Verfassungsbeschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung im sogenannten „Apotheker“-Verfahren

Verfassungsbeschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung im sogenannten „Apotheker“-Verfahren

Das BVerfG zum Schuldgrundsatz, zur richterlichen Rechtsfortbildung und zur Wahlfeststellung

A. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer war Inhaber einer Apotheke, die für Patienten individuelle Arzneimittelzubereitungen für die Krebstherapie herstellte und an onkologische Arztpraxen und Krankenhäuser lieferte.

Das LG Essen verurteilte ihn am 6. Juni 2018 wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in 14.537 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen und 27 weiteren tatmehrheitlichen Fällen sowie wegen Betruges in 59 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren. Die Kammer ordnete zugleich ein lebenslanges Berufsverbot an sowie die Einziehung des Wertes der Taterträge in Höhe von 17 Millionen Euro; der BGH hat diesen Betrag auf 13.605.408 Euro herabgesetzt. Der Beschwerdeführer stellte - nach der Feststellung der Strafkammer – in mindestens 14.564 Fällen im Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 29. November 2016 unterdosierte Arzneimittel her, die er auslieferte und bei den gesetzlichen Krankenkassen und anderen öffentlich- rechtlichen Kostenträgern monatlich unter Vorgabe einer ordnungsgemäßen Dosierung abrechnete (insgesamt 59-mal). Durch das heimliche Einsparen von Wirkstoffen wollte er den Gewinn steigern, um seinen privaten Finanzbedarf (luxuriöser Lebensstil) zu decken.

Bei 66 Zubereitungen, die von der Staatsanwaltschaft vor der Auslieferung sichergestellt wurden, konnte exakt der zu niedrig enthaltene Wirkstoff ermittelt werden. Bei weiteren 14.498 bereits ausgelieferten Zubereitungen konnte das LG die Unterdosierung nur rechnerisch anhand der eingekauften Wirkstoffe feststellen. Von den im Tatzeitraum hergestellten 28.285 Zubereitungen enthielten danach 14.498 Arzneimittel überhaupt keinen Wirkstoff. Das LG stellte fest, dass der Beschwerdeführer die unterdosierten Zubereitungen ganz überwiegend eigenhändig vornahm; in Einzelfällen wurden unterdosierte Arzneimittel auch durch ausgewählte Mitarbeiter hergestellt. Dies geschah auf Veranlassung oder Anweisung des Beschwerdeführers. Das Handeln des Beschwerdeführers würdigte das LG als vorsätzlichen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz und ging von einer gleichartigen Wahlfeststellung aus. Dies sah das LG als zulässig an, weil feststand, dass der Beschwerdeführer (oder in einzelnen Fällen auf seine Veranlassung hin seine Mitarbeiter) in 14.498 von 28.265 namentlich indizierten Fällen unterdosierte parenterale Arzneimittel hergestellt und in den Verkehr gebracht hat.

Die gegen das Urteil des LG eingelegte Revision verwarf der BGH mit Beschluss vom 10. Juni 2020, 4 StR 503/19.

Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde (Vb) gegen das Urteil des LG Essen und die Revisionsentscheidung des BGH insbesondere eine Verletzung des Schuldgrundsatzes sowie des Grundrechts auf Wahrung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 20 II, 2, III GG.

B. Gründe

Das BVerfG hat die Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des Art. 93a II BVerfGG nicht erfüllt sind und sie auch keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Danach stellt die Verurteilung des Beschwerdeführers keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar, eine anderweitige Grundrechtsverletzung ist weder dargetan noch ersichtlich (Rn 14).

I. Schuldgrundsatz (Rn 15-17)

Das BVerfG führt aus, dass das Strafrecht auf dem Schuldgrundsatz beruhe, der Verfassungsrang hat. Der Schuldgrundsatz „keine Strafe ohne Schuld“ setzt auf die Eigenverantwortung des Menschen, der sein Handeln selbst bestimmen und sich zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann (vgl. BVerfGE 140, 317, 343 Rn 54). Jede Strafe setzt deshalb eine Schuld voraus. Der Schuldgrundsatz ist ein zwingendes Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips, das auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit umfasst (vgl. BVerfGE 7, 89, 92). Dem Täter müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden. Die Feststellung strafrechtlicher Schuld ist in erster Linie Sache der Strafgerichte. Das BVerfG prüft nur, ob dem Schuldgrundsatz überhaupt Rechnung getragen worden oder seine Tragweite bei der Anwendung und Auslegung des Strafrechts grundlegend verkannt worden ist.

Eine an diesen Maßstäben orientierte Verletzung des Schuldgrundsatzes zeigt der Beschwerdeführer nicht auf. Ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz folgt auch nicht aus der getroffenen, gleichartigen Wahlfeststellung (Rn 18).

II. Gleichartige Wahlfeststellung (Rn 20-27)

Das BVerfG stellt klar, dass die richterlichen Grundsätze zur gleichartigen Wahlfeststellung mit Schuldgrundsatz vereinbar sind. Die Zweifel beschränken sich auf den deliktischen Sachverhalt, nicht auf dies Gesetzesanwendung. Bei der gleichartigen Wahlfeststellung steht die schuldhafte Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes fest; unsicher ist allein der Zeitpunkt oder welche von mehreren Handlungen den Erfolg herbeigeführt hat (Rn 20). Die Idee der materiellen Gerechtigkeit, die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, verlangt die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, wenn die Schuld des Angeklagten mit Gewissheit feststeht und die Zweifel sich allein auf Tatsachenfragen beziehen. Danach ist die vom LG vorgenommene gleichartige Wahlfeststellung nicht zu beanstanden. Die Strafkammer konnte nicht sicher feststellen, bei welchen der 14.498 (von 28.285) hergestellten Arzneimitteln eine Unterdosierung erfolgte. Es steht nur fest, wie viele Unterdosierungen es mindestens gegeben hat. Das LG hat für jeden einzelnen Wirkstoff dargelegt, wie viele Herstellungen der Bf im günstigsten Fall dosieren konnte. Die vorgenommene Wahlfeststellung hält sich innerhalb der Grenzen des § 264 StPO. Die Rügen des Beschwerdeführers, das LG habe nicht konkret festgestellt, in welchen Fällen der Beschwerdeführer unterdosierte Zubereitungen hergestellt und ausgeliefert habe und bei welchen Patienten, verkennt die Voraussetzungen der gleichartigen Wahlfeststellung. Diese Lücke in der Tatsachenfeststellung ist der gleichartigen Wahlfeststellung immanent (Rn 23).

Die Verurteilung des Beschwerdeführers als Täter, auch in den Fällen, in denen die Medikamente nicht durch ihn selbst, sondern nach seinen Vorgaben durch Mitarbeiter hergestellt wurden, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Beschwerdeführer hatte – nach Feststellung des LG - insoweit die Organisationsherrschaft (Rn 25). Der Beschwerdeführer kannte und billigte die unterdosierte Herstellung durch seine Mitarbeiter, er hat sie auch entsprechend angewiesen. Eine eigenständige, unterdosierte Zubereitung der Arzneimittel durch die Mitarbeiter schloss das LG ausdrücklich aus (Rn 27).

III. Zulässige richterliche Rechtsfortbildung (Rn 28- 30)

Durch die angegriffenen Entscheidungen wird der Beschwerdeführer auch nicht in seinem Recht aus Art. 2 I in Verbindung mit Art. 20 II, Satz 2 und III GG verletzt.

Die richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle des Gesetzgebers setzt; insoweit sind den Gerichten bei der Fortbildung des Rechts Grenzen gesetzt. Einen derartigen Verstoß hat der Beschwerdeführer nicht aufgezeigt und er ist auch nicht erkennbar (Rn 30).

IV. Kein Verstoß gegen das Analogieverbot aus Art. 103 II GG (Rn 33-37)

Das BVerfG sieht auch keine Grundrechtsverletzung wegen eines Verstoßes gegen das Analogieverbot.

Art. 103 II GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (Rn 33). Mit dieser Norm ist jede analoge Rechtsanwendung ausgeschlossen, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Nur der Gesetzestext kann Gegenstand der Auslegung sein. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Den Strafgerichten ist es daher nicht erlaubt, eine Strafbestimmung über ihren eindeutigen Wortlaut hinaus im Blick auf den Normzweck anzuwenden (Rn 34). Nicht verboten ist hingegen eine weite Auslegung des Wortlauts einer Strafnorm. Der Beschwerdeführer hat nicht dargetan, dass nach diesen Maßstäben eine Rechtsverletzung vorliegt. Allein die Annahme einer Wahlfeststellung verletzt den Beschwerdeführer nicht in Art. 103 II GG, da die Grundsätze der Wahlfeststellung nicht strafbarkeitsbegründend wirken (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2019, 2 BvR 167/18, Rn 28 ff). Das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung kommt dann zur Anwendung, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung sicher feststeht, dass sich der Angeklagte strafbar gemacht hat, auch wenn über den konkreten Geschehensverlauf Zweifel bestehen.

Das BVerfG hat von einer weiteren Begründung nach § 93d I, 3 BVerfGG abgesehen.

Anmerkung

  1. Die Ausführungen der 3. Kammer des Zweiten Senats im sogenannten „Apothekerverfahren“ zum Schuldgrundsatz, zur richterlichen Rechtsfortbildung und zum Analogieverbot im Strafrecht bedürfen keiner weiteren Kommentierung; sie sind bekannt und sprechen für sich. Festzuhalten ist, dass auch die Annahme einer Wahlfeststellung im Strafrecht keine Verletzung des Art. 103 II GG darstellt, weil die Garantien in Art. 103 GG nicht durch die Wahlfeststellung berührt werden. Die gleichartige Wahlfeststellung greift nicht korrigierend in die Entscheidung des Gesetzgebers über strafwürdiges Verhalten ein.

  2. Das BVerfG stellt zum wiederholten Male klar, dass lediglich die Behauptung der Verletzung eines bestimmten Grundrechts nicht ausreicht, um die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zu erreichen. Der Beschwerdeführer muss sich vielmehr detailliert mit der Norm und der Auslegung dieser Norm durch die Gerichte auseinandersetzen, um eine mögliche Grundrechtsverletzung darzulegen.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. August 2023, 2 BvR1373/20)

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