Wann ist das Selbsthilferecht anwendbar und wann kommt ein Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch aus § 1004 BGB in Betracht?
In einem Nachbarschaftsstreit hat der BGH entschieden, ob ein Nachbar die Äste einer Schwarzkiefer, die in seinen Garten hineinragen, auch dann abschneiden darf, wenn der Baum dadurch sterben könnte. Es ging unter anderem um die Frage nach der Anwendbarkeit des Selbsthilferechts aus § 910 BGB.
Worum geht es?
Der Rechtsstreit ging vom AG Pankow/Weißensee über das LG Berlin bis zum BGH, mittendrin: eine 15 Meter hohe Schwarzkiefer am Nachbarzaun, die für Ärger sorgt. Den Baum gibt es mittlerweile seit fast 40 Jahren, entsprechend hoch und breit ist er gewachsen. Schätzungen zufolge ragt die Krone der Kiefer bis zu acht Meter über die Grundstücksgrenze, wodurch der Beklagte von abfallenden Nadeln und Zapfen genervt war. Nachdem er seine Nachbarn erfolglos aufgefordert hatte, die überhängenden Äste zu kürzen, legte er selbst Hand an und schnitt die Äste zurück.
Der BGH hat den andauernden Schwarzkiefer-Streit nun entschieden und spannende Ausführungen zum Selbsthilferecht aus § 910 BGB getroffen.
Ist das Selbsthilferecht anwendbar?
Zuletzt haben wir im April über den Fall berichtet, denn die im Mittelpunkt stehende Norm aus dem Sachenrecht könnte in der einen oder anderen Zivilrechtsklausur für Probleme sorgen, wenn es um die Frage geht, wann § 910 BGB denn überhaupt anwendbar ist oder ob nicht doch etwa § 1004 BGB in Betracht kommt. Beide Vorschriften sind nämlich nebeneinander anwendbar, haben aber Unterschiede.
Das Selbsthilferecht aus § 910 BGB gibt dem Eigentümer eines Grundstücks das Recht, herüberragende Zweige abzuschneiden und zu behalten, wenn er zuvor dem Nachbarn eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung schließlich nicht innerhalb der Frist erfolgt ist. Der betroffene Eigentümer darf also selbst Hand anlegen.
Doch die Norm habe auch ihre Grenzen, wie das LG Berlin in zweiter Instanz argumentierte: § 910 BGB greife nur dann, wenn „eine direkte und unmittelbare Beeinträchtigung durch überhängende Äste oder Zweige“ vorliege. Dies sei hier aber gerade nicht der Fall, führte das Berliner Gericht aus, da vielmehr die herabfallenden Zapfen und Nadeln für den Ärger sorgten.
Außerdem verwiesen die Kläger darauf, dass durch ein Beschneiden der Äste das Überleben der Schwarzkiefer gefährdet werden könnte. Der Baum dürfe nach ihrer Auffassung nur beschnitten werden, wenn gesichert sei, dass er ein solches Vorgehen auch überlebe. Darf in diesem Fall dann noch das Selbsthilferecht aus § 910 BGB angewendet werden? Diese Frage hat der BGH nun beantwortet.
§ 910 BGB unterliege keiner Zumutbarkeitsprüfung
Die Entscheidung des LG Berlin sah einen Mittelweg vor: Rückschnitt ja, aber nur so weit, dass ein Überleben des Baumes gesichert ist. Dennoch gaben die Berliner Richter:innen den Klägern Recht.
Der für das Nachbarrecht zuständige V. Zivilsenat des BGH hat aber nun das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LG Berlin zurückverwiesen: Ein beeinträchtigter Nachbar dürfe die Äste eines Baumes abschneiden, die in seinen Garten hineinragen. Auch dann, wenn der Baum dadurch absterben könnte. Zur Begründung führten die Richter an, dass § 910 BGB keiner Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung unterliege. Vielmehr gelte:
Das Selbsthilferecht aus § 910 I BGB sollte nach der Vorstellung des Gesetzgebers einfach und allgemein verständlich ausgestaltet sein […].
Außerdem führte der Senat aus, dass die Verantwortung zur ordnungsgemäßen Bewirtschaftung der Schwarzkiefer beim Eigentümer liege. Dazu gehöre auch, dass Äste und Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen. Wenn der Eigentümer dieser Pflicht nicht nachkomme, könne er seinem Nachbarn das Schneiden nicht verbieten und darauf berufen, der Baum könne sonst seine Standhaftigkeit verlieren und absterben, heißt es in der Entscheidung. Die Kläger jedenfalls seien ihrer Verantwortung gerade nicht nachgekommen.
Und nochmal das LG Berlin
Mit seiner Entscheidung verwies der Senat die Sache zurück an das LG Berlin. Das Berufungsgericht hat nun zu klären, ob der Nachbar durch den Überhang in der Nutzung seines Grundstücks tatsächlich beeinträchtigt wird. Außerdem muss das Berliner Gericht prüfen, ob § 910 BGB nicht etwa doch eingeschränkt sei. Der BGH gab dem Berufungsgericht nämlich mit, dass § 910 BGB durch naturschutzrechtliche Regelungen, etwa durch Baumschutzsatzungen oder -verordnungen, Einschränkungen finden könnte.
Bäume machen Pferden Konkurrenz
Es ist nicht das erste Mal, dass höchstricherlich über Bäume gestritten wird. Nachbarschaftsstreitigkeiten über Bäume an Grundstücksgrenzen könnten damit vielleicht das „Lieblingsthema Pferde“ am BGH ablösen: In einem anderen Fall ging es etwa um drei Birken, von denen Blätter, Zapfen und Pollen das Nachbargrundstück verunreinigten. Gegen diese Art von Immissionen wehrte sich der Nachbar mit einem Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch aus § 1004 BGB – erfolglos, wie der BGH nach einem mehrjährigen Rechtsstreit entschied. Mit welcher Begründung der BGH die Birken „rettete“ und wieso auch ein Ausgleichsanspruch aus § 906 II 2 BGB ausscheide, kannst Du in diesem Beitrag nachlesen.
Schaue Dir hier die (prüfungs-) relevanten Lerninhalte oder weiterführenden Beiträge zu diesem Thema an:
- Aufbau der Prüfung: § 1004 BGB
- Beitrag vom 06. April 2021: Nachbarschaftsstreit um Kiefer vor dem BGH
- Beitrag vom 01. Oktober 2019: BGH: Drei Birken dürfen bleiben
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