmerkmal der Heimtücke gem. § 211 StGB immer dann vor, wenn der Täter die Arg- und darauf beruhende Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Auf welchen Zeitpunkt muss aber abgestellt werden, wenn das Geschehen aus 2 Akten besteht? Und sind beim Ausnutzungsbewusstsein die Alkoholisierung und affektive Erregung des Täters zu beachten? Mit diesen Fragen hat sich der BGH ausführlich befasst.
A. Sachverhalt
Die Ehe zwischen A und seiner Ehefrau H war mit der Coronapandemie in eine schwere Krise geraten, infolge derer es auch zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten kam. Schließlich nahm H eine intime Beziehung zu einem Nachbarn auf, wovon A wenige Tage vor der Tat Kenntnis erlangte. Da A drohte, H zu töten, zog diese zum Nachbarn. Am Tattag rief der erheblich alkoholisierte A dort an, um seine Ehefrau zu sprechen. Im Laufe des Telefonats wurde ein Treffen in der Wohnung der Eheleute vereinbart. Zu diesem Zeitpunkt entschloss sich der über die außereheliche Beziehung verärgerte und stark gekränkte A, die H zu töten. Er lauerte ihr mit einem Küchenmesser unbekannter Größe in der Hand hinter der Haustüre auf. Als H die Wohnung betrat, stach er unvermittelt auf sie ein. Mit diesem Angriff hatte H zu diesem Zeitpunkt nicht gerechnet. Er fügte H Verletzungen im Hals- und Rumpfbereich zu, wobei das Landgericht in seinem Urteil keine belegbaren Feststellungen dazu getroffen hatte, ob bereits diese Verletzungen tödlich waren. Aus ungeklärten Gründen unterbrach A seinen Angriff, verließ das Wohnhaus über den Hintereingang und versteckte das Küchenmesser. Kurze Zeit später kehrte er dann zurück, ergriff ein neues Messer mit einer 18 Zentimeter langen Klinge und stach erneut auf die am Boden liegende H ein. Insgesamt fügte er ihr 36 Schnitt- und Stichverletzungen zu, an denen sie binnen kurzer Zeit verstarb. Anschließend verständigte A die Polizei.
Das Landgericht Bielefeld verurteilte A wegen Heimtückemordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
B. Entscheidung
Der BGH (Beschl. v. 18.01.2024 – 4 StR 253/23) kam zu dem Ergebnis, dass die lückenhaften Feststellungen des Landgerichts die Verurteilung wegen Heimtückemordes nicht tragen und hob das Urteil auf.
Die Besonderheit des vorliegenden Falles besteht in dem 2-aktigen Geschehen. Grundsätzlich ist es bei mehraktigen Geschehen möglich, diese zu einer natürlichen Handlungseinheit zusammenzufassen. Zu den Voraussetzungen hat der BGH Folgendes ausgeführt:
„Handelt es sich um ein mehraktiges Tatgeschehen, bei welchem dem Tatopfer die todesursächliche Verletzungsfolge nicht mit dem ersten Angriff, sondern durch einen späteren Teilakt beigebracht wird, kommt es grundsätzlich darauf an, ob das Gesamtgeschehen als eine natürliche Handlungseinheit zu bewerten ist und deshalb eine Tat im Rechtssinne vorliegt. Dies ist der Fall, wenn zwischen einer Mehrheit gleichgearteter, strafrechtlich erheblicher Betätigungen ein derart unmittelbarer Zusammenhang besteht, dass das gesamte Handeln des Täters objektiv auch für einen Dritten als ein einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint und die einzelnen Betätigungsakte durch ein gemeinsames subjektives Element miteinander verbunden sind.“
Sofern also A in dem Zeitpunkt, zu welchem er die Wohnung verließ, noch den Vorsatz hatte, H zu töten und entsprechend diesem Vorsatz dann kurze Zeit später die Tat weiter ausführte, würde der Vorsatz als verbindendes subjektives Element die beiden Teilakte zu einer natürlichen Handlungseinheit zusammenführen. Du würdest dies in deiner Klausur dadurch deutlich machen, dass du in den Obersatz beide Teilakte aufnehmen würdest, indem du folgende Formulierung wählen würdest: „A könnte sich wegen Mord gem. §§ 211, 212 StGB strafbar gemacht haben, indem er H die ersten Stiche in den Hals- und Rumpfbereich zufügte und dann nach seiner Rückkehr mit einem anderen Messer weiter auf H einstach und ihr insgesamt 36 Verletzungen zufügte.“
Es könnte dann ein vollendeter Heimtückemord gem. §§ 211, 212 StGB vorliegen, da H beim Betreten nicht mit einem Angriff auf ihr Leben rechnete, mithin also arg- und infolgedessen auch wehrlos war.
Denkbar ist im vorliegenden Fall aber auch, dass A nach dem Zufügen der ersten Verletzungen im Hals- und Rumpfbereich davon ausging, er habe noch nicht alles Erforderliche zur Herbeiführung des Erfolges getan und von seinem Vorsatz, H zu töten, Abstand nahm. Es läge dann ein unbeendeter versuchter Heimtückemord gem. §§ 211, 212, 22, 23 StGB vor, von dem A aber gem. § 24 I StGB strafbefreiend zurückgetreten sein könnte. Übrig bliebe dann die gefährliche Körperverletzung gem. §§ 223, 224 I Nr. 2 und 5 StGB. Das erneute Einstechen könnte dann auf einem erneut gefassten Vorsatz beruhen, sodass A nur noch wegen Totschlag gem. § 212 StGB verurteilt werden könnte, da H zu diesem Zeitpunkt nicht mehr arglos war. Eine heimtückische Tötung käme damit nicht in Betracht.
Wie Du an den beiden unterschiedlichen Lösungen erkennen kannst, hätte das Landgericht also ausführliche Feststellungen zu inneren Tatseite des A treffen müssen, was tatsächlich aber unterblieben ist. Der Umstand, dass A die Wohnung verließ und das Messer versteckte, könnte ein Anhaltspunkt für das Aufgeben der weiteren Tatausführung sein. Ob er strafbefreiend zurückgetreten ist oder nicht, würde sich aber nach seiner Vorstellung richten. Glaubte er, H bereits lebensgefährlich verletzt zu haben, dann müsste er den Eintritt des Erfolges verhindert haben, was aber nicht geschehen ist.
Zu berücksichtigen war im vorliegenden Fall ferner, das A mit 2,7 Promille erheblich alkoholisiert war. Diese Alkoholisierung führte bei dem trinkgewohnten A zwar nicht zur Schuldunfähigkeit, war aber von Bedeutung zur Bestimmung der inneren Tatseite vor allem auch zur Bestimmung des Ausnutzungsbewusstseins.
Wie wir bereits bei der „Basis-Definition“ gesehen haben, muss der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zur Tatbegehung ausnutzen. Zu diesem Ausnutzungsbewusstsein führt der BGH (a.a.O.) Folgendes aus:
„In subjektiver Hinsicht setzt das Mordmerkmal der Heimtücke gemäß § 211 Abs. 2 StGB voraus, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. …. Das Ausnutzungsbewusstsein kann im Einzelfall bereits aus dem objektiven Bild des Tatgeschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt. … Das gilt in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter selbst dann, wenn er die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat. … An einem Ausnutzungsbewusstsein kann es aber bei affektiven Durchbrüchen oder heftigen Gemütsbewegungen ebenso fehlen wie bei einem zur Tatzeit erheblich alkoholisierten Täter.“
Zwar spricht der Umstand, dass A mit dem Messer in der Hand hinter der Türe auf H wartete dafür, dass er das geforderte Ausnutzungsbewusstsein besaß. Auf der anderen Seite sind die besonderen persönlichen Umstände des A zu berücksichtigen. Der BGH führt dazu Folgendes aus:
„Gemessen hieran ist das heimtückespezifische Ausnutzungsbewusstsein nicht tragfähig belegt. Es fehlt an der erforderlichen Erörterung der für und gegen das Ausnutzungsbewusstsein sprechenden Beweisanzeichen. Es lag unter den gegebenen Umständen auch nicht ohne Weiteres auf der Hand. Denn der Angeklagte war zum Tatzeitpunkt mit einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 2,7 Promille erheblich alkoholisiert. Trotz festgestellter Trinkgewöhnung und des Umstands, dass er von einer leicht verwaschenen Sprache und einem unsicheren Gangbild abgesehen keine Ausfallerscheinungen zeigte, hätte dies angesichts des nach den Feststellungen womöglich spontan gefassten Tatentschlusses näherer Erörterung bedurft.
Weiterhin hätte die psychische Verfassung des Angeklagten zur Tatzeit in den Blick genommen werden müssen. Die im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung niedergelegte tatgerichtliche Wertung, es fehle gänzlich an affektiven Auffälligkeiten, ist beweiswürdigend nicht belegt und versteht sich unter Berücksichtigung der Feststellungen zur Tatvorgeschichte nicht von selbst. Danach war das Verhältnis des Angeklagten zu seiner Ehefrau seit geraumer Zeit ambivalent, von Affektanspannungen begleitet und hatte sich durch die tatzeitnah bekannt gewordene außereheliche Beziehung weiter verschlechtert. Auch die Art der Tatausführung („Übertötung“), die im Rahmen der Schuldschwereprüfung schulderhöhend berücksichtigt worden ist, hätte zu einer näheren Erörterung der Frage des Ausnutzungsbewusstseins drängen müssen. Hieran fehlt es.“
Der BGH hat die Sache zur erneuten Verhandlung an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen. Sollte diese keine überzeugenden Feststellungen zur inneren Tatseite des A treffen können, dann könnte A nach dem Grundsatz “in dubio pro reo“ nur wegen Totschlag gem. § 212 StGB verurteilt werden.
C. Prüfungsrelevanz
In einer Klausur im ersten Examen wirst Du Hinweise für die erste oder zweite Fallvariante im Sachverhalt finden. Denke bei mehraktigen Geschehen immer an die natürliche Handlungseinheit und die entsprechenden Voraussetzungen. Gibt es eine deutliche Zäsur, dann spricht diese gegen die natürliche Handlungseinheit.
Die natürliche Handlungseinheit wird bei einem mehraktigen Geschehen auch beim Rücktritt relevant. Lässt der Täter vom Opfer nach dem letzten Akt ab, dann ist mit der Gesamtbetrachtungslehre auf den letztmöglichen Zeitpunkt abzustellen. Die Einzelbetrachtungslehre stellt auf jeden einzelnen Akt ab und kommt häufig zu einem nicht rücktrittsfähigen, fehlgeschlagenen Versuch.
(BGH, Beschl. v. 18.01.2024 – 4 StR 253/23)
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