BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Die Grundzüge des Verfahrensrechts müssen (auch) in der Anwaltschaft sitzen

Mögen die Argumente in der Sache noch so bestechend sein, wer gerichtliche Fristen endgültig versäumt, wird seinen Prozess verlieren. Das lernt man spätestens im Referendariat. Der ein oder andere wird allerdings auch in der beruflichen Praxis schmerzlich daran erinnert. Nicht nur die Rechtsanwältin, die kürzlich vor dem BGH (Beschl. vom 06.03.2024, Az. XII ZB 408/23) kämpfte, um einen Fristenfauxpas geradezurücken, wird aus diesem Beschluss hoffentlich ihre Lehren für die Zukunft ziehen.

Sachverhalt

Inhaltlich ging es im zugrunde liegenden Beschluss des AG Alzey um eine Familiensache. Die Ehe der Beteiligten wurde geschieden, der Versorgungsausgleich durchgeführt und der Antragsteller zur Zahlung von nachehelichem Unterhalt sowie Zugewinnausgleich an die Antragsgegnerin verpflichtet. Viel interessanter sind im Folgenden jedoch die Zeitangaben (die Anfertigung eines Zeitstrahls ist angeraten): Der am 04.04.2023 verkündete Beschluss wurde der Rechtsanwältin des späteren Antragstellers in beglaubigter Abschrift am 06.04.2023 zugestellt, wobei die Abschrift versehentlich mit einem umfassenden Rechtskraftvermerk versehen war, obwohl allein der Scheidungsausspruch als Ziff. 1 der Beschlussformel laut Original rechtskräftig sein sollte. Die Anwältin bestätigte den Zugang per Empfangsbekenntnis i.S.d. § 113 I FamFG i.V.m. § 175 ZPO. Noch am selben Tag machte der Antragsteller das Gericht auf den Fehler beim Rechtskraftvermerk aufmerksam und beantragte eine entsprechende Berichtigung des Beschlusses. Daraufhin forderte das Familiengericht alle Abschriften mit dem falschen Rechtskraftvermerk am 27.04.2023 zurück und äußerte, es läge eine schwerwiegende Abweichung von der Urschrift vor, die zur Unwirksamkeit der Zustellung führe. Am 08.05.2023 legte die Rechtsanwältin des Antragstellers Beschwerde (i.S.d. §§ 58 ff. FamFG) gegen die Verpflichtung zur Zahlung von nachehelichem Unterhalt (Ziff. 3 des Beschlusses) ein, wobei man sich die Rücknahme dessen Vorbehalte und einen entsprechenden Hinweis des Gerichts erbat. Nachdem das Familiengericht per gerichtlicher Verfügung mitteilte, es werde eine erneute Zustellung veranlasst, wenn alle fehlerhaften Ausfertigungen zurückgelangt seien, nahm die Rechtsanwältin die nach ihrer Auffassung „vorsorglich fristwahrend eingelegte“ Beschwerde am 11.05.2023 schließlich zurück. Am 15.05.2023 wurde dem Antragsteller eine Abschrift des Beschlusses mit fehlerfreiem Rechtskraftvermerk zugestellt, während das Familiengericht weiterhin von einer unwirksamen Zustellung im ersten Versuch ausging. Erneut legte der Antragsteller hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtung am 13.06.2023 Beschwerde ein und beantragte auf entsprechenden Hinweis des Beschwerdegerichts am 03.08.2023 vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Diesen Antrag begründete die Rechtsanwältin damit, dass man nach dem Verhalten des Familiengerichts (Rückforderung der Ausfertigungen und entsprechender richterlicher Hinweis) auf die Unwirksamkeit der Zustellung vom 06.04.2023 vertraut habe.

Das OLG Koblenz als Beschwerdegericht ging hingegen von einer wirksamen Zustellung am 06.04.2023 aus, wies den Wiedereinsetzungsantrag daraufhin zurück und verwarf die Beschwerde folglich als unzulässig. Hiergegen richtete sich der Antragsteller mit der Rechtsbeschwerde (§§ 112 Nr. 1, 117 I 4 FamFG, §§ 522 I 4, 574 I 1 Nr. 1, 238 II 1 ZPO).

Beschluss des BGH

Der BGH sah die Dinge wie das OLG Koblenz und verwarf die Rechtsbeschwerde. Zunächst setzen sich die Richter mit der Zustellung vom 06.04.2023 auseinander. Diese sei wirksam erfolgt, da der Beschluss der Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers mit Zustellungswillen des Gerichts in Form der beglaubigten Abschrift zugeleitet worden und mit ihrem Empfangsbekenntnis entsprechend § 113 I FamFG i.V.m. § 175 ZPO bestätigt worden sei. So weit so klar. Nun beruft sich der BGH auf seine Rechtsprechung aus 2011, in der er einen Unwirksamkeitsgrund erarbeitet hat, die dem Sinn und Zweck der Zustellung entspricht: Weicht die Abschrift von dem Beschluss als Urschrift derartig ab, dass der Zustellungsadressat den wesentlichen Inhalt der Urschrift (insbesondere den Umfang seiner Beschwer) nicht mehr zweifelsfrei erkennen kann, dann ist die Zustellung unwirksam. Eine solche gewichtige Abweichung vermochte das Gericht jedoch nicht zu sehen, denn die Abschrift stimme inhaltlich mit dem Beschluss überein und nur der von der Geschäftsstelle auf ihr angebrachte Rechtskraftvermerk weiche ab.

Legt man dies zugrunde, so löste die Zustellung des Beschlusses am 06.04.2023 die familienrechtliche Beschwerdefrist des § 63 I FamFG von einem Monat aus. Die Ereignisfrist hätte rein rechnerisch am 06.05.2023 (Samstag) geendet, verlängerte sich wegen des Wochenendes jedoch entsprechend § 222 II ZPO, sodass die Frist erst mit Ablauf des 08.05.2023 endete. An diesem Tag wurde die erste Beschwerde folglich noch fristwahrend eingelegt, allerdings hat die Rechtsanwältin sie wieder zurückgenommen. Die dahinterstehenden Motive der Verfahrensvertreterin stufte der BGH hierbei als irrelevant ein und ging von einer wirksamen Rücknahme aus. Die zweite Beschwerde vom 13.06.2023 sei schließlich verfristet gewesen, da auch die erneute Zustellung des Beschlusses am 15.05.2023 die bereits abgelaufene Frist nicht neu in Gang gesetzt habe.

Entsprechend musste sich der Senat mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 233 S. 1 ZPO befassen, die nach § 117 V FamFG auch in familienrechtlichen Streitigkeiten Anwendung findet. Statt einer Fristversäumnis „ohne Verschulden“ attestierte das Gericht der Rechtsanwältin ein schuldhaftes Versäumnis, das sich der Antragsteller nach § 85 II ZPO zurechnen lassen muss. Ein Fall der fehlerhaften oder unterbliebenen Rechtsbehelfsbelehrung nach § 233 S.2 ZPO läge nicht vor. Zugegebenermaßen sei die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheids nicht in sich konsistent gewesen, weil das korrekt in ihr genannte Rechtsmittel der Beschwerde durch den fehlerhaft angebrachten Rechtskraftvermerk wieder in Frage gestellt worden sei. Dieser Umstand sei geeignet, einen Laien dahingehend zu Zweifeln zu veranlassen, ob nun noch ein Rechtsmittel möglich sei oder nicht. Die Verfahrensvertreterin dürfe zwar grundsätzlich auch auf erteilte Rechtsbehelfsbelehrungen vertrauen, jedoch müsse von ihr erwartet werden, dass sie „die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem in der jeweiligen Verfahrensart“ kenne. Insofern gelte das Vertrauen in die Richtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung aus anwaltlicher Sicht nicht uneingeschränkt, sondern nur in den Fällen, in denen die inhaltlich fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung zu nicht vermeidbaren bzw. zumindest nachvollziehbaren rechtlichen Irrtümern bei Rechtsanwält*innen geführt habe. Daraus leitet der BGH folgende Formel ab: „Die Fristversäumung ist mithin auch in den Fällen einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung nicht unverschuldet, wenn diese offenkundig falsch gewesen ist und deshalb ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte.“ Daran gemessen handele es sich hier um einen offenkundigen Fehler, da die Anwältin das Gericht sogar selbst auf diesen aufmerksam gemacht habe.

Zuletzt konnte sich der BGH auch nicht verkneifen, die Anwältin darauf hinzuweisen, dass sie bei zweifelhafter Rechtslage zum Schutz des Mandanten den sicheren Weg wählen müsse. Es habe für die Rücknahme der ersten wirksam eingelegten Beschwerde selbst bei Zugrundelegung einer unwirksamen Zustellung am 06.04.2023 keinerlei Veranlassung bestanden. Sie habe die Beschwerde nicht zu früh eingelegt, da ein Rechtsmittel bereits vor dem gesetzlich festgelegten Fristbeginn eingelegt werden könne. Schließlich bedürfe es hierfür nur der erlassenen Entscheidung (vom 04.04.2023). Entsprechend sah das Gericht auch in dem fehlerhaft erteilten Hinweis des AG Alzey unter Berücksichtigung der Grundsätze des fairen Verfahrens keinen Wiedereinsetzungsgrund, weil das Familiengericht gerade nicht zur Rücknahme der Beschwerde geraten habe und sich auch bei Zugrundelegung einer Unwirksamkeit der Zustellung -wie aufgezeigt- keine erkennbaren Gründe zur Rücknahme ergeben hätten.

Fazit

Der BGH hat damit nicht nur der betroffenen Anwältin eine Lektion erteilt, sondern liefert eine Konstellation, die auch für die juristische Ausbildung lehrreichen Input bietet. Inwiefern der Einstieg über das FamFG in der Ausbildung gefordert wird, hängt dabei vom jeweiligen Bundesland ab. Gleichwohl bietet der Fall einen soliden Überblick und dürfte gleichwohl geeignet sein, die Angst vor allzu großen Abweichungen von der ZPO nehmen. Soweit man sich in der Klausursituation mit der Wiedereinsetzung konfrontiert sieht –sei es bereits in der verwaltungsrechtlichen Klausur gem. § 32 VwVfG bzw. § 60 VwGO im ersten Examen oder schließlich im zweiten Examen auch nach § 233 ZPO und §§ 44 f. StPO- sollte man Ruhe bewahren, die Fristen sauber ausrechnen und nicht verfrüht auf den Wiedereinsetzungsantrag setzen. Andernfalls verliert man mit der Prüfung des „Fristenjokers“ wertvolle Zeit. Sollten die Prüfungsämter es gerade auf eine Wissenskontrolle in diese Richtung angelegt haben, spiegelt der Sachverhalt dies auch regelmäßig wieder. Spätestens in der mündlichen Prüfung gilt dann aber erfahrungsgemäß: Klausurtaktik über Bord, denn alles ist möglich!

BlogPlus

Du möchtest weiterlesen?

Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.

Paket auswählen