Wann ist eine Ausnahme gerechtfertigt?
Wer kennt das nicht: Man wartet an einer Ampel, die einfach nicht grün werden will. Man beginnt zu überlegen, ob es in Ordnung wäre, einfach über die Straße zu gehen, beziehungsweise zu fahren, oder ob man lieber brav wartet. Die Betroffene des vorliegenden Falles entschied sich für ersteres und wurde prompt dafür bestraft. Doch war ihr Bußgeld in Höhe von 100 Euro gerechtfertigt?
Was war passiert?
Die Betroffene fuhr am 24. Juli 2022 mit ihrem Fahrrad durch Hamburg. Gegen 20:15 Uhr wurde sie von einer roten Ampel aufgehalten. Obwohl die Ampel augenscheinlich nicht defekt war, schaltete sie nicht auf grün. Sie war mit einer Kontaktschleife ausgestattet, die die Betroffene auf ihrem Fahrrad scheinbar nicht auslöste. Selbst nach mehr minütigem Warten schaltete die Ampel nicht auf Grün. Das Gericht ging zugunsten der Betroffenen davon aus, dass sie mindestens fünf Minuten wartete. Weil sie annahm, dass die Ampel defekt sein müsse, überquerte sie die Kreuzung bei Rot. Dabei gefährdete sie weder sich selbst noch andere Verkehrsteilnehmer.
Statt über Rot zu gehen, hätte die Betroffene alternativ absteigen können und die Kreuzung mit Hilfe einer mit Anfrageknopf ausgestatteten Fußgängerampel überqueren können.
Die Wertung des Amtsgericht
Nach Ansicht des AG (Amtsgericht) Hamburg ist dieses Verhalten als vorsätzlicher, qualifizierter Rotlichtverstoß gem. §§ 37 II S. 2 Nr. 1 und 6, 49 III Nr. 2 StVO i.V.m. § 24 StVG zu qualifizieren. Folglich verhängte es ein Bußgeld i.H.v. 100 Euro. Es argumentierte, dass der vorliegende Fall nicht mit der Situation von Kraftfahrern vergleichbar sei. Kraftfahrer dürfen bei einer defekten Ampel nach minutenlangen Warten vorsichtig in eine Kreuzung hineinfahren. Die Ampel sei aber funktionstüchtig gewesen. Außerdem hätte sie, wie oben beschrieben, den Fußgängerüberweg nutzen können. Einem Autofahrer fehle diese Option.
Gegen dieses Urteil legte die Betroffene Rechtsbeschwerde ein.
Neuverhandlung vor dem OLG
Mit Erfolg! Das OLG (Oberlandeslandesgericht) Hamburg hob das Urteil daraufhin auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG.
Die Gründe:
Ein vorsätzlicher Rotlichtverstoß sei schon deswegen ausgeschlossen, weil sich die Betroffene in einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum befunden habe, weil sie aufgrund der langen Wartezeit glaubte, die Ampel sei defekt.
Bei der Ampel handele es sich um einen VA (Verwaltungsakt) in Form einer Allgemeinverfügung, § 35 S. 2 VwVfG, der den betroffenen Verkehrsteilnehmer dazu auffordert, bei Rot an der Kreuzung zu halten, § 37 II Nr. 1 S. 7 StVO. Dieser Verwaltungsakt sei dann nichtig i.S.d. § 44 VwVfG, wenn die Ampel aufgrund einer technischen Funktionsstörung dauerhaft Rot anzeigt. In diesem Fall beruhe die Dauer des gezeigten Rotlichts „nicht mehr auf dem vom menschlichen Willen getragenen Schaltplan der Programmierung durch die Verkehrsbehörde“. Die Unsinnigkeit einer dauerroten Ampel dränge sich ohne weiteres auf, sodass Nichtigkeit vorliegt.
Dies gelte im Übrigen für alle Verkehrsteilnehmer.
Außerdem verkenne das AG, dass die Betroffene nicht als Fußgängerin, sondern als Radfahrerin unterwegs war. Für Radfahrer gelten grundsätzlich die gleichen Lichtzeichen wie für Autofahrer, sofern keine gesonderten Lichtzeichen für Radfahrer vorhanden sind. Sie sei daher nicht dazu angehalten, vom Fahrrad abzusteigen und den Fußgängerüberweg zu nutzen. Maßgeblich sei allein ihre Vorstellung über die vermeintlich defekte dauerrote Ampel.
Im Übrigen könne nicht zweifellos festgestellt werden, ob Radfahrer die Kontaktschleife überhaupt auslösen können. Dies dürfe im Falle einer Verurteilung allerdings nicht offenbleiben. Falls die Ampel nämlich so konzipiert sei, dass sie nur durch Kraftfahrer ausgelöst werden kann, so sei der VA jedenfalls für Radfahrer - und damit auch für die Betroffene - zumindest teilnichtig. Ob dem so sei, müsse eine Beweisaufnahme feststellen. Wird im Wege dieser Beweisaufnahme festgestellt, dass Radfahrer die Kontaktschleife auslösen können, käme für die Betroffene ein fahrlässiger Rotlichtverstoß in Betracht. Dann müsse die irrtümliche Annahme der Betroffenen, die Ampel sei defekt, selbst auf Fahrlässigkeit beruhen, § 16 I S. 2 StGB. Entscheidend werden dann die Umstände des Einzelfalls sein, wobei der mindestens fünfminütigen Wartezeit der Betroffenen ein erhebliches Gewicht zukommen wird.
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