BVerfG zum Recht auf schulische Bildung: Bundesnotbremse II

BVerfG zum Recht auf schulische Bildung: Bundesnotbremse II

Wo sind die Grenzen des Grundrechts auf Bildung und welche Grundrechte stehen dem gegenüber?

Das BVerfG hat in seiner sehr ausführlichen Entscheidung (70 Seiten) zur Bundesnotbremse II das Recht der Schülerinnen und Schüler auf Bildung umfassend dargestellt, die verschiedenen Dimensionen dieses Rechts herausgearbeitet und die Pflicht des Staates hervorgehoben, dieses Grundrecht auch zu gewährleisten. Es hat gleichzeitig deutlich auf die Grenzen dieses Rechts hingewiesen. Diesem Grundrecht auf Bildung steht das Recht der Bevölkerung auf Leben und Gesundheit gegenüber sowie –damit zusammenhängend– der Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung. Das BVerfG hat die die Individualinteressen der betroffenen Schülerinnen und Schülern sowie ihrer Eltern sorgfältig und detailliert gegen das Allgemeininteresse abgewogen. Das Ergebnis dieser Abwägung war die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit des zeitweiligen Verbots von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden Schulen.

A. Sachverhalt

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen das Verbot und die Beschränkungen von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden Schulen  zum Zwecke des Infektionsschutzes . Dieses Verbot beruhte auf § 28b Abs. 3 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) und war Teil eines Gesamtschutzkonzepts zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus (Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22.4.2021, BGBL I S. 802). Danach war der Präsenzunterricht an Schulen untersagt, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt  die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Wert von 165 (je 100 000 Einwohnern) überschritt. Ab einem Wert von 100 durfte der Unterricht nur in Form von Wechselunterricht stattfinden (§ 28b, Abs. 3. Satz 2,3 IfSG). Abschlussklassen und Förderschulen sowie praktische Ausbildungsanteile an berufsbildenden Schulen konnten die Länder von diesem Verbot ausnehmen. Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte mussten für den Präsenzunterricht zweimal in der Woche auf Infektionen mit dem Coronavirus getestet werden. Die Geltung dieser Vorschrift war längstens bis zum 30. Juni 2021 begrenzt. Die Verbote von Präsenzunterricht wurden begleitet von der Einführung eines Distanzschulbetriebes sowie einer schulischen Notbetreuung, deren Ausgestaltung den Ländern oblag.

Die beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler rügten die Verletzung ihres Rechts auf Bildung. Das Verbot des Präsenzunterrichts sei unverhältnismäßig. Die Eltern der Schülerinnen und Schüler machten unter anderem geltend, dass ihr nach Art. 6 Abs. 1 GG geschütztes Recht auf freie Gestaltung des Familienlebens durch das Verbot unverhältnismäßig beeinträchtigt worden sei.

Zu den Verfassungsbeschwerden haben die Bundesregierung, der Deutsche Bundestag und die Bayrische Staatsregierung Stellung genommen. Außerdem hat das BVerfG gemäß § 27a BVerfGG zahlreichen sachkundigen Dritten aus Medizin, Infektionsforschung, Pädagogik und Schulforschung anhand eines Fragenkatalogs Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Verfassungsbeschwerden blieben ohne Erfolg.

B. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden

Das BVerfG sah die Verfassungsbeschwerden für zulässig an, soweit sich diese gegen das Verbot des schulischen Präsenzunterrichts nach § 28b Abs. 3 IfSG richteten.

Dagegen verneinte das BVerfG die Zulässigkeit, soweit diese die Regelungen zur Testobliegenheit(§ 28b, Abs. 3, Satz 1 IfSG) und die inzidenzabhängige Schließung von Kindertagesstätten (§ 28b, Abs. 3 Satz 10 IfSG) angriffen. Hier fehle es an einer eigenen unmittelbaren Betroffenheit sowie an der Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung.

C. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerden bleiben erfolglos; zwar sei das Recht auf schulische Bildung der Schülerinnen und Schüler grundrechtlich geschützt. Dies werde aber durch das Verbot von Päsenzunterricht nicht verletzt. Dies gelte auch für das Recht der beschwerdeführenden Eltern auf freie Bestimmung des Bildungsganges ihrer Kinder (II) sowie für das geltend gemachte Familiengrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG (III).

I. Eingriff in das Recht auf schulische Bildung

Das BVerfG hebt hervor, dass das Verbot von Präsenzunterricht in das geschützte Recht auf schulische Bildung (Art. 2, Abs. 1 i. V. Art. 7, Abs. 1 GG) eingriff, dieser Eingriff jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt war.

1.) Hervorhebung des Rechts

Mit dem Auftrag des Staates zur Gewährleistung schulischer Bildung nach Art. 7 Abs. 1 GG korrespondiert ein Recht der Kinder auf freie Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG; dieses umfasst auch das Recht gegenüber dem Staat auf schulische Bildung als weitere Grundbedingung für die chancengerechte Entwicklung der Kinder zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit.

2.) Schutzbereich des Rechts

Der Schutzbereich des Rechts umfasst, soweit es nicht um die berufsbezogene Ausbildung geht, die Schulbildung als Ganzes. Die Schulbildung umfasst nicht nur die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, sondern auch die Allgemeinbildung und Erziehung und damit die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu Persönlichkeiten. Die Schulbildung ergänzt so die elterliche Pflege und Erziehung bei der Förderung der Entwicklung der Kinder.

3.) Gewährleistungsdimensionen des Rechts

Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen. Das BVerfG stell zunächst dar, was das Recht auf schulische Bildung nicht umfasst. Es gibt den Schülerinnen und Schülern keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen; es vermittelt auch keinen Anspruch auf Beibehaltung vorhandener schulischer Strukturen. Der Staat hat bei der Gestaltung von Schulen nach Art. 7 Abs. 1 GG einen weiten Spielraum und kann sich auf den Vorbehalt des Möglichen berufen. Dies gilt auch für das Recht der Eltern auf Bestimmung des Bildungsweges ihrer Kinder (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG). Die Eltern haben nur einen Anspruch auf Einhaltung eines unverzichtbaren Mindeststandards bei der Gestaltung schulischer Strukturen. Dasselbe gilt auch für das Recht der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 7 Abs. 1 GG. Hieraus können keine individuellen Ansprüche auf wunschgemäße Gestaltung von Schulen abgeleitet werden. 

Der Staat kann sich darüber hinaus bezüglich des Rechts auf schulische Bildung auf einen Vorbehalt des Möglichen berufen. Der Gesetzgeber entscheidet in eigener Verantwortung in welchem Umfang er die vorhandenen Mittel für Zwecke der Schulbildung einsetzt. Er muss bei seiner Entscheidung allerdings das überragende Gewicht des Rechts auf chancengleiche schulische Bildung angemessen berücksichtigen. Hieraus folgt ein grundrechtlich geschützter Anspruch auf Einhaltung eines für die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit unverzichtbaren Mindeststandards von staatlichen Bildungsangeboten. Dieses Recht auf gleichen Zugang zu schulischer Bildung besteht nur nach Maßgabe der vom Staat zur Verfügung gestellten Bildungsgänge und Schulstrukturen. Daneben hat das Recht auf schulische Bildung auch eine Abwehrdimension: Schüler können sich dagegen wehren, wenn die schulische Entfaltungsmöglichkeit durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt wird (z.B. durch belastende Ordnungsmaßnahmen). Das vom Staat bereitgestellte Schulsystem darf dabei nicht berührt werden. Gewahrt bleiben muss bei allen möglichen Änderungen schulischer Strukturen nur ein unverzichtbarer Mindeststandard schulischer Bildung.

4.) Schülerinnen und Schüler an Privatschulen

Das Recht auf schulische Bildung nach Art. 2 Abs. 1 i.V. Art. 7 Abs. 1 GG gilt auch für Schülerinnen und Schüler an Privatschulen; hier hat die abwehrrechtliche Funktion gegen solche staatlichen Maßnahmen, die ausgestaltete und vertraglich vereinbarte Möglichkeiten schulischer Bildung einschränken, eine besondere Bedeutung.

5.) Eingriffsqualität des Verbots von Präsenzunterricht gem. § 28b Abs. 3 Satz 2 u. 3 IfSG

Das bundesgesetzliche Verbot von Präsenzunterricht stellte nach Auffassung des BVerfG einen Eingriff in das Recht auf schulische Bildung dar. Da es sich bei den Verfassungsbeschwerden nicht um Teilhabe und leistungsrechtliche Aspekte handelte, ist hier der abwehrrechtliche Gehalt des Grundrechts auf schulische Bildung betroffen. Das Verbot von Präsenzunterricht diente allein dem gefahrenabwehrrechtlichen Ziel der Bekämpfung der Pandemie durch Verhinderung zwischenmenschlicher Kontakte an den Schulen. Das Schulsystem an sich blieb unverändert bestehen.

II. Formelle Verfassungsmäßigkeit der Maßnahme

1.) Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes

Der Bund hatte für das Verbot von Präsenzunterricht (§ 28b Abs. 3 Satz 2 u. 3 IfSG) die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, da es sich um eine Maßnahme gegen übertragbare Krankheiten beim Menschen handelte. Das BVerfG ist bei der Auslegung des Kompetenztitels und der Zuordnung zu einer Kompetenznorm des Grundgesetzes genauso vorgegangen wie bei seinem Beschluss zur Bundesnotbremse I und hat auch hier die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes bejaht. Dieser Kompetenzzuordnung steht auch nicht entgegen, dass die Gewährleistung schulischer Bildung nach Art. 7 Abs. 1 GG den Ländern zusteht. Zwar greift die Vorschrift des § 28 Abs. 3 IfSG  in diesen Bereich ein; sie stellt aber eine Vorschrift zur Bekämpfung von Erkrankungen durch das Coronavirus bei einer (vom Bundestag festgestellten) epidemischen Lage von nationaler Tragweite dar (§ 28b Abs. 10 IfSG) und ist daher nicht dem Schulrecht der Länder zuzuordnen.

2.) Keine Zustimmungsbedürftigkeit durch die Länder

Das Vierte Gesetz zum Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage vom 22. April 2021 ist ohne die Zustimmung des Bundesrates wirksam zustande gekommen, weil es einer solchen Zustimmung weder nach Art. 104a Abs. 4 GG noch nach Art. 80 Abs. 2 GG bedurfte.

a.) Art. 104a  Abs. 4 GG

Nach Art. 104a Abs. 4 GG bedürfen Bundesgesetze, wenn diese Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbare Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheiten ausgeführt werden, der Zustimmung des Bundesrates, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind. Diese Voraussetzungen sind nach Auffassung des BVerfG nicht erfüllt. Zwar wird das Infektionsschutzgesetz von den Ländern in eigener Angelegenheit ausgeführt, das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung… begründet jedoch keine Pflichten zur Erbringung von Geldleistungen gegenüber Dritten. Die Länder müssen auch keine geldwerten Sachleistungen gegenüber Dritten     erbringen. Auch wenn das Gesetz für den Präsenzunterricht eine wöchentlich zweimalige Testung der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte vorschrieb, waren dies keine gegenüber Dritten zu erbringenden geldwerten Sachleistungen im Sinne des Art 104a Abs. 4 GG. Anders wäre dies, wenn das Gesetz nach seinem objektiven Regelungsgehalt bezwecken würde, Dritten einen Vorteil zu verschaffen. Der Zweck der Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 104a Abs. 4 GG besteht darin, die Länder davor zu schützen, dass ohne ihre Zustimmung Bundesgesetze erlassen werden, auf Grund derer sie Dritten -ohne eigenes Verwaltungsermessen- kostenaufwendige Vorteile zukommen lassen müssen. Das Zurverfügungstellen von Tests beim Präsenzunterricht hatte nicht den Zweck, den Schülern und Lehrkräften einen Vorteil zu gewähren, sondern sollte allein die Gefahr von Infektionen verringern.   Die den Ländern hierdurch entstandenen Ausgaben stellten -so das BVerfG- lediglich eine Nebenfolge der gefahrenabwehrrechtlichen Vorschrift dar.    

b.) Art. 80 Abs. 2 GG

Auch aus Art 80 Abs.2 GG folgt hier keine Zustimmungsbedürftigkeit. Art 80 Abs. 2 GG ordnet die Zustimmungsbedürftigkeit bestimmter Arten von Verordnungen an. Dem entspricht das Gesetz über die Bundesnotbremse, weil es in § 28b Abs. 6 Satz 2 und § 28c Satz 2 IfSG die Zustimmungsbedürftigkeit der auf ihrer Grundlage zu erlassenden Verordnung ausdrücklich vorsieht.

III. Materielle Verfassungsmäßigkeit des Verbots auf Präsenzunterricht

Das BVerfG hält den Eingriff in das Recht auf schulische Bildung (Art. 2 Abs. 1 i.V. Art 7 Abs.1 GG ) durch das Verbot von Präsenzunterricht auch materiell für verfassungsgemäß.                     

1.) Verhältnismäßigkeit des Verbots

Das Verbot des Präsenzunterrichts war verhältnismäßig, weil es verfassungsrechtlich legitimen Zwecken (a) diente, es zur Verfolgung dieser Zwecke geeignet (b) und erforderlich (c) war und schließlich auch angemessen (d).

a.) Verfassungsrechtlich legitime Zwecke

Der Zweck des Verbotes war, Leben und Gesundheit zu schützen sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als überragend wichtiges Gemeingut sicherzustellen, in dem die weitere Verbreitung des Virus verlangsamt wurde. Infektionen sollten vermieden werden. In den Schulen sah der Gesetzgeber ein höheres Ansteckungsrisiko für Schulkinder und deren Familienangehörige.

b.) Geeignetheit

Das BVerfG zweifelte nicht daran, dass der Wegfall von Präsenzunterricht geeignet war, Infektionen zu verhindern. Eine Maßnahme ist verfassungsrechtlich bereits dann geeignet, wenn mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann; dabei hat der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative. Es genügt, wenn die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht. Dies war hier- trotz des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs- der Fall, wie auch sachkundige Dritte bestätigt hatten.

c.) Erforderlichkeit

Das Verbot des Präsenzunterrichts war nach Ansicht des BVerfG erforderlich zum Schutz der Bevölkerung vor der Pandemie. An der Erforderlichkeit fehlt es, wenn ein gleich wirksames Mittel zur Erreichung des Gemeinwohlziels zur Verfügung steht, das die Grundrechtsträger weniger und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. Bei dieser Beurteilung hat der Gesetzgeber einen Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Prognose der Maßnahme. Das mögliche wöchentlich zweimalige Testen der Schüler hielt das BVerfG unter Hinweis auf sachkundige Dritte nicht für eine gleichwirksame Alternative.

d.) Verhältnismäßigkeit des Verbots im engeren Sinne (Angemessenheit)

Bei diesem Kriterium prüft das BVerfG, ob der mit der Maßnahme verfolgte Zweck nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs steht. Die Interessen des Gemeinwohls müssen dabei umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Umgekehrt bedeutet dies, dass bei großen Nachteilen und Gefahren aus der Grundrechtsausübung das gesetzgeberische Handeln dringlich ist. Auch bei dieser Angemessenheitsprüfung hat der Gesetzgeber einen Einschätzungsspielraum; die Prognose des Gesetzgebers muss allerdings auf hinreichend gesicherter Grundlage beruhen. Das BVerfG hebt die schwerwiegende Beeinträchtigung des Rechts auf schulische Bildung (Art. 2 Abs. 1 i.V. Art. 7 Abs. 1 GG) durch das Verbot des Präsenzunterrichts hervor. Die Kumulation der Schulschließungen während der verschiedenen Lockdowns verschlechterten für die Schüler die Möglichkeiten zur Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Die Schulen waren insgesamt bis zu 173 Tage (4- 5 Monate) geschlossen, was einem Ausfall des Präsenzunterrichts im Schnitt von einem halben Schuljahr entsprach und zu deutlichen Lernzeitverkürzungen und Lernrückständen sowie zu Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung führte. Der Präsenzunterricht wurde nicht vorwiegend durch Digitalunterricht, sondern durch das Bereitstellen von Aufgaben ersetzt. Mit dem Wegfall des Präsenzschulbetriebes sei auch ein wichtiger Sozialisationsraum für Kinder und Jugendliche entfallen, was bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien und bei Grundschülern besonders gravierend war. Bei weiterführenden Schulen war die Betroffenheit geringer. Grundschüler seien in ihrer frühen Entwicklungsphase verstärkt auf                 den Präsenzunterricht und die damit verbundene Interaktion mit den Mitschülern angewiesen. Die Familien wurden durch die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen deutlich stärker belastet, was teilweise zu Kindeswohlgefährdungen geführt habe.

2.) Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung

Bei der Verabschiedung des Gesetzes im April 2021 war das Infektionsgeschehen von hoher Dynamik geprägt; es kam darauf an, diese Dynamik möglichst umfassend und rasch durch ein Herunterfahren zwischenmenschlicher Kontakte zu durchbrechen. Angesichts dieser Sachlage hat der Gesetzgeber mit dem Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3, Satz 2 u. 3 IfSG Gemeinwohlziele von überragender Bedeutung verfolgt. Zu diesen Gemeinwohlbelangen gehören die Gesundheit und das Leben der Menschen (vgl. BVerfGE 126, 112, 140 st. Rspr.) sowie der Schutz des Gesundheitswesens vor Überlastung. Das BVerfG betont, dass der Gesetzgeber nicht einseitig die Gemeinwohlbelange im Auge hatte, sondern Regelungen getroffen hat, die auf einen Ausgleich der Individual- und Allgemeininteressen gerichtet waren. Hierzu zählt das Gericht  die Begrenzung der Reichweite der Maßnahme (Schulschließungen erst bei Überschreiten eines Schwellenwertes), die Möglichkeit der Notbetreuung durch die Bundesländer, die Ausnahmemöglichkeiten für Abschlussklassen und für Förderschulen sowie die Durchführung von Distanzunterricht- auch wenn dieser nur begrenzt den Präsenzunterricht ersetzen kann.

Zwar konnte der Bundesgesetzgeber mangels schulrechtlicher Kompetenzen den Distanzunterricht nicht vorschreiben. Die Länder waren aber nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ein Distanzunterricht soweit möglich stattfindet. Der Distanzunterricht ist -nach sachkundiger Einschätzung- für Schüler ab der Sekundarstufe ein wesentliches Mittel, um Bildungsdefizite und Lerneinbußen teilweise zu vermeiden. Die Länder waren insoweit in der Pflicht, die Mindestvoraussetzungen schulischer Bildung zu sichern. Die Schülerinnen und Schüler hatten auch ein grundrechtlich geschütztes Recht, einen unverzichtbaren Mindeststandard an Bildungsleistungen zu verlangen. Nach alledem war der Gesetzgeber nicht gehindert, den Präsenzunterricht für einen gewissen Zeitraum zu verbieten. Dies entsprach dem Wissen zum Zeitpunkt der gesetzgeberischen Entscheidung (April 2021). Andere Maßnahmen wie Lüftungsanlagen und Luftreiniger hat der Staat gefördert, diese konnten jedoch nicht dieselbe Wirksamkeit gegen die Ausbreitung der Pandemie haben, zumal sie nicht sofort flächendeckend zur Verfügung standen. Zudem hat der Gesetzgeber durch die Befristung der „ Bundesnotbremse“ dafür gesorgt, dass das Verbot des Präsenzunterrichts nur vorläufiger Natur gewesen ist und die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahme gewahrt blieb. Dies trug wesentlich dazu bei, dass das Verbot des Präsenzunterrichts noch zumutbar war.

3.) Kein Verstoß des Verbots von Präsenzunterricht gegen die Rechte der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG

Das BVerfG sah keinen Verstoß gegen das Recht der Eltern, den Bildungsgang ihres Kindes nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu bestimmen. Die Beeinträchtigung dieses Rechtes durch das Verbot sei nicht gravierender als beim Eingriff in das Recht der Schüler auf schulische Bildung und Persönlichkeitsentwicklung (s. o.).

Schließlich lehnte das BVerG auch einen Verstoß gegen das Familiengrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 GG ab. Das Familiengrundrecht umfasst das Recht der Eltern, das familiäre Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und u.a. über die Betreuung ihrer Kinder zu entscheiden. Diesem Recht korrespondiert eine Förder- und Schutzpflicht des Staates für die Familie. Hieraus lassen sich jedoch keine Leistungsansprüche ableiten, der Staat muss die Familie nur angemessen fördern. Das Verbot des Präsenzunterrichts stellt deshalb keinen Eingriff in den Schutzbereich des Familiengrundrechts dar. Den Eltern steht wegen ihrer zusätzlichen Betreuungsleistungen in der Pandemie auch kein Abwehrrecht gegenüber dem Staat zu. Das Verbot des Präsenzunterrichts bewirkt auch keinen mittelbar faktischen Eingriff in das Familiengrundrecht, da das Verbot nicht auf eine Änderung des Familienlebens abzielte. Die Eltern können auch keine Verletzung des staatlichen Förder- und Schutzgebots aus Art.6 Abs. 1 GG geltend machen. Der Staat hat die nachteiligen Folgen der Pandemie durch verschiedene Fördermaßnahmen wie Notbetreuung, Entschädigung des Arbeitsausfalls während der Kinderbetreuung, Krankengeld bei Verdienstausfall wegen der Pflege kranker Kinder teilweise abgemildert, so dass nicht von einer unangemessenen Förderpolitik gesprochen werden könne. Der Staat hat insgesamt in angemessener Weise auf die Beeinträchtigungen des Familienlebens reagiert.

C. Leitsätze des BVerfG zur Bundesnotbremse II

  1. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung).
  2. Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen: a) Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen. b) Aus dem Recht auf schulische Bildung folgt zudem ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems. c) Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken, ohne das in Ausgestaltung des Art. 7 Abs. 1 GG geschaffene Schulsystem als solches zu verändern.
  3. Entfällt der schulische Präsenzunterricht aus überwiegenden Gründen der Infektionsbekämpfung für einen längeren Zeitraum, sind die Länder nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, den für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung so weit wie möglich zu wahren. Sie haben dafür zu sorgen, dass bei einem Verbot von Präsenzunterricht nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfindet.
  4. Bei einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie muss der Gesetzgeber seinen Entscheidungen umso fundiertere Einschätzungen zugrunde legen, je länger die zur Bekämpfung der Gefahr ergriffenen belastenden Maßnahmen anhalten. Allerdings dürfte der Staat große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht deshalb in Kauf nehmen, weil er nicht genug dazu beigetragen hat, dass freiheitsschonendere Alternativen zur Abwehr dieser Gefahren erforscht wurden.

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