BGH zu den Grundsätzen des Werkstattrisikos

BGH zu den Grundsätzen des Werkstattrisikos

Lassen sich die Grundsätze auch auf überhöhte Kostenansätze eines Kfz-Sachverständigen übertragen?

Das Werkstattrisiko ist das Risiko, überhöhte Kostenansätze einer Werkstatt für die Reparatur eines beschädigten Fahrzeugs tragen zu müssen. Dieses Risiko besteht auch –als Sachverständigenrisiko– für überhöhte Kostenansätze eines Sachverständigen hinsichtlich der Begutachtung eines beschädigten Fahrzeugs zur Ermittlung des unfallbedingten Schadens.

A. Sachverhalt

Die Klägerin (K), die Inhaberin eines Sachverständigenbüros ist, nimmt die beklagte Haftpflichtversicherung (B) aus abgetretenem Recht auf Ersatz von Sachverständigenkosten aufgrund eines Verkehrsunfalls, bei welchem der Pkw des Geschädigten durch einen Versicherungsnehmer der B beschädigt wurde, in Anspruch. Die volle Haftung der B dem Grunde nach stand außer Streit. Der Geschädigte beauftragte K mit der Begutachtung des unfallbedingten Schadens und trat seine diesbezüglichen Schadensersatzansprüche an K ab. Die Kosten für das Gutachten wurden von B beglichen mit Ausnahme eines Betrages von 20 Euro für einen „Zuschlag Schutzmaßnahme Corona“.

K verlangt von B die Zahlung von Schadensersatz i.H.v. 20 Euro.

B. Entscheidung

K macht insofern einen Schadensersatzanspruch geltend.

Deliktische Ansprüche

(Vertragliche, vertragsähnliche oder dingliche Ansprüche kommen nicht in Betracht). Es besteht dem Grunde nach ein deliktischer Anspruch.

I. § 398 S. 2 BGB, § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG

K könnte gegen B einen Schadensersatzanspruch haben i.H.v. 20 Euro nach § 398 S. 2 BGB, § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG.

1. Abtretungsvertrag, § 398 S. 1 BGB

K macht keinen eigenen Anspruch geltend, sondern geht aus abgetretenem Recht vor. Der Geschädigte (Zedent) hat seine etwaigen Schadensersatzansprüche aus dem Verkehrsunfall per Abtretungsvertrag nach § 398 S. 1 BGB an K (Zessionar) abgetreten.

2. Kein Abtretungsverbot, §§ 399, 400 BGB

Es bestand insofern grundsätzlich auch kein Abtretungsverbot, §§ 399, 400 BGB.

3. Berechtigung Zedent

Ferner müsste der Geschädigte Berechtigter gewesen sein. Das wäre der Fall, wenn er einen entsprechenden Schadensersatzanspruch gegen B hat. Dieser ergibt sich dem Grunde nach aus § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG.

a) Direktanspruch gegen B nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG

Der Geschädigte hat einen Direktanspruch gegen B als Haftpflichtversicherer des Schädigers nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, sofern er einen solchen Schadensersatzanspruch gegen den Halter (Schädiger) nach § 7 I StVG hat.

b) § 7 I StVG

Ein Schadensersatzanspruch nach § 7 I StVG setzt voraus: Rechtsgutsverletzung, Halter, Betrieb eines Kfz, haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Betrieb eines Kfz), kein Ausschluss nach § 7 II StVG, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden). (Der BGH ist nur auf die Prüfungspunkte des Schadens und der haftungsausfüllenden Kausalität eingegangen.)

aa) Rechtsgutsverletzung

Eine Rechtsgutsverletzung als Sachbeschädigung ist in Form der Eigentumsverletzung am Kfz des Geschädigten durch den Verkehrsunfall erfolgt.

bb) Halter

Der Schädiger (und Versicherungsnehmer von B) ist Halter des gegnerischen Kfz.

cc) Betrieb eines Kfz

Die Sachbeschädigung ist beim Betrieb des Kfz des Halters eingetreten.

dd) Haftungsbegründende Kausalität

Die haftungsbegründende Kausalität zwischen der Rechtsgutsverletzung und dem Betrieb eines Kfz ist gegeben.

ee) Kein Ausschluss nach § 7 II StVG

Es liegt auch kein Ausschluss der Ersatzpflicht nach § 7 II StVG vor.

ff) Schaden

Ferner müsste ein Schaden, also ein unfreiwilliges Vermögensopfer, entstanden sein. Nach § 249 I BGB kann grundsätzlich Naturalrestitution verlangt werden. Im Rahmen der von § 249 I BGB vorausgesetzten Differenzhypothese (= Differenz zwischen realer und hypothetischer Vermögenslage) kann der Differenzschaden als Schadensersatz gefordert werden. Nach § 249 II 1 BGB kann statt der Herstellung der dazu erforderliche Geldbetrag verlangt werden.

Im Ausgangspunkt ist sein Anspruch auf Befriedigung seines Finanzierungsbedarfs in Form des zur Wiederherstellung objektiv erforderlichen Geldbetrags gerichtet …. Der Geschädigte ist nach schadensrechtlichen Grundsätzen in der Wahl der Mittel zur Schadensbehebung frei. Er darf zur Schadensbeseitigung grundsätzlich den Weg einschlagen, der aus seiner Sicht seinen Interessen am besten zu entsprechen scheint. Denn Ziel der Schadensrestitution ist es, den Zustand wiederherzustellen, der wirtschaftlich gesehen der hypothetischen Lage ohne das Schadensereignis entspricht. Der Geschädigte ist deshalb grundsätzlich berechtigt, einen qualifizierten Gutachter seiner Wahl mit der Erstellung des Schadensgutachtens zu beauftragen.

Allerdings gilt das schadensrechtliche Bereicherungsverbot.

Der Geschädigte soll zwar volle Herstellung verlangen können (Totalreparation), aber an dem Schadensfall nicht “verdienen” …. Die dem Geschädigten zur Verfügung zu stellenden Mittel müssen so bemessen sein, dass er, sofern er wirtschaftlich vernünftig verfährt, durch die Ausübung der Ersetzungsbefugnis weder ärmer noch reicher wird, als wenn der Schädiger den Schaden gemäß § 249 Abs. 1 BGB beseitigt …. Darüber hinaus sind die Grundsätze zum Werkstattrisiko, die der Senat in seinem Urteil vom 16. Januar 2024 - VI ZR 253/22 für überhöhte Kostenansätze einer Werkstatt für die Reparatur des beschädigten Fahrzeugs fortentwickelt hat, auch auf überhöhte Kostenansätze eines Kfz-Sachverständigen anwendbar, den der Geschädigte mit der Begutachtung seines Fahrzeugs zur Ermittlung des unfallbedingten Schadens beauftragt hat.

Sofern der Geschädigte sein Kfz zwecks Reparatur zu einer Fachwerkstatt bringt,

so sind dadurch anfallende Reparaturkosten im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger aufgrund der subjektbezogenen Schadensbetrachtung auch dann vollumfänglich ersatzfähig, wenn sie etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise der Werkstatt unangemessen, mithin nicht erforderlich im Sinne von § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB sind; in einem solchen Fall gegebenenfalls bestehende Ansprüche des Geschädigten gegen den Werkstattbetreiber spielen nur insoweit eine Rolle, als der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs deren Abtretung verlangen kann. Das Werkstattrisiko verbleibt in diesem Fall - wie bei § 249 Abs. 1 BGB - auch im Rahmen des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger beim Schädiger …. Dies gilt für alle Mehraufwendungen der Schadensbeseitigung, deren Entstehung dem Einfluss des Geschädigten entzogen ist und die ihren Grund darin haben, dass die Schadensbeseitigung in einer fremden, vom Geschädigten nicht kontrollierbaren Einflusssphäre stattfinden muss.

Diese Grundsätze für das Werkstattrisiko sind auf das Sachverständigenrisiko (Risiko, für überhöhte Kostenansätze eines Sachverständigen hinsichtlich der Begutachtung eines beschädigten Fahrzeugs zur Ermittlung des unfallbedingten Schadens zu haften) übertragbar.

Diesbezügliche Mehraufwendungen sind dann ebenfalls ersatzfähig, ebenso Rechnungspositionen, die sich auf - für den Geschädigten nicht erkennbar - tatsächlich nicht durchgeführte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Begutachtung beziehen. Auch hier kann aber der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs die Abtretung gegebenenfalls bestehender Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen verlangen.

Jedoch müssen die Begutachtungskosten unfallbedingt sein und den Geschädigten trifft

eine Obliegenheit zu einer gewissen Plausibilitätskontrolle der vom Sachverständigen bei Vertragsschluss geforderten bzw. später berechneten Preise. Verlangt der Sachverständige bei Vertragsschluss Preise, die - für den Geschädigten erkennbar - deutlich überhöht sind, kann sich die Beauftragung dieses Sachverständigen als nicht erforderlich im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB erweisen (Auswahlverschulden). Ein Überwachungsverschulden kommt beispielsweise in Betracht, wenn die Rechnung - für den Geschädigten erkennbar - von der Honorarvereinbarung abweicht oder wenn der Sachverständige für den Geschädigten erkennbar überhöhte Nebenkosten angesetzt hat …. Der Geschädigte kann dann nur Ersatz der für die Erstattung des Gutachtens tatsächlich erforderlichen Kosten verlangen, deren Höhe der Tatrichter gemäß § 287 ZPO zu bemessen hat …

Nicht erforderlich für die Ersatzfähigkeit ist, dass der Geschädigte die Rechnung des Sachverständigen schon bezahlt hat.

Soweit der Geschädigte die Rechnung nicht beglichen hat, kann er - will er das Werkstattrisiko bzw. hier das Sachverständigenrisiko nicht selbst tragen - die Zahlung der Sachverständigenkosten allerdings nicht an sich, sondern nur an den Sachverständigen verlangen, Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger (dieses Risiko betreffender) Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen…. (Vollstreckungs-)Gläubiger bleibt auch in diesem Fall allein der Geschädigte. Der Sachverständige erhält lediglich eine Empfangszuständigkeit (zur Rechtskraftwirkung und zum Regress des Schädigers gegenüber dem Sachverständigen ….

Demgegenüber kann der Sachverständige selbst nicht nach erfolgter Abtretung als Zessionar das Sachverständigenrisiko geltend machen. Demnach hat K

darzulegen und ggf. zu beweisen, dass die mit der Pauschale abgerechneten Corona-Schutzmaßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und objektiv erforderlich waren … und dass die Pauschale auch ihrer Höhe nach nicht über das Erforderliche hinausgeht.

gg) Haftungsausfüllende Kausalität

Ferner ist die haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden) gegeben.

Die unfallbedingte Beschädigung des Fahrzeugs kann nicht im Sinne der Äquivalenztheorie hinweggedacht werden, ohne dass die Begutachtung zur Schadensermittlung und die dabei durchgeführten Corona-Schutzmaßnahmen entfielen. Erfolgte - wie hier - die Begutachtung während der Corona-Pandemie, war die Durchführung von Corona-Schutzmaßnahmen im Rahmen der Begutachtung grundsätzlich auch adäquat-kausal.

Bezüglich der Beurteilung der objektiven Erforderlichkeit der durchgeführten Corona-Schutzmaßnahmen hat ein Unternehmer –und somit auch ein Sachverständiger– einen gewissen Entscheidungsspielraum. Dabei bestehen grundsätzlich keine Bedenken,

dass die Klägerin die Corona-Pauschale gesondert berechnet hat. Einem Kfz-Sachverständigen steht es frei, neben einem Grundhonorar für seine eigentliche Sachverständigentätigkeit Nebenkosten, auch in Form von Pauschalen, für tatsächlich angefallene Aufwendungen abzurechnen …. Die betriebswirtschaftliche Entscheidung, ob die für das Hygienekonzept in der Corona-Pandemie anfallenden Kosten gesondert ausgewiesen oder als interne Kosten in die Kalkulation des Grundhonorars “eingepreist” werden, steht dabei grundsätzlich dem Sachverständigen als Unternehmer zu; es darf nur nicht beides kumulativ erfolgen.

Ergebnis

K hat gegen B einen Schadensersatzanspruch i.H.v. 20 Euro nach § 398 S. 2 BGB, § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG.

II. § 823 I BGB; § 823 II BGB i.V.m. § 1 II StVO

Weitergehende Ansprüche aus § 823 I BGB und § 823 II BGB i.V.m. § 1 II StVO konnten und mussten vom BGH nicht geprüft werden.

(Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 I BGB setzt voraus: Rechtsgutsverletzung, Handlung, haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Handlung), Rechtswidrigkeit, Verschulden, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden).

Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 II BGB setzt voraus: Schutzgesetz, Verletzung (Handlung), haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Handlung), Rechtswidrigkeit, Verschulden, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden)).

C. Prüfungsrelevanz

Das Deliktsrecht mit dem Schwerpunkt auf der Prüfung des Schadens ist regelmäßig Prüfungsgegenstand. In der vorliegenden Entscheidung ging es dabei um die Übertragung der Grundsätze des Werkstattrisikos, wonach ggf. für überhöhte Kostenansätze einer Werkstatt für die Reparatur eines beschädigten Fahrzeugs gehaftet werden muss, auf das Sachverständigenrisiko, also das Risiko für überhöhte Kostenansätze eines Sachverständigen hinsichtlich der Begutachtung eines beschädigten Fahrzeugs zur Ermittlung des unfallbedingten Schadens einstehen zu müssen.

Die Entscheidung ist sehr prüfungsrelevant, da sie die Möglichkeit bietet, Schadensersatzansprüche aus dem Deliktsrecht in Form der Gefährdungshaftung nach § 7 I StVG in Kombination mit einem Direktanspruch gegen den Versicherer nach § 115 VVG und einer Abtretung gem. § 398 BGB zu prüfen und sich dabei intensiv mit dem Schaden gem. § 249 BGB auseinanderzusetzen.

(BGH Urt. v. 12.3.2024 – VI ZR 280/22)

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