BGH zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen beim Mord

BGH zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen beim Mord

Tötungsdelikte in Kombination mit der Abgrenzung von Tun und Unterlassen werden regelmäßig in (Examens-) Klausuren geprüft

Die Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen im Rahmen des § 13 StGB ist mitunter nicht nur materiell-rechtlich schwierig, sondern auch vor dem Hintergrund einer möglichen („fakultativen“) Strafmilderung nach § 49 StGB von besonderer – häufig übersehener – praktischer Relevanz.

A. Sachverhalt

Die R, eine ausgebildete Krankenschwester, steht einer religiösen Gemeinschaft vor. Sie wirkt als von Gott berufene Traumanalystin und Heilbringerin und versteht es, dass ihre Anhänger in Abhängigkeit zu ihr geraten. Um ihre Anhänger für deren berufliche Entwicklung und das wirtschaftliche Fortkommen der Gemeinschaft freizustellen, übernimmt sie die Betreuung der Kleinkinder, zu der sie sich selbst ohnehin ausschließlich befähigt sieht. Die Mütter der von ihr betreuten Kinder unterstützen die R nach ihrer Anweisung. Zu den Kindern, die sich in ihrer Obhut befinden, zählt auch der J, der von seinem 2. Lebensjahr an im Haushalt der R lebt.

R findet, dass das brüllende, sich einnässende, nicht ausreichend oder nicht schnell genug essende und nur leise oder überhaupt nicht sprechende Kind die „Reinkarnation Hitlers und von den Dunklen besessen, ein machtsadistisches Schwein und ein fies dreckig grinsender Kerl“ sei. Aus diesem Grund wird J von ihr ständig misshandelt und vernachlässigt. Die R gelangt zu der Überzeugung, dass das Kind unbelehrbar und, werde es heranwachsen, ein nicht mehr beherrschbares störendes Hindernis im Hinblick auf die berufliche Entwicklung seiner Eltern und das damit verknüpfte wirtschaftliche Fortkommen der Gemeinschaft sein würde. J wird daher von R während der Schlafenszeiten von in aus dünnen Bettlaken gefertigte kleine Säcke ohne Armausschnitte mit einer am oberen Rand zuziehbaren Schnur gesteckt, um so die Bewegungsfreiheit des J einzuschränken. Dadurch wird J nahezu bewegungsunfähig gemacht.

Weil J sich aus dem Sack immer wieder befreien kann, geht R dazu über, ihn nicht mehr nur bis zum Hals in den Sack zu stecken, sondern den Sack rundum und über dem Kopf zu verschnüren. Dadurch schnauft J hörbar nach Luft und der Sack ist feuchtnass vom Schwitzen des Kindes. Ferner hat J ein hochrotes und aufgedunsenes Gesicht und ringt schlotternd nach Luft. R hält dieses Verhalten nur für „Show“. Nach dem J über Nacht erneut in den Sack gesteckt worden war, kommt es am nächsten Morgen zu einer lautstarken Auseinandersetzung mit R und den Eltern von J, die sich ebenfalls im Haus von R aufhalten. J wird aus dem Sack geholt und in die Badewanne im Badezimmer gesetzt, wo er kalt abgeduscht wird. J bleibt jammernd und schreiend dort zurück. Zum Mittagessen erhält er die erste Mahlzeit des Tages in Form einer Portion Haferbrei. Anschließend steckt seine Mutter den sich wehrenden J auf Anweisung der R wieder in den kleinen Sack zurück und bindet diesen über dessen Kopf zu. Danach verlässt sie das Badezimmer wieder.

Am frühen Nachmittag ist das Badezimmer, in dem J immer noch schreit und brüllt, aufgrund der sommerlichen Außentemperaturen aufgeheizt. R geht hinein und weiß aufgrund der vorangegangenen Erfahrungen, dass der im Sack verschnürte J aufgrund Sauerstoffmangels in eine lebensgefährliche Situation geraten würde. Dies verstärkt sich dadurch, dass J im Sack außergewöhnlich lange schreit und brüllt. Aufgrund ihrer Überzeugung, dass J sie weder akzeptiert, nur zum Quälen da war und überdies für die Gemeinschaft und für die Eltern gefährlich und unberechenbar werden könnte, entschließt sie sich, seinen Tod herbeizuführen. Als sie im Bad steht, schließt sie ihrem Entschluss entsprechend das Badezimmerfenster und die Badezimmertür mit der Bemerkung: „jetzt kann Dich keiner mehr hören“ und überlässt J der von ihr geschaffenen Situation. Dann hält sie sich mehrere Minuten vor der Badezimmertür auf und wartet - wie von ihr vorhergesehen - auf den Tod von J.

Ein weiteres Kind, das auf die Schreie des J aufmerksam geworden ist, schickt sie wieder in sein Zimmer. Dann bemerkt R, dass die Schreie des J mehr und mehr „schlotternd“ werden, und wartet solange, bis das Schreien abrupt aufhört. Sie öffnet nur kurz die Badezimmertür und begibt sich in die Küche, wo sie auf die Rückkehr der Eltern von J wartet, die zum Einkaufen gegangen waren. Bei deren Rückkehr erklärt die R, dass es sein könne, dass „der Alte“ den J einmal schneller holen werde als gedacht. Der Vater des J rennt daraufhin in das Badezimmer und stellt die Leblosigkeit seines Sohnes fest. Er befreit ihn aus dem Sack und holte große Mengen von Haferbrei aus seinem Mund. Zeitgleich ruft die Mutter von J den Notarzt an. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. J war an Speisebreiresten in seiner Lunge erstickt und auch der durch das Zuschnüren des Sackes verminderte Sauerstoffgehalt darin trug zum Tod des J bei.

Wie hat sich R strafbar gemacht?

B. Entscheidung

I. Totschlag, § 212 Abs. 1 StGB

R könnte sich wegen Totschlags (durch aktives Tun) nach § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem sie den J in dem „Schlafsack“ eingeschnürt und in dem Badezimmer sich selbst überlassen hat.

J ist tot, der tatbestandliche Erfolg ist eingetreten. Fraglich ist allerdings, ob R diesen Erfolg durch aktives Tun oder – was zu einer Strafmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB führen kann – durch Unterlassen herbeigeführt hat. Für die Entscheidung der Frage, ob ein Tun oder ein Unterlassen vorliegt, kommt es auf den Schwerpunkt des Täterverhaltens an, worüber in wertender Würdigung – also nicht nach rein äußeren oder formalen Kriterien, sondern durch eine normative Betrachtung unter Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns – zu entscheiden ist.

(s. BGH - Beschluss vom 17.08.1999 - 1 StR 390-99 - betreffend das Zurücklassen eines Kindes in einer Wohnung; vgl. auch BGH - Urteil vom 25.06.2010 - 2 StR 454/09 - zum Abbruch einer medizinischen Behandlung: „Es ist (…) sinnvoll und erforderlich, alle Handlungen, die mit einer (…) Beendigung einer ärztlichen Behandlung im Zusammenhang stehen, in einem normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs zusammenzufassen, der neben objektiven Handlungselementen auch die subjektive Zielsetzung des Handelnden umfasst, eine bereits begonnene medizinische Behandlungsmaßnahme gemäß dem Willen des Patienten insgesamt zu beenden oder ihren Umfang entsprechend dem Willen des Betroffenen oder seines Betreuers nach Maßgabe jeweils indizierter Pflege- und Versorgungserfordernisse zu reduzieren.“)

Hier könnte der Schwerpunkt des Verhaltens der R darin zu sehen sein, dass sie den „Schlafsack“ über dem Kopf des J verschnürt hat, wodurch der tödliche Kausalverlauf in Gang gesetzt worden ist; ihr nachfolgendes „Unterlassen“, also in der für J schon herbeigeführten und bestehenden lebensgefährlichen Situation nicht noch einmal nach ihm zu schauen, wäre dann als dem aktiven Tun nachgeschaltetes Täterverhalten zu würden, das nur dazu gedient hat, den einmal durch aktives Tun in Gang gesetzten Geschehensablauf nicht mehr zu unterbrechen. Dazu der BGH:

„II.1. Die vom Landgericht vorgenommene Einordnung des Verhaltens der [R] als positives Tun begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Zwar ist die Strafkammer im Ausgangspunkt zutreffend davon
ausgegangen, dass es bei der Frage, ob ein strafbares Tun oder
Unterlassen vorliegt, auf den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ankommt
(…). Sie hat allerdings in ihre Betrachtung des Gesamtgeschehens ein
Ereignis einbezogen, das sie nicht hätte berücksichtigen dürfen.

a) Das Landgericht hat maßgeblich auf die [anfangs] erteilte Anweisung der [R] an die Kindsmutter, den Sack über den Kopf des
Kindes zu verschnüren, und auf die Gewissheit abgestellt, dass diese
der Anweisung nachkam. Es hat darin (zu Recht) das äußere Ereignis
gesehen, das den tödlichen Kausalverlauf in Gang gesetzt hat, hat
allerdings nicht bedacht, dass zum Zeitpunkt der Handlungsanweisung an
die Kindsmutter ein Tötungsvorsatz der [R] nicht belegt ist. Die
Strafkammer ist im Rahmen der Beweiswürdigung davon ausgegangen, dass
die Angeklagte „spätestens zu dem Zeitpunkt, als sie wie gewohnt J (…)
in der beschriebenen Weise im Bad ablegen ließ, Fenster und Tür des
Badezimmers schloss, dessen Tod wollte“. Der an anderer Stelle im
Urteil zu findenden Erwägung, die [R] habe (in Kenntnis der
Lebensgefährlichkeit eines solchen Ablegens des Kindes) gleichwohl das
zum Tode führende Geschehen wissentlich in Gang gebracht und so den
Tod von J herbeigeführt, lässt sich genau so wenig wie der äußerst
knappen Begründung des (bedingten) Tatvorsatzes der [R] im Rahmen der
rechtlichen Würdigung entnehmen, dass die Strafkammer vom Vorliegen
eines Tötungsvorsatzes schon zum Zeitpunkt der Erteilung der
Handlungsanweisung zeitlich weit vor dem Todestag ausgegangen ist.

Bei einem Erfolgsdelikt muss der Täter im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung einen Vorsatz haben, der auf alle tatsächlichen
Umstände bezogen ist, die die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands
erfüllen (§ 16 Abs. 1 StGB). Ein der erfolgsursächlichen Handlung
nachfolgender Vorsatz (sog. dolus subsequens) ist bedeutungslos (…).
Dies führt hier im Rahmen der Abgrenzung von Tun und Unterlassen dazu,
solche Verhaltensweisen außer Betracht zu lassen, die nicht vom
Vorsatz der [R] getragen waren. Das Landgericht hätte deshalb bei
seiner Prüfung die vor dem Tattag noch ohne Tötungsvorsatz erteilte
Anweisung der [R] nicht berücksichtigen dürfen.

b) Die Strafkammer hat bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen nicht in ihre Würdigung eingestellt, dass die [R] das
Badezimmerfenster und die Badezimmertür schloss, ebenso wenig hat es
in den Blick genommen, dass die [R] ihren Sohn, der zwischenzeitlich
auf die Geschehnisse aufmerksam geworden war, wieder in sein Zimmer
zurückschickte. Insbesondere der letztgenannte Umstand könnte ein als
ein vom Vorsatz getragenes, für den Tod des [J] kausal gewordenes
positives Tun zu wertendes Verhalten sein, wenn die [R] damit aktiv
einen von ihrem Sohn eingeleiteten rettenden Kausalverlauf vereitelt
hätte (…). Dies erscheint mit Blick darauf, dass der Sohn [der R]
zuvor J aus bedrohlicher Situation befreit, dabei die
Lebensbedrohlichkeit der Situation erkannt und die [R] darauf
hingewiesen hatte, nicht ausgeschlossen. Nähere Feststellungen dazu,
ob der Sohn [der R] aus seinem Zimmer die Treppe herunterkam, um J zu
helfen oder einfach auch nur „neugierig“ war, finden sich in den
Urteilsgründen jedoch nicht. Auch den Zeugenangaben des Sohnes [der R]
lassen sich Hinweise auf tatsächliche oder beabsichtigte
Rettungsbemühungen nicht entnehmen. Schon aus diesem Grund war der
Senat gehindert, mit Blick auf die Einwirkung der [R] auf ihren Sohn
ein positives Tun anzunehmen. Darauf, ob der Senat die fehlerhafte
Würdigung des Landgerichts durch eine eigene ersetzen kann (…) oder ob
dem § 265 StPO entgegenstünde, kommt es nicht mehr an.

c) Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt das Urteil insgesamt auf, um dem Tatrichter Gelegenheit zu geben,
widerspruchsfreie Feststellungen zu den zum Tod von J führenden
objektiven Geschehensabläufen und zum jeweiligen subjektiven
Vorstellungsbild der [R] zu treffen. Dabei wird sich das Landgericht
auch näher mit der Frage zu befassen haben, ob die [R] nicht bereits
vor dem eigentlichen Tattag, etwa im Zusammenhang mit Anweisungen nach
den Rettungsbemühungen ihres Sohnes des Inhalts, der aus Sicht ihres
Sohnes lebensgefährliche Zustand von J sei „nur Show und er (solle)
sich nicht darum kümmern“ (…), (bedingten) Tötungsvorsatz aufgewiesen
hat.“

Für die Entscheidung, ob R den Tod durch aktives Tun oder durch Unterlassen herbeigeführt hat, kommt es demgemäß nicht nur auf den äußeren Geschehensablauf an, sondern auch darauf, ob die R zu dem für beginnend tötungskausal gehaltenen Zeitpunkt Tötungsvorsatz hatte. Wenn R erst später einen entsprechenden Vorsatz gefasst hätte (sog. dolus subsequens), wäre dies dagegen unbeachtlich (vgl. dazu auch BGH, NStZ 2018, 27: „Daher tritt eine Strafbarkeit wegen vollendeter Vorsatztat nur ein, wenn die vom Vorsatz getragene Handlung den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigeführt hat“).

Nach jetzigem Stand – mangels weiterer Feststellungen – lässt sich die Abgrenzung nicht vornehmen. Es steht allerdings bereits fest, dass der Tatbestand des § 212 StGB hier von R verwirklich worden ist.

R handelte rechtswidrig. Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich.

Hinweis: Es ist aber fraglich, ob R hier im Zustand verminderter Schuldfähigkeit gehandelt hat, was nach Maßgabe von § 49 StGB zu einer Herabsetzung des Strafrahmens führen würde. Dazu der BGH:

„II.2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass auch die Prüfung einer Einschränkung der Schuldfähigkeit der [R] nach
§§ 20, 21 StGB eingehenderer Erörterung als bisher geschehen bedarf.
Das Landgericht ist sachverständig beraten davon ausgegangen, dass bei
der [R] eine narzisstische Persönlichkeitsstörung gegeben sei, die
allerdings tatzeitbezogen bei ihr einen forensisch relevanten
Schweregrad nicht erreicht habe. Dabei hat die Strafkammer das
„Größengefühl in Bezug auf die eigene Bedeutung als jesusgleich, ihre
Überzeugung einmalig zu sein sowie ihr Bedürfnis nach übermäßiger
Bewunderung und hochmütiger Attitüde sowie ihren Mangel an Empathie“
in den Blick genommen. Nicht auseinander gesetzt hat sich das
Landgericht mit der besonderen Beziehung, die die [R] nach den
Feststellungen zu J hatte. Sie bezeichnete ihn als „Reinkarnation
Hitlers, der von Dunklen besessen, ein machtsadistisches Schwein und
ein fies dreckig grinsender Kerl“ sei, und prophezeite, dass er „eine
heranwachsende Gefahr für alle sei und es mit ihm und für die
Gemeinschaft ein schlimmes Ende nehmen“ werde. Sie misshandelte und
vernachlässigte J deshalb von Beginn ihrer Obhut über Jahre hinweg, so
dass dieser schweren körperlichen Schaden nahm: J war dünn,
untergewichtig und klein, konnte nicht sprechen und nicht selbständig
laufen; er war von gebeugter Haltung mit dunklen Augenringen und
greisenhaftem Antlitz. Es liegt auf der Hand, dass diese von der [R]
auch im Rahmen der Gemeinschaft geäußerte Einschätzung eines
Kleinkindes keinerlei Bezug zur Realität aufweist und der auf dieser
Einordnung beruhende Umgang mit J weit außerhalb eines auch nur
annähernd geordneten normalen Umgangs mit Kindern liegt. Ob hinter
diesen Verhaltensweisen Züge einer (möglicherweise religiös bedingten)
wahnhaften Verkennung der Realität stehen, ob diese (lediglich)
Ausdruck der Strategie waren, mit der die [R] die
„Glaubensgemeinschaft“ in Abhängigkeit brachte, oder ob es hierfür
noch andere Gründe gibt, die für die Schuldfähigkeit der [R] von
Bedeutung sein können, hätte vor dem Hintergrund der getroffenen
Feststellungen der Erörterung bedurft. Dies wird der neue Tatrichter,
zweckmäßigerweise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen,
nachzuholen haben.“

R hat sich wegen Totschlags nach § 212 StGB strafbar gemacht.

II. Mord, § 211 StGB

R hat sich – entweder durch aktives Tun oder durch Unterlassen (s.o.). – auch wegen Mordes nach § 211 StGB strafbar gemacht, und zwar aus niedrigen Beweggründen. Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe einer Tat „niedrig“ sind, also nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren vorzunehmen; allein ein schweres Missverhältnis zwischen Anlass der Tat und Tötung genügt für sich genommen nicht, sondern maßgebend sind vielmehr die Gesamtumstände, zu denen auch Besonderheiten in der Persönlichkeit des Täters und seine seelische Situation zur Tatzeit gehören.

In subjektiver Hinsicht muss hinzukommen, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen hat und, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen in Betracht kommen, diese gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern kann; dies ist nicht der Fall, wenn der Täter außer Stande ist, sich von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen.

R hat den J als lästigen und unbequemen Störer bei dem „Betrieb“ ihrer religiösen Gemeinschaft empfunden und ihn in menschenverachtender Weise - tierähnlich – im Badezimmer „gehalten“, ihm jedes Existenz- und Lebensrecht abgesprochen und in J „die Reinkarnation Hitlers, der von Dunklen besessen, ein machtsadistisches Schwein und ein fies dreckig grinsender Kerl“ gesehen, dessen geistige und körperliche Entwicklung sie schon über Jahre unterdrückt und ihn zu einem „Unwesen“ gemacht hat.

R hat sich auch wegen Mordes (§ 211 StGB) strafbar gemacht.

C. Prüfungsrelevanz

Die Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen im Rahmen des § 13 StGB ist mitunter nicht nur materiell-rechtlich schwierig, sondern auch vor dem Hintergrund einer möglichen („fakultativen“) Strafmilderung nach § 49 StGB von besonderer – häufig übersehener – praktischer Relevanz. Im Hinblick etwa auf eine Strafbarkeit wegen Mordes nach § 211 StGB, die an sich eine lebenslange Freiheitsstrafe nach sich zöge, tritt an deren Stelle eine zeitige Freiheitsstrafe zwischen drei und 15 Jahren (s. § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Hinzukommen kann sogar noch eine weitere („doppelte“) Strafrahmenmilderung, wenn etwa – wie vorliegend angedacht worden ist – auch noch die Voraussetzungen des § 21 StGB erfüllt sind und die Grenzen des § 50 StGB (Doppelverwertungsverbot) nicht überschritten sind.

Zu bedenken ist ferner, dass die Kausalitätsfeststellung bei einem unechten Unterlassungsdelikt von einer Hypothese abhängt, also anzunehmen sein muss, dass durch ein Eingreifen des Täters bei einer bestehenden Rettungsmöglichkeit der Tod des Opfers, wie er konkret eingetreten ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre; darüber muss sich der Täter bewusst sein.

Zu „niedrigen Beweggründen“ (§ 211 StGB) anlässlich der gewaltsamen Tötung eines unter Drogeneinfluss stehenden 13-Jährigen, der zufällig mit einem Erwachsenen „aneinander geraten“ war, durch einen gezielten Messerstich in die Brust, hat der BGH (Urt. v. 30.03.2022 – 4 StR 358/21) jüngst ausgeführt:

„(…) dass der [Täter] dem Kind durch den tödlichen Messerstich „eine
Lektion erteilen und als Sieger vom Platz gehen“ wollte, weil der
„kleine arabische Hurensohn“ keinen Respekt gezeigt habe, weshalb
„dessen Mutter weinen“ solle. [Deswegen könne] die Tat von dem Motiv
(…) getragen gewesen sein (…), das kindliche Opfer für dessen aus
seiner Sicht respektloses Verhalten mit dem Tod zu bestrafen. Dies
würde die Annahme niedriger Beweggründe nahelegen (…). Dies gilt hier
umso mehr, als der [Täter] das von ihm als respektlos angesehene
Verhalten erst ausgelöst hatte (…) sowie das Ausmaß der Eskalation
bestimmte und es sich bei dem Opfer um ein - vom [Täter] und seiner
Begleiterin als „Junge“ wahrgenommenes - 13-jähriges Kind handelte.
Dass der [Täter] den Entschluss spontan gefasst hat, schließt die
Annahme niedriger Beweggründe nicht aus (…). [Ferner habe er] (…) auf
das völlig belanglose Alltagsereignis („Beinahe-Zusammenstoß“) maßlos
übertrieben reagiert, indem er den Jungen im Weitergehen anpöbelte und
zurechtwies und „aus heiterem Himmel“ explodierte.“

Tötungsdelikte werden in juristischen (Examens-) Klausuren immer wieder geprüft.