Verfassungsrechtliche Voraussetzungen für die Entziehung des Sorgerechts der Eltern

Verfassungsrechtliche Voraussetzungen für die Entziehung des Sorgerechts der Eltern

Verfassungsbeschwerde gegen die Entziehung des Sorgerechts wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung

A. Sachverhalt

Die Beschwerdeführenden sind die miteinander verheirateten Eltern ihres am 29. August 2017 geborenen Kindes. Im September 2017 kam es in ihrem Haushalt zu einem nicht genau aufklärbaren Vorfall, aufgrund dessen das Kind einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels erlitt, der operativ versorgt werden musste. Die Mutter rief deshalb einen Rettungswagen, der das Kind in ein Krankenhaus brachte. Dort wurden der Oberschenkelbruch sowie drei Hämatome am Unterschenkel festgestellt, die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu Griffmarken passten. Nachdem zunächst von sorgerechtlichen Maßnahmen abgesehen worden war, wurde im November 2017 bei einer Untersuchung des Kindes festgestellt, dass der Gehirnschädel im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdimensional war (Macrocephalie) und dass die Fontanelle vorgewölbt und gespannt war. Der Kopfumfang war bis dahin fortlaufend gemessen worden. Die Ärzte vermuteten ein Schütteltrauma und eine Misshandlung des Kindes durch die Beschwerdeführenden. Sie informierten das Jugendamt, das das Kind im Einverständnis mit den Eltern in Obhut nahm. Auch nach einer Untersuchung mittels Ultraschalls und Magnetresonanztomographie (MRT) nahmen die Ärzte ein Schütteltrauma und die Einlagerung von Blut im Kopfbereich des Kindes an. Die Beschwerdeführenden erklärten, sich keinerlei Handlungen bewusst zu sein, die zu einem Schütteltrauma hätten führen können.

Das Amtsgericht hatte daraufhin den Eltern weite Teil des Sorgerechts, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, entzogen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Eltern wies das Oberlandesgericht zurück (Beschluss vom 9. März 2020). Nach seiner Prognose würde es für den Fall der Rückkehr des Kindes zu den Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit in überschaubarer Zeit aufgrund eines Erziehungsversagens eines Elternteils oder beider Elternteile zu einer erheblichen Schädigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes kommen. Die Prognose beruhe darauf, dass innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes zwei separate erhebliche Verletzungen entstanden seien, die beide Anlass für Rückschlüsse auf für die Zukunft relevante Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit der Eltern gäben. Der Vater habe im September 2017 aufgrund groben Erziehungsversagens den rechten Oberschenkel des Kindes mit massiver Gewalt verdreht und gebrochen. Zudem sei es zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 zu einer Einblutung zwischen harter und weicher Hirnhaut und einem Subduralhämatom gekommen. Das ursächliche Ereignis sei entweder eine massive zielgerichtete gewalttätige Einwirkung eines der Elternteile auf den Körper des Kindes oder zumindest ein Sturz des Kindes aus einer Höhe von mindestens 90 cm mit Aufprallen auf dem Kopf, den die Eltern jedenfalls bemerkt hätten, ohne die erforderliche medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Oberlandesgericht (OLG) hatte im Beschwerdeverfahren weitere rechtsmedizinische und radiologische Gutachten sowie ärztliche Stellungnahmen eingeholt. Das OLG befürchtete bei einem Verbleib des Kindes bei den Eltern eine Kindeswohlgefährdung und sah die Voraussetzungen der §§ 1666, 1666a BGB als gegeben an.

I. Spiralbruch des rechten Oberschenkels

Das OLG stütze seine Entscheidung auf zwei Sachverständige, die übereinstimmend und überzeugend dargestellt hatten, dass zum Herbeiführen der Verletzung (Spiralbruch des rechten Oberschenkels) eine erhebliche massive Gewalteinwirkung erforderlich gewesen sei, die einen bloßen ungeschickten Umgang mit dem Kind beim Wickeln oder beim Anpacken des Beines ausschließe. Der Beschwerdeführer zu 1) – Vater – müsse in dem Bewusstsein gehandelt haben, dem Kind Schmerzen zuzufügen. Der Junge müsse dabei vor Schmerzen geschrien haben, bevor der Knochen gebrochen sei. Die von den Beschwerdeführern (Bf) benannten alternativen Verursachungsmöglichkeiten schloss das OLG aus. Das Kind könne sich den Bruch nicht durch eine Eigenbewegung zugezogen haben, da nach den Ausführungen der Sachverständigen ein großer Kraftaufwand für das Brechen des Knochens erforderlich gewesen sei. Die Feststellungen zum Fehlen alternativer Ursachen führen nicht zu einer Umkehr der Beweislast. Im kinderschutzrechtlichen Verfahren sei das Bestehen oder Nichtbestehen einer Kindeswohlgefährdung Gegenstand, nicht das Begehen oder Nichtbegehen einer Handlung durch die Beteiligten. Der Ausschluss jeder theoretischen Möglichkeit des Gegenteils einer Feststellung sei nicht zu verlangen; es genüge ein Grad von Gewissheit, der Zweifel ausschließe.

II. Subduralhämatom

Das OLG kommt aufgrund einer Beweisaufnahme zum Ergebnis, dass das Kind zwischen dem 2. Oktober und dem 14. November 2017 ein zweites Mal verletzt wurde; dies geschah entweder durch einen Sturz aus mindestens 90 cm Höhe oder durch ein gewaltsames Schütteln (oder vergleichbare körperliche Einwirkung). Der MRT-Befund vom 15. November 2017 zeige ein subdurales Hygrom, eine Ansammlung von Flüssigkeit (keine Hirnflüssigkeit) zwischen der harten und der weichen Hirnhaut. Die Sachverständigen haben einer Erkrankung für die Flüssigkeitsansammlung ausgeschlossen; die Subduralblutung sei auch nicht vor der Entlassung aus dem Krankenhaus (20. Oktober 2017) verursacht worden. Ursache könne nach Angabe der Sachverständigen nur ein Schütteln oder ein schwerer Unfall gewesen sein (s.o.).

III. Prognose

Diese beiden Verletzungen des Kindes veranlassten das OLG zu der Prognose, dass dem Kind bei einer Rückkehr in den Haushalt der Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gegenwärtige Gefahr für sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit drohe. Die Gefahr gehe besonders vom Bf zu 1) aus, der sein Fehlverhalten nicht eingeräumt habe. Die Bf zu 2) – Mutter – sei nicht in der Lage, das Kind vor einem Übergriff zu schützen. Ihr fehle sowohl die Kompetenz zur Gefahrabwendung als auch zu einer realitätsnahen Gefährdungsabschätzung. Die gezeigte Abwehrhaltung der Eltern lasse zudem befürchten, dass sie bei einer unfallbedingten Verletzung des Kindes nicht die erforderliche Hilfe holen würden, um das Geschehen zu verheimlichen. Nur die Trennung des Kindes von der Familie sei geeignet und auch erforderlich, um der Gefahr zu begegnen. Dies Maßnahme sei auch verhältnismäßig.

Eine Anhörungsrüge der Bf wies das OLG mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 16. Juni 2020 als unbegründet zurück.

IV. Verfassungsbeschwerde

Die Bf rügen mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 6 Abs. 2 GG und aus Art. 103 Abs. 1 GG.

a) Sie wenden sich gegen die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts durch Fachgerichte; deren Annahme über die Verletzung des Kindes durch den Bf zu 1) sei allein auf einen medizinischen Befund gestützt; die Aussagen der Sachverständigen beruhten im übrigen nur auf Vermutungen, nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Feststellung des Subduralhämatoms sei nicht nachvollziehbar. Festgestellt sei nur ein Hygrom, über dessen Ursachen es nur Spekulationen gäbe.

b) Ihr Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG sei verletzt worden. Das OLG habe tatsächliche und rechtliche Ausführungen aus zwei Schriftsätzen nicht berücksichtigt. Die Beschwerdeentscheidung des OLG sei eine unzulässige Überraschungsentscheidung; ein mit Schreiben vom 11. Dezember 2018 angekündigtes familienpsychologisches Gutachten sei nicht eingeholt worden. Das OLG habe zwar mit Schreiben vom 18. November 2019 sowie im Termin am 9. März 2020 erklärt, dass ein solches Gutachten nicht mehr beabsichtigt sei. Ohne ein solches Gutachten seien aber keine hinreichenden Schlüsse auf die Erziehungsfähigkeit der Bf möglich.

B. Gründe

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde (VB) nicht zur Entscheidung angenommen; es erkannte weder eine grundsätzliche Bedeutung, noch war die Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Bf aus § 90 Abs. 1 BVerfGG notwendig. Die VB war aus unterschiedlichen Gründen unzulässig.

I. Beschluss des Amtsgerichts (AG) vom 11. Mai 2018

Die Entscheidung des AG ist durch die Beschwerdeentscheidung des OLG prozessual überholt. Es mangele daher am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.

II. Beschluss des OLG vom 16. Juni 2020

Die VB gegen den Beschluss des OLG, der die Anhörungsrüge zurückgewiesen hat, ist unzulässig, weil sich aus dem Vortrag der Bf keine eigenständige Beschwer durch diese Entscheidung ergibt (vgl. BVerfG Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2019 - 2 BvR 31, 19, 2 BvR 886, 19.

III. Beschwerdeentscheidung des OLG vom 9. März 2020

Das BVerfG stellte fest, dass die Begründung der VB gegen die Entscheidung des OLG nicht den Anforderungen des § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genüge. Die Bf haben nicht die Möglichkeit der Verletzung ihres Rechtes aus Art. 103 Abs. 1 GG noch ihres Elternrechtes (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) substantiiert dargelegt. Im Einzelnen führt das BVerfG aus:

a) Verletzung des rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs 1 GG

Aus der Begründung der VB ergibt sich nach Feststellung des BVerfG nicht, dass das Recht der Bf auf rechtliches Gehör verletzt sein könnte. Es genügt nicht, wenn die Bf pauschal auf die im Verfahren eingereichten Schriftsätze verweisen. Sie müssten konkret auf einzelne Vorträge hinweisen, die vom OLG übergangen worden seien. Es ist nicht Aufgabe des BVerfG dies aus den vorhandenen Unterlagen selbst herauszufinden.

b) Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG

Die Begründung der VB zeigt nicht der Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auf.

aa) Inhalt des Elternrechts

Das Elternrecht garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder und somit auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts. Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern ist (Art. 6 Abs. 3 GG) nur unter strengen Voraussetzungen möglich, wenn das Kind bei seinen Eltern aufgrund elterlichen Fehlverhaltens in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist. Eine solche Gefährdung ist anzunehmen, wenn bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Die negativen Folgen einer Fremdunterbringung sind dabei zu berücksichtigen. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ist deshalb nur bei strikter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zulässig. An die Sachverhaltsermittlung sind daher hohe Anforderungen zu stellen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2014, 1 BvR 3121, 13).

bb) Anspruch des Kindes auf Schutz

Dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht der verfassungsrechtliche Anspruch des Kindes auf Schutz durch den Staat gegenüber (Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 6 Abs. 2 Satz 2), wenn die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden und sie dem Kind nicht den erforderlichen Schutz bieten können. Wenn das Kindeswohl nachhaltig gefährdet ist, kann der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet sein, die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten. Eine derartige Entscheidung hängt regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab.

cc) Gefahrenprognose

Die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens muss der Erstellung dieser Gefahrenprognose Rechnung tragen. Bei der Prognose, ob eine erhebliche Gefährdung des Kindes vorauszusehen ist, muss die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls von Verfassungswegen berücksichtigt werden. Je gewichtiger der Schaden für das Kind ist, desto geringer sind die Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der auf eine drohende Verletzung geschlossen werden kann.

c) Maßstab der verfassungsrechtlichen Überprüfung

Wegen des besonderen Gewichts des Eingriffs (in das Elternrecht) unterliegen die fachgerichtlichen Annahmen einer strengen verfassungsrechtlichen Überprüfung, die sich auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstreckt.

IV. Würdigung

Das BVerG stellt fest, dass die Entscheidung des OLG vom 9. März 2020 all diesen Anforderungen genügt. Erkennbare, verfassungsrechtlich relevante Fehler hat das BVerfG sowohl bei der Sachverhaltsaufklärung als auch bei den daraus folgenden Feststellungen nicht erkennen können; dies gilt auch für das herangezogene Beweismaß und den Grad der Gewissheit für die drohende Schädigung des Kindeswohls. Die Feststellungen des OLG beruhten auf einer tragfähigen Grundlage und seien nachvollziehbar begründet.

Dies trifft nach Ansicht des BVerfG sowohl für den Spiralbruch des Oberschenkels als auch für das erlittene Subduralhämatom zu, das zumindest ein Elternteil mitbekommen haben müßte (Hinweis auf die medizinischen Sachverständigengutachten). Andere mögliche Ursachen – z.B. eine Stoffwechselerkrankung – für das subdurale Hygrom seien ausgeschlossen. Dies gelte auch für den Zeitpunkt der zweiten Verletzung (Subduralblutung) zwischen dem 20. Oktober und dem 14. November 2017. Das OLG habe keine unzureichende Sachverhaltsaufklärung vorgenommen.

Schließlich hat das BVerfG auch keine Fehler bei der Auslegung und Anwendung der §§ 1666, 1666a BGB auf die getroffene Sorgerechtsentscheidung feststellen können; die Verfassungsbeschwerde habe solche auch nicht aufgezeigt. Die zwei erheblichen Verletzungen des Kindes innerhalb der ersten drei Lebensmonate rechtfertigten die Annahme der Gefahr weiterer Verletzungen des Kindes, wenn es weiterhin von den Eltern betreut werde. Angesichts der Schwere der durch weitere Verletzungen drohenden Schäden seien verfassungsrechtlich keine weitergehenden Feststellungen zum Grad der Wahrscheinlichkeit möglicher Verletzungshandlungen geboten.

Die beschlossene Fremdunterbringung des Kindes ist auch verhältnismäßig, um die drohende Gefahr für das Kindeswohl abzuwehren.

Anmerkungen

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung sehr ausführlich die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Entziehung des Sorgerechts der Eltern bei einer drohenden Kindeswohlgefährdung dargestellt. Es hat die Bedeutung der Prognose für die Annahme einer Kindeswohlgefährdung herausgestellt und die verfassungsrechtlich gebotene Beachtung der Verhältnismäßigkeit bei der Entziehung des Sorgerechts betont. Das BVerfG hat sowohl den Inhalt des Elternrechts als auch den Anspruch des Kindes auf Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit dargelegt und den Maßstab der verfassungsrechtlichen Überprüfung erläutert. Es hat – in selten klarer Weise – festgestellt, dass der Vortrag der Bf (und damit auch der ihres Anwalts / ihrer Anwältin) nicht den gesetzlichen Erfordernissen der §§ 23, 92 BVerfGG genüge; die geltend gemachte Rechtsverletzungen müssten substantiiert und detailliert vorgetragen werden.