BVerfG stärkt die Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegenüber Maßnahmen des Staates

BVerfG stärkt die Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegenüber Maßnahmen des Staates

Verfassungsbeschwerde gegen beaufsichtigtes Drogenscreening mittels Urinkontrollen in der JVA

Das BVerfG hat in seinem Beschluss die Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegenüber Maßnahmen des Staates hervorgehoben und gestärkt. Es hat darauf hingewiesen, dass bei Eingriffen in ein Grundrecht in jedem Fall die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme beachtet und gewährt werden müsse.

A. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer (Bf) verbüßte seit 2014 eine mehrjährige Freiheitsstrafe, seit 2020 in der Justizvollzugsanstalt Bochum.

Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen angeordnet und durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes durchgeführt. Die Urinabgabe erfolgte unter Aufsicht, um Manipulationen oder Täuschungshandlungen – wie die Verwendung von Fremdurin – möglichst auszuschließen. In der Zeit vom 24. November bis zum 28. Dezember 2020 wurden beim Bf vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der jeweilige Justizvollzugsbedienstete während der Abgabe der Urinprobe einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Bf hatte. Am 25. November 2020 wandte sich der Bf an die Justizvollzugsanstalt und machte deutlich, dass er Urinkontrollen mit freier Sicht auf sein Genital als entwürdigende Maßnahme empfinde. Dieser Antrag wurde ablehnend beschieden. Der Bf bemängelte am 7. Dezember 2020 gegenüber Mitarbeitern der Justizvollzugsanstalt erneut die durchgeführte Urinkontrolle als entwürdigend und beschämend.

Anfang Januar 2021 beantragte der Bf eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Er beantragte außerdem die Feststellung, dass die Urinabgaben unter Sichtkontrolle im November und Dezember 2020 rechtswidrig gewesen seien. Ihm seien keine Alternativen zur Abgabe der Urinkontrollen angeboten worden. Die vier durchgeführten Urinproben hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen. Die Justizvollzugsanstalt (JVA) entgegnete im Februar 2021, dass der erste Antrag auf gerichtliche Entscheidung unzulässig sei, weil zuvor kein entsprechender Antrag bei ihr gestellt worden sei. Der zweite Antrag sei unbegründet. Rechtsgrundlage für die Urinkontrollen sei § 65 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW). Die Urinabgabe unter Aufsicht sei notwendig, um Manipulationen oder Täuschungshandlungen auszuschließen. Die angewandte Maßnahme stelle das mildeste Mittel dar und verletze weder die Menschenwürde noch greife sie unzulässig in die Persönlichkeitssphäre ein. Der Bf erwiderte, dass die Eingriffe in die Intimsphäre und sein Schamgefühl nicht unerlässlich seien; die Blutentnahme an der Fingerbeere stelle das mildere Mittel dar.

Das Landgericht verwarf mit Beschluss vom 11. März 2021 den ersten Antrag als unzulässig und den zweiten Antrag als unbegründet. Die Urinkontrollen (Antrag zu 2.) seien rechtmäßig erfolgt. Es gehöre zu den Aufgaben einer JVA den Drogenmissbrauch einzuschränken. Hierfür seien Urinkontrollen unerlässlich. Mit der Anordnung würden auch Belange der Gesundheitsfürsorge verfolgt; außerdem sei die Sicherheit des Strafvollzugs berührt. Die Abgabe einer Urinprobe unter Entblößung des Genitals sei für den Bf auch zumutbar gewesen. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass dies – um Manipulationen auszuschließen – im Beisein eines gleichgeschlechtlichen Vollzugsbeamten erfolgt sei. Dies verletze auch nicht seine Menschenwürde. Aus § 65 StVollG NRW ergebe sich keine Pflicht, eine andere Form der Kontrolle anzubieten. Andere Maßnahmen würden einen gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zur Folge haben.

Hinweis: § 65 Abs.1 StVollG NRW lautet (in der Fassung vom 1. September 2017):

(1) Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt können allgemein oder im Einzelfall Maßnahmen angeordnet werden, die geeignet sind, den Missbrauch von Suchtmitteln festzustellen. Diese Maßnahmen dürfen mit einem geringfügigen körperlichen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein, wenn die Gefangenen einwilligen.

Der Bf erhob gegen den Beschluss des Landgerichts Rechtsbeschwerde, die das OLG Hamm mit Beschluss vom 6. August 2021 als unzulässig verwarf. Die Beschwerde sei hinsichtlich des Verpflichtungsantrags (Antrag zu 1.) unzulässig, weil kein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung vorgelegen habe. Im Hinblick auf den Feststellungsantrag (Antrag zu 2.) sei die Beschwerde ebenfalls unzulässig, weil es nicht geboten sei, die Nachprüfung des angegriffenen Beschlusses zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 8. September 2021 rügt der Bf einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG.

B. Gründe

Die Kammer hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, um die Durchsetzung der Grundrechte des Bf zu ermöglichen ( § 93a Abs. 2, b BVerfGG). Es hat die zulässige Verfassungsbeschwerde für offensichtlich begründet angesehen (vgl. § 93c Abs.1 Satz1 BVerfGG).

Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts – Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG

1.) Verfassungsrechtliche Prüfung bei der Auslegung von Gesetzen

Das BVerfG betont, dass die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzes grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte sind; diese unterliegen der verfassungsrechtlichen Prüfung daraufhin, ob sie die Willkürgrenzen überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechtes verkennen. Grundrechte dürfen nur aufgrund eines Gesetzes und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Dies gilt auch für die Grundrechte von Strafgefangenen.

2.) Eingriff in das Persönlichkeitsrecht

Staatliche Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 2020 – 2 BvR 1810/19). Dabei sind Eingriffe in den Intimbereich und in das Schamgefühl von besonderem Gewicht – auch wenn sie sich im Strafvollzug nicht immer vermeiden lassen. Der Gefangene hat hierbei einen Anspruch auf besondere Rücksichtnahme. Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss des LG Bochum nicht gerecht. Die vom Landgericht vorgenommene Auslegung der Tatbestandsmerkmale der Rechtsgrundlage für die angeordneten Urinkontrollen verkennt die Bedeutung des Persönlichkeitsrechts des Bf.

3.) Urinkontrolle ohne konkreten Verdacht

Nach Auffassung des BVerfG ist es bereits fraglich, ob eine Urinkontrolle auch ohne konkreten Verdacht des Drogenmissbrauchs angeordnet werden könne. Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass eine Urinkontrolle bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für einen Betäubungsmittelkonsum verfassungsgemäß ist. Die Frage, ob im Strafvollzug zur Bekämpfung des Betäubungsmittelkonsums Urinkontrollen auch anlasslos angeordnet werden können, ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten. Nach Ansicht des BVerfG kann diese Frage im vorliegenden Fall jedoch offenbleiben. Das LG hätte sich bei der Frage der beaufsichtigten Urinkontrolle ohne konkreten Anlass damit auseinandersetzen müssen, ob diese unter Berücksichtigung des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung (§ 65 StVollzG NRW) gerechtfertigt sein kann.

Das LG hat darüber hinaus die Änderung von § 65 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NRW (Änderungsgesetz vom 1. September 2017) nicht beachtet; danach dürfe die Maßnahme mittels Punktion der Fingerbeere (Abnahme von Kapillarblut) erfolgen, sofern der Gefangene einwilligt. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht sei so geringer als bei der Abgabe einer Urinprobe im Beisein eines Bediensteten und verhindere Manipulationen genauso effektiv. Das LG habe nicht geprüft, ob die JVA nicht von sich aus die Blutabnahme durch Punktion der Fingerbeere als milderes Mittel hätte anbieten müssen. Die JVA hätte dies von Amts wegen prüfen müssen, um die Verhältnismäßigkeit grundrechtseinschränkender Maßnahmen zu wahren. Dem steht nicht entgegen, dass der Bf vor Anordnung der ersten Urinkontrolle keinen entsprechenden ausdrücklichen Antrag gestellt hat. Der Landesgesetzgeber wollte mit der Änderung von § 65 StVollzG NRW erreichen, dass die Gefangenen selbst entscheiden können, ob sie sich mit der Punktion der Fingerbeere einverstanden erklären oder sich einer beobachteten Urinkontrolle unterziehen wollen.

Das LG habe darüber hinaus versäumt zu prüfen, ob auch die angeordnete Frequenz der Kontrollen unverhältnismäßig sein könnte. Die Vorgehensweise der JVA, vier beaufsichtigte Urinkontrollen innerhalb von fünf Wochen durchführen zu lassen ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Drogenkonsum begegne aufgrund der Eingriffsintensität erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.

4.) Beschluss des OLG Hamm vom 6. August 2021

Das BVerfG sah die Verfassungsbeschwerde auch hinsichtlich des angegriffenen Beschlusses des OLG Hamm wegen Verletzung des Bf in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG für offensichtlich begründet. Wenn das Prozessrecht eine weitere Instanz eröffne, so habe der Betroffene gemäß Art. 19 Abs. 4 GG auch Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Diese dürfe nicht durch die Art und Weise der Auslegung der gesetzlichen Voraussetzungen „leerlaufen“. Diesen Anforderungen hält der angegriffene Beschluss des OLG nicht stand. Zwar erlaube § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen, wenn das OLG – wie hier – die Beschwerde für unzulässig und offensichtlich unbegründet erachtet. Hieraus folgt jedoch nicht, dass sich der Beschluss selbst einer verfassungsrechtlichen Prüfung entzöge. Die Entscheidung ist bereits dann aufzuheben, wenn erhebliche Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Bf bestehen. Dies ist hier angesichts der aufgezeigten inhaltlichen Abweichungen der Entscheidungsgründe des LG von der Rechtsprechung des BVerfG der Fall.

Das BVerfG hat den Beschluss des LG Bochum vom 11. März 2021 und den Beschluss des OLG Hamm vom 6. August 2021 aufgehoben und die Sache an das LG Bochum zurückverwiesen.

C. Anmerkungen

Das BVerfG hat in seinem Beschluss die Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegenüber Maßnahmen des Staates hervorgehoben und gestärkt. Es hat darauf hingewiesen, dass bei Eingriffen in ein Grundrecht in jedem Fall die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme beachtet und gewährt werden müsse. Es wäre sicher hilfreich gewesen, wenn das BVerfG auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Drogenscreenings ohne konkreten Verdacht beantwortet hätte. Es ist unverständlich, warum weder das LG noch das OLG die Änderung von § 65 StVollzG NRW – über drei Jahre vor den Beschlüssen – bei ihren Entscheidungen berücksichtigt haben. Die Rechtssache hätte erst gar nicht zum BVerfG gelangen dürfen.

Abschließend die Leitsätze zum Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juli 2022 (2 BvR 1630/2):

  1. Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 11. März 2021 - V StVK 3/21 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz, der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. August 2021 - III-1 Vollz(Ws) 238+241+334-336/21 - in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz; die Entscheidungen werden aufgehoben.

  2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Bochum zurückverwiesen.

  3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.