BGH zu Selbsthilfe mittels geladener Schusswaffe - Teil 1

BGH zu Selbsthilfe mittels geladener Schusswaffe - Teil 1

Forderungsbeitreibung mit Schrotflinte: Mord?

Die Entscheidung lenkt den Blick auf zwei prüfungsrelevante Themenbereiche, die sich – praxisnah – gut miteinander kombinieren lassen: Die durch Drohung mit einer (später abgefeuerten und tödlich wirkenden) Schusswaffe gewollte Herausgabe von Gegenständen, auf die ein zivilrechtlicher Anspruch besteht, berührt sowohl die Vorschriften über die Tötungsdelikte nach den §§ 212, 211 StGB als auch die der Vermögensdelikte gemäß den §§ 249 ff., 253 ff. StGB. Die gesamten Umstände des Einzelfalls sind unter Einbeziehung des Zivilrechts sowohl bei den Voraussetzungen der Mordmerkmale zu berücksichtigen als auch beim (versuchten) Raub bzw. bei der (versuchten) räuberischen Erpressung.
Da es sich insgesamt um eine lesenswerte und mit reichlich Prüfungsstoff versehene Entscheidung handelt (BGH, Urteil vom 15.12.2021 – 6 StR 312/21), besprechen wir in diesem ersten Teil zunächst die Strafbarkeit im Rahmen der Tötungsdelikte nach den §§ 212, 211 StGB.

A. Sachverhalt

Der P und der L stehen in einer geschäftlichen und nahezu freundschaftlichen Beziehung, wenngleich der L den sich unterlegen fühlenden P bei diversen Fahrzeuggeschäften übervorteilt, in einem Fall auch demütigt. L hat aus einem durch Eigentumsumschreibung im Grundbuch bereits vollzogenen Grundstückskauf den nicht notariell beurkundeten Kaufpreisteil von 30.000 Euro noch nicht an P gezahlt und diesen deswegen immer wieder vertröstet. P plant deshalb, den Kaufpreis von 22.500 Euro für ein weiteres Fahrzeug anlässlich der Übergabe nicht an L zu bezahlen, sondern insoweit mit der ihm aus dem Grundstücksverkauf noch zustehenden Restkaufpreisforderung aufzurechnen.
Da P damit rechnet, dass der ihm als profitorientiert, unnachgiebig, aggressiv und aufbrausend bekannte L das nicht akzeptieren werde, legt er eine mit sechs Schrotpatronen geladene Vorderschaftrepetierflinte in einem auf seinem Grundstück befindlichen Überseecontainer bereit, um den L nach der Überführung des Fahrzeugs – ggfs. unter Abgabe eines Warnschusses – einzuschüchtern und dazu zu veranlassen, ihm Fahrzeugschlüssel und -papiere herauszugeben.
Unter dem Vorwand, den Kaufpreis dort entrichten zu wollen, lockt P den L in den Container und schließt die Tür. Nach einer verbalen Auseinandersetzung ergreift er die geladene Waffe, richtet sie auf L und erklärt, gegen den Kaufpreisanspruch mit seiner Restforderung aus dem Grundstücksgeschäft aufzurechnen. Er verlangt von L mit vorgehaltener Waffe die Herausgabe des Fahrzeugschlüssels und der Fahrzeugpapiere.
Da dieser sich weigert, gibt P, auch um seiner Ernsthaftigkeit Nachdruck zu verleihen, einen Warnschuss in Richtung Containerwand ab, richtet die Waffe wieder auf L und lädt die Waffe nach. L ist weiterhin nicht bereit, dem P ohne Kaufpreiszahlung Fahrzeugschlüssel und -papiere zu übergeben. Er tritt wütend, mit lauter Stimme protestierend auf den P zu und will nach der Waffe greifen. P erkennt, dass sein Einschüchterungsversuch gescheitert ist, und fürchtet eine gewaltsame Auseinandersetzung. Ohne dies geplant oder zuvor auch nur in Erwägung gezogen zu haben, schießt der P aus einer Entfernung von etwa 50 cm auf den L. Die abgefeuerte Schrotladung trifft diesen tödlich. Den Tod des L nimmt der P billigend in Kauf.
Wie hat sich P nach dem StGB strafbar gemacht?

B. Entscheidung

I. Totschlag, § 212 Abs. 1 StGB

P hat sich wegen Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er den L mit bedingtem Vorsatz (sog. dolus eventualis) mittels des abgegebenen Schusses aus seiner Schrotflinte getötet hat.
Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen der Notwehr nach § 32 StGB lagen nicht vor; P versah sich keines rechtswidrigen Angriffs auf seine Person.

II. Mord, § 211 StGB

Fraglich ist, ob sich P auch wegen Mordes nach § 211 StGB strafbar gemacht hat, indem er den L erschossen hat. Als Mordmerkmale kommen Heimtücke, Habgier und niedrige Beweggründe in Betracht.

1. Heimtücke

P könnte den L heimtückisch getötet haben. Heimtückisch tötet, wer die Arglosigkeit und die infolge der Arglosigkeit bestehende Wehrlosigkeit des Angegriffenen bewusst zur Begehung der Tat ausnutzt. Wesentlich an der Heimtücke ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch hindert, dem Angriff auf sein Leben zu begegnen oder diesen zu erschweren. Arglos ist daher, wer sich keines tätlichen Angriffs von Seiten des Täters versieht. Wehrlosigkeit besteht darin, dass das Opfer in seiner natürlichen Abwehrfähigkeit beeinträchtigt ist. Eine (ungeschriebene) Voraussetzung ist zudem, dass der Mörder die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt. Der Täter muss die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers allerdings nicht selbst herbeiführen oder bestärken und muss diese auch nicht zur ursächlichen Bedingung des eigenen Handelns machen, ebenso wird ein über das Bewusstsein der Lageausnutzung hinausgehender Wille nicht vorausgesetzt. Es genügt hingegen, wenn der Täter im Augenblick der Tatbegehung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers wahrgenommen hat. Dazu der BGH (NStZ 2019, 520, 521): „Das gilt in objektiv klaren Fällen selbst dann, wenn der Täter die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat (…). Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt. Anders kann es zwar bei heftigen Gemütsbewegungen liegen, jedoch sprechen auch eine Spontaneität des Tatentschlusses sowie eine affektive Erregung des Angeklagten nicht zwingend gegen ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers.“
Zum Zeitpunkt der Abgabe des zweiten – tödlichen – Schusses aus der Flinte könnte L noch arg- und wehrlos gewesen sein. Dafür könnte sprechen, dass er sich trotz der vorgehaltenen Waffe und der Abgabe des Warnschusses keines tätlichen Angriffs von Seiten des L versah, weil er darauf vertraut hat, dass der – ihm freundschaftlich und geschäftlich verbundene – P ihm nur droht, aber nicht auf ihn schießen wird. Dafür spricht indiziell auch, dass L nach Abgabe des ersten Schusses noch wütend und mit lauter Stimme protestierend auf den P zugeht und nach der Waffe greifen will – weil er davon ausgeht, dass P schon nicht auf ihn schießen werde. Andererseits wusste L um die offene Drohung des P, der einen Warnschuss abgegeben und die Waffe wieder auf ihn gerichtet hatte. Dazu der BGH:

„II.1.a Es kann offenbleiben, ob der [L] im Augenblick der mit Tötungsvorsatz erfolgten Abgabe des zweiten Schusses entsprechend der Auffassung des Generalbundesanwalts noch arg- und wehrlos war. Jedenfalls ist das Landgericht aufgrund tragfähiger Feststellungen rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass der [P] hierbei ohne Ausnutzungsbewusstsein handelte.
aa) Für das Ausnutzungsbewusstsein genügt es, wenn der Täter die die Heimtücke begründenden Umstände nicht nur in einer äußerlichen Weise wahrgenommen, sondern in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst hat, dass ihm bewusst geworden ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (st. Rspr.; …). Dabei kann die Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte (…). Allerdings hindert nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen; dies ist vielmehr eine vom Tatgericht zu bewertende Tatfrage (…).
bb) Daran gemessen ist die Annahme des Landgerichts, dass der [P] eine etwaige Arg- und Wehrlosigkeit des [L] jedenfalls nicht bewusst ausgenutzt habe, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Der [P] hatte sich nur deshalb bewaffnet, um den vom ihm als überlegen angesehenen und erfahrungsgemäß in Geldangelegenheiten aggressiv Reagierenden bei der Durchsetzung seiner Forderung einzuschüchtern und dessen Überlegenheit etwas entgegensetzen zu können. Er schoss nach Abgabe eines Warnschusses spontan und impulsiv, weil er aufgrund der offensiven Reaktion des Geschädigten sein Vorhaben als gescheitert ansah und fürchtete, erneut zu unterliegen.“

Es fehlt mithin hier an der subjektiven Voraussetzung eines Ausnutzungsbewusstseins bei P. Dieses Bewusstsein kann im Einzelfall zwar bereits aus dem objektiven Bild des Tatgeschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt (BGH, NStZ-RR 2021, 374, 375), und es setzt auch weder längere Überlegung noch planvolles Vorgehen voraus (BGH, NStZ 2019, 26, 27). P handelte hier zwar spontan und impulsiv, allerdings um dem L etwas entgegen zu setzen.
P hat sich damit das Mordmerkmal der Heimtücke nicht verwirklicht.

2. Habgier

P könnte den L aber aus Habgier getötet haben. Habgierig handelt, wer einen Menschen aus Gründen der Vermögensmehrung umbringt. Voraussetzung hierfür ist, dass sich das Vermögen des Täters – objektiv oder zumindest nach seiner Vorstellung – durch den Tod des Opfers unmittelbar vermehrt oder dass durch die Tat jedenfalls eine sonst nicht vorhandene Aussicht auf eine Vermögensvermehrung entsteht, also etwa dann, wenn ein vermögensloser und nicht krankenversicherter Täter eine schwere Straftat begehen will, um langfristig Unterkunft, Verpflegung und Krankenversorgung in einer Haftanstalt zu erhalten und in dieser Absicht mit seinem Fahrzeug mit min. 80 km/h gezielt von hinten auf einen Fahrradfahrer – mit tödlichem Ausgang – auffährt (vgl. BGH, NStZ 2020, 733). Hier könnte für eine Habgier des P sprechen, dass er seine Forderung gegen L durchsetzen will. Dazu aber der BGH:

„II.2.b)aa) Der [P] hat den [L] nicht aus einem Streben nach materiellen Gütern oder Vorteilen getötet, das in seiner Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit das erträgliche Maß weit übersteigt und in der Regel durch eine ungehemmte triebhafte Eigensucht bestimmt ist (…). Ursprünglich wollte der [P] seine berechtigte Forderung durchsetzen und strebte nicht in der erforderlichen gesteigerten Weise nach Gewinn oder Vorteilen; vielmehr zielte sein Vorgehen auf die Herstellung eines rechtskonformen Zustands ab (…). Im Zeitpunkt der Abgabe des tödlichen Schusses ging es ihm ohnehin allenfalls noch am Rande um die Durchsetzung seines Anspruchs, weil ihm der Tod des [L] hierzu nicht nützlich sein konnte.“
P hat den L nicht aus Habgier getötet.

3. Sonstige niedrige Beweggründe

P könnte aber aus sonstigen niedrigen Beweggründen getötet haben. Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe einer Tat „niedrig“ sind, also nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren vorzunehmen; allein ein schweres Missverhältnis zwischen Anlass der Tat und Tötung genügt für sich genommen nicht, sondern maßgebend sind vielmehr die Gesamtumstände, zu denen auch Besonderheiten in der Persönlichkeit des Täters und seine seelische Situation zur Tatzeit gehören (s. nur BGH, NStZ 2020, 617, Rn. 9). In subjektiver Hinsicht muss hinzukommen, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen hat und, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen in Betracht kommen, diese gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern kann; dies ist nicht der Fall, wenn der Täter außer Stande ist, sich von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen (BGH, NStZ 2018, 527). Dazu hier der BGH:

„II.2.b)bb) Das Vorliegen niedriger Beweggründe hat das Landgericht unter Hinweis auf die durch den [L] im Vorfeld erlittene Demütigung und die diesem von [P] bislang entgegengebrachte Wertschätzung tragfähig verneint (…). Denn mit Blick hierauf und auf die Gefälligkeiten zu Gunsten des [L], demgegenüber der [P] zuvor stets nachgegeben und dem er sich gefügt hatte, beruhten die Antriebsregungen ihrerseits nicht auf einer niedrigen Gesinnung (…).“
P hat damit auch nicht aus niedrigen Beweggründen getötet.

4. Ergebnis

P hat sich nicht wegen Mordes nach § 211 StGB strafbar gemacht.

C. Anmerkung

Der 6. Strafsenat hat sich in der hiesigen Konstellation zunächst vertiefend mit dem sog. Ausnutzungsbewusstsein beim Heimtückemord befasst und die BGH-Rechtsprechung insoweit gefestigt. In der kommenden Woche beschäftigen wir uns mit der Strafbarkeit des P im Rahmen der Vermögensdelikte. Von Bedeutung – auch im Prüfungsaufbau – sind hier die Erwägungen des Senats zur Rechtswidrigkeit der Zueignung beim Raub bzw. der Absicht rechtswidriger Bereicherung bei der Erpressung. Insoweit ist jeweils das Zivilrecht heranzuziehen, das zu einer genauen Prüfung zwingt, ob dem Täter ein fälliger und einredefreier Anspruch, dessen Durchsetzung er „erzwingen“ will, gegen das Tatopfer zusteht oder nicht. Diese Überlegungen sind auch eingeflossen in die Wertung der „niedrigen Beweggründe“ (§ 211 StGB).