BVerfG zur Bundesnotbremse: Maßnahmen mit Grundgesetz vereinbar

BVerfG zur Bundesnotbremse: Maßnahmen mit Grundgesetz vereinbar

Die Bundesnotbremse war verfassungsgemäß

Erstmals hat sich das BVerfG ausführlich zu der Bundesnotbremse aus dem Frühjahr geäußert. In den aufsehenerregenden Entscheidungen bestätigten die Karlsruher Richter:innen, dass Maßnahmen wie Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Worum geht es?

Während in Deutschland die vierte Corona-Welle erneut für Unruhe sorgt, hat das BVerfG nun erstmals ausführliche Entscheidungen zu der sogenannten Bundesnotbremse aus dem Frühjahr 2021 getroffen. In zwei Beschlüssen hat das Karlsruher Gericht die Verfassungsmäßigkeit von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie von Schulschließungen bestätigt, die das Bundesgesetz vorgesehen hatte. Es handelt sich um ein spannendes Grundsatzurteil: Nicht nur erkennen die Richter:innen des höchsten deutschen Gerichts erstmals ein „Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung“ an. Auch zeigt der zuständige Erste Senat die Grundzüge auf, an die sich der Gesetzgeber bei der Pandemiebekämpfung orientieren muss. Trotz erheblicher Grundrechtseingriffe seien die beurteilten Maßnahmen „in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie mit dem Grundgesetz vereinbar“.

Bundesnotbremse verursachte Klagewelle

Mit der Notbremse im Frühjahr wollte der Bund die Pandemiebekämpfung in Deutschland vereinheitlichen und sicherstellen, dass überall dieselben Maßnahmen greifen, wenn in einer Region die Infektionszahlen rasant steigen. Ab dem 25. April wirkte sie automatisch, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder in einer kreisfreien Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Wert 100 überschritt. Ende Juni ist die Bundesnotbremse dann ausgelaufen.

Dennoch: Innerhalb der zwei Monate erfuhren  die meisten Bürger:innen Maßnahmen des Instruments, da der Schwellwert vielerorts überschritten wurde. Dazu zählten etwa Kontaktbeschränkungen – Menschen aus einem Haushalt durften sich nur mit einer anderen Person treffen. Besonders stark kritisiert wurde die nächtliche Ausgangssperre zwischen 22.00 und 5.00 Uhr, wodurch die Bevölkerung nur in Ausnahmefällen die Wohnung verlassen durfte. Und schließlich gab es Maßnahmen in puncto Schulschließungen: Sobald die Sieben-Tages-Inzidenz den 100er Wert überschritten hatte, mussten die betroffenen Schulen auf einen Wechselunterricht umstellen. Ab einer Inzidenz von 165 musste – abgesehen von einigen Ausnahmen - komplett auf Home-Schooling umgestellt werden.

Diese Maßnahmen, allen voran die nächtliche Ausgangssperre, sorgte für eine Klagewelle beim BVerfG. Die Verwaltungsgerichte mussten nicht mehr eingeschaltet werden, da es sich bei der Bundesnotbremse um ein Bundesgesetz handelte. Bis zur zweiten Augusthälfte sollen mehr als 300 Verfassungsbeschwerden und Eilanträge in Karlsruhe eingegangen seien. Eilanträge gegen die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen wurden bereits im Mai mit Verweis darauf abgewiesen, dass der Ausgang des Hauptverfahrens offen sei. Dieses wurde nun entschieden.

Kontaktbeschränkungen verhältnismäßig

Zunächst ging das Karlsruher Gericht auf die Kontaktbeschränkungen des § 28b I 1 Nr. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ein und stellte fest, dass diese Maßnahmen erheblich in mehrere Grundrechte eingreifen würden. Genannt wurde das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit aus Art. 6 I GG und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das aus Art. 2 I GG resultiert.

Die Eingriffe waren jedoch formell sowie materiell verfassungsgemäß und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

Das Gericht begründete die Entscheidung damit, dass der Gesetzgeber mit den angeordneten Kontaktbeschränkungen insbesondere Leben und Gesundheit der Bevölkerung schützen wollte. Dies sollte durch Reduzierung von zwischenmenschlichen Kontakten erreicht werden, wobei oberstes Ziel war, die weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Dadurch sollte eine Überlastung des Gesundheitssystem vermieden werden.

Sowohl der Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke.

Die Kontaktbeschränkungen seien basierend auf dem damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand auch geeignet und erforderlich gewesen, um Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Dabei komme dem Gesetzgeber auch ein gewisser Spielraum in einer Pandemie zu, weil vieles noch wissenschaftlich unklar sei.

BVerfG argumentiert mit Zweck der Ausgangsbeschränkungen

Anschließend stufte das BVerfG auch die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen als verfassungsgemäß ein, die vorab stark umstritten waren. Als Hauptargument der Kritiker:innen galten die wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass eine Ansteckung im Freien nachweislich weniger wahrscheinlich sei als in geschlossenen Räumen.

Dies erkannte das BVerfG auch an und entscheid, dass solche umfassenden Ausgangsbeschränkungen nur in einer „äußersten Gefahrenlage“ in Betracht kämen. Damit knüpft es im Ergebnis an diese Maßnahme höhere Anforderungen als an die Kontaktbeschränkungen - Grund dafür seien etwa die erheblichen Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 II 2 GG in Verbindung mit Art. 104 I GG. Doch die Entscheidung des Gesetzgebers, die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen einzuführen, seien in der konkreten Situation der Pandemie und nach den Erkenntnissen, die sich das BVerfG innerhalb des Verfahrens durch sachkundige Dritte bestätigen ließ, tragfähig begründet und mit dem Grundgesetz vereinbar. Eine solche „äußerste Gefahrenlage“ habe während der Bundesnotbremse bestanden.

Das Karlsruher Gericht berücksichtigte bei seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere die Intention des Gesetzgebers, mit der Ausgangsbeschränkung vor allem Treffen in Innenräumen zu verhindern. Der Gesetzgeber wollte private Zusammenkünfte in Innenräumen von vornherein beschränken – Ausgangsbeschränkungen seien dabei vergleichsweise einfacher zu kontrollieren. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, auch weil mehrere Ausnahmen vorgesehen waren, etwa der Spaziergang mit dem Hund oder Joggen.

BVerfG zu Schulschließungen

Schließlich ging es vor dem BVerfG noch um die in der Bundesnotbremse enthaltenen Schulschließungen. Die Karlsruher Richter:innen erkannten dabei zum ersten Mal ein Recht von Kindern und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung an, an dem sie den Eingriff prüften. Denn der Staat habe durch die Schließung der Schulen in das Recht erheblich eingegriffen. Das BVerfG betonte die damit verbundenen Folgen für die Kinder und Jugendliche, namentlich unter anderem Lernrückstände und mögliche Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung.

Doch auch die Schulschließungen seien mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Der Gesetzgeber durfte nach dem wissenschaftlichen Stand im Frühjahr davon ausgehen, dass Schüler:innen sich mit dem Virus anstecken können und dieses weiter übertragen können. Zwar seien diese selbst nur selten schwer erkrankt nach einer Infektion. Doch das Verbot des Präsenzunterrichts sei daher erforderlich gewesen, um die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung sowie das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen. Damit die Maßnahme auch verhältnismäßig war, waren weiter die unterschiedlichen Inzidenzwerte für das BVerfG entscheidend. Außerdem habe sich der Staat bemüht, weitgehend Distanzunterricht anzubieten – zudem habe es eine Notbetreuung und Ausnahmeregelungen gegeben, etwa für Abschlussklassen.

Reaktionen auf die Entscheidung

Durch seine Entscheidungen hat das BVerfG dem Gesetzgeber nun aufgezeigt, inwieweit Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung möglich sind. Relevant ist dabei, dass stets die aktuelle Pandemielage für die Maßnahmen berücksichtigt werden muss. Ob eine weitere Bundesnotbremse damit möglich sein könnte, bleibt abzuwarten. Ähnlich zum vergangenen Frühjahr sei die Auslastung der Intensivstationen zu beobachten. Auch die Impfquote sei heute eine ganz andere als im Frühjahr, die berücksichtigt werden müsse.

Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sah in den Entscheidungen des BVerfG Klarheit für weitere Krisenmaßnahmen. Gleichzeitig betonte er, dass es sich dabei um keinen Freibrief für willkürliche Grundrechtseingriffe handeln würde. Dirk Wiese, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, bezeichnete die Beschlüsse des Karlsruher Gerichts als ein wichtiges Grundsatzurteil, das die Rahmenbedingungen für die Gesetzgebung in der Pandemiebekämpfung setzen würde. Der FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki, der als großer Kritiker der Bundesnotbremse gilt, nannte die Entscheidung aus Karlsruhe hingegen „enttäuschend“.

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