BVerfG: Durfte Xavier Naidoo als Antisemit bezeichnet werden?

BVerfG: Durfte Xavier Naidoo als Antisemit bezeichnet werden?

Persönlichkeitsrecht, Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) veröffentlichte zwischen den Jahren einen Beschluss, nach dem der bekannte deutsche Sänger Xavier Naidoo von einer Referentin während eines Fachvortrags zum Thema Reichsbürger im Jahr 2017 als “Antisemit” bezeichnet werden durfte. Der 2. Senat gab damit der Verfassungsbeschwerde der Referentin statt - ihre Äußerung sei vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt.

Worum geht es?

Die Beschwerdeführerin hielt als Fachreferentin im Sommer 2017 einen Vortrag zum Thema Reichsbürger. Nach dem Vortrag äußerte sie auf eine Nachfrage, wie sie den deutschen Sänger Xavier Naidoo einstufe:

„Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.“

Geklagt hatte Xavier Naidoo dann tatsächlich. Er machte einen Unterlassungsanspruch gegen die Referentin geltend - zunächst mit Erfolg.

Zum Hintergrund: Der Sänger verfasste in der Vergangenheit mehrere doppeldeutige Lieder, in denen er immer wieder antisemitische Anspielungen machte. In einem Songtext aus dem Jahr 2017 heißt es auszugsweise:

„Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein / Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter“.

Im Jahr 2014 hielt er außerdem eine Rede bei einer Versammlung von Reichsbürgern vor dem Reichstag. Im Interview mit einer Zeitschrift im Jahr 2015 äußerte er sich dazu, ob es berechtigt sei, Deutschland für besetzt zu halten. Die Liedtexte, Äußerungen sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung von Xavier Naidoo waren unter anderem Gegenstand eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen.

Für die Vorinstanzen reichten diverse Liedzeilen und die Nähe zur Reichsbürgerbewegung für die Bewertung des Sängers als “Antisemit” nicht aus. Das zuständige Landgericht (LG) Regensburg untersagte der Referentin aufgrund der Klage des Sängers zunächst, wörtlich oder sinngemäß die streitgegenständliche Behauptung er sei “Antisemit” aufzustellen oder zu verbreiten (Urt. v. 17.07.2018 - 62 O 1925/17). Die daraufhin von ihr gegen dieses Urteil eingelegte Berufung zum Oberlandesgericht (OLG) Nürnberg blieb erfolglos  (Urt. v. 22.10.2019, Az. 3 U 1523/18). 

Die beanstandete Äußerung sei zwar eine Meinungsäußerung, obwohl sie einen Tatsachenkern enthalte. Eine Gesamtabwägung ergebe aber, dass der Eingriff in die Ehre und das Persönlichkeitsrecht rechtswidrig gewesen sei. Die personale Würde des Klägers sei beeinträchtigt und es sei eine Prangerwirkung gegeben. Die Bezeichnung als „Antisemit“ sei ein besonders weitreichender und intensiver Eingriff. Sie sei überdies mehrdeutig und reiche von einem weiten Begriffsverständnis, wonach jeder, der eine wie auch immer geartete negative Wahrnehmung von Juden habe, als Antisemit zu begreifen sei, bis zu einem engen Verständnis, wonach Antisemitismus gleichbedeutend mit Judenhass sei. Dem Werturteil der Beschwerdeführerin liege außerdem ein tatsächlich unrichtiger Äußerungsgehalt zugrunde. Maßgeblich sei, ob die in den Werturteilen enthaltenen Tatsachenbehauptungen zuträfen oder ohne jeden Anhaltspunkt aufgestellt seien. Die objektive Richtigkeit des tatsächlichen Äußerungsgehalts ihrer Aussage sei aber nicht hinreichend belegt.

Nach der Niederlage vor dem OLG wandte sich die Referentin an das BVerfG: Sie rügte eine Verletzung ihres Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG.

BVerfG: Verletzung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG

Die Verfassungsbeschwerde der Referentin hatte vor dem BVerfG Erfolg: Dieses entdeckte gleich drei Rechtsfehler der Fachgerichte und entschied mit Beschluss vom 11. November 2021, dass die Entscheidungen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verletzen. Die Richter:innen hoben die vorangegangenen Entscheidungen auf und verwiesen sie zur erneuten Entscheidung an die Gerichte zurück. 

Insbesondere hätten die Fachgerichte keine konkrete Sinndeutung der Äußerung der Referentin vorgenommen, um die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Sängers klären zu können.

“Sie verkennen im Ergebnis die Voraussetzungen einer verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Sinnermittlung, die vom Wortlaut der Äußerung ausgeht sowie Kontext und Begleitumstände berücksichtigt”,

heißt es in der Pressemitteilung des BVerfG.

Zudem würden die Fachgerichte im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf verkennen, die bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesellschaftliches Interesse erregenden Beiträgen auch mit scharfen Äußerungen gebraucht würden.

Das BVerfG führt aus, dass eine für die Klärung einer Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Sängers entscheidende konkrete Sinndeutung der Äußerung nicht vorgenommen wurde. Die Äußerung sei unzweideutig so zu verstehen, dass die Beschwerdeführerin den Sänger für jemanden, der den Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage. Es habe daher mangels Mehrdeutigkeit der Aussage vorliegend keiner Heranziehung der Grundsätze zur Auslegung mehrdeutiger Meinungsäußerungen bedurft. Die Äußerung sei entgegen der Meinung des Berufungsgerichts nicht dahingehend zu verstehen, der Kläger des Ausgangsverfahrens sei eine Person, die die personale Würde von Menschen jüdischer Abstammung durch nationalsozialistisch fundiertes Gedankengut grob verletze und möglicherweise in diesem Sinn sogar handlungsbereit sei. Diese Sinndeutung sei laut den Richter:innen des 2. Senats fernliegend. 

Mit diesem Vorgehen zur Auslegung mehrdeutiger Meinungsäußerungen wollte das OLG Nürnberg eigentlich den Vorgaben des BVerfG zu mehrdeutigen Äußerungen gerecht werden. Nach der Rechtsprechung gilt für einen Unterlassungsanspruch, dass bei mehrdeutigen Äußerungen diejenige in der Abwägung zugrunde zu legen ist, die den Betroffenen am stärksten in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt. Die Anwendung dieses Maßstabs setzt jedoch voraus, dass überhaupt eine mehrdeutige Äußerung vorliegt - was nach Ansicht des BVerfG nicht der Fall war.

Des Weiteren wird ausgeführt:

“Die Fachgerichte sind bei ihrer Abwägung zudem verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen, es falle entscheidungserheblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. Der in der Äußerung enthaltene Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ ist keine Tatsachenbehauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises kommt es damit nicht an.”

Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt

Weiter sieht das BVerfG die Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend, als verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft an. 

Das OLG Nürnberg verkenne die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit. Die Beschwerdeführerin habe mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von eigenen Interessen geführt, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage erörtert.

“Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit. Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein”,

heißt es in der Pressemitteilung abschließend kritisch zum Urteil des OLG Nürnberg.

Xavier Naidoo heute

Entschieden wurde durch das BVerfG über die Lage in den Jahren 2017 und 2018. Heutzutage ist die politische Gesinnung des Sängers offensichtlicher denn je: er verbreitet auf dem verschlüsselten Portal “Telegram” immer wieder antisemitische Videos oder Texte. Im Juni 2021 verbreitete er beispielsweise ein Video, in dem der Holocaust als “gelungene historische Fiktion” und “Märchen” bezeichnet wird, wie der Tagesspiegel recherchierte.

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