Verfassungsbeschwerde nach Abrechnungsbetrug: Verstoß gegen das Verschleifungs- und Entgrenzungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG?

Verfassungsbeschwerde nach Abrechnungsbetrug: Verstoß gegen das Verschleifungs- und Entgrenzungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG?

Abrechnungsbetrug mit Strohmann am MVZ - BVerfG: unbegründete Verfassungsbeschwerde

Das BVerfG musste jüngst über zwei Verfassungsbeschwerden gegen die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung eines Apothekers und zweier Ärzte entscheiden. Der Apotheker und die Ärzte wurden im vergangenen Jahr vom BGH wegen Abrechnungsbetrugs gem. § 263 Abs. 1, 5 StGB im Rahmen eines medizinischen Versorgungszentrums verurteilt.

Worum geht es?

Im BGH-Urteil, welches sich auf die Feststellungen des LG Hamburg als Vorinstanz stützt, heißt es, der Angeklagte Z., der unter anderem eine Apotheke in Hamburg betrieben habe, wolle ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) erwerben - um sich, über den dann möglichen Einfluss auf das Verordnungsverhalten der dort tätigen Ärzte, neue Absatzquellen für von ihm hergestellte hochpreisige Medikamente zu erschließen. 

Ihm sei bewusst gewesen, dass die Beteiligung von Apothekern an einem medizinischen Versorgungszentrum aufgrund einer Änderung der sozialrechtlichen Vorschrift des § 95 Abs. 1a SGB V seit Januar 2012 rechtlich nicht mehr möglich gewesen ist.

Um dieses gesetzliche Beteiligungsverbot zu umgehen, habe er nach einem zugelassenen Arzt als “Strohmann” gesucht. Diesen habe er in dem Angeklagten D. gefunden, über den er in der Folge die Mehrheitsanteile an einem im Mai 2012 rechtmäßig zur kassenärztlichen Versorgung zugelassenen MVZ des sich in einer schwierigen finanziellen Lage befindlichen Angeklagten Dr. F. in Hamburg erwarb. Dr. F., der weiterhin als dessen ärztlicher Leiter tätig war, habe ebenfalls um die “Strohmann”-Konstruktion und die damit bezweckte Umgehung des für den Angeklagten Z. bestehenden Beteiligungsverbots gewusst.

Obwohl allen Angeklagten bewusst gewesen sei, dass die Voraussetzungen für die kassenärztliche Zulassung des MVZ nicht mehr vorlagen und dieses daher nicht berechtigt war, ärztliche Leistungen bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg abzurechnen, habe das MVZ in den Jahren 2014 und 2015 bei dieser fünf Quartalsabrechnungen eingereicht. Die Kassenärztliche Vereinigung zahlte im Vertrauen auf dessen Abrechnungsberechtigung fast eineinhalb Millionen Euro an das MVZ aus. 

Der Angeklagte Z. habe darüber hinaus der Techniker Krankenkasse von August 2014 bis Juni 2015 ärztliche Verordnungen des MVZ in Rechnung gestellt, die in seiner Apotheke eingelöst worden seien. Die Angeklagten hätten gewusst, dass die Verordnungen aufgrund der – durch die “Strohmann”-Konstruktion verdeckten – faktischen Beteiligung des Angeklagten am MVZ nicht abrechenbar waren. Im Vertrauen auf die Ordnungsgemäßheit der Verordnungen habe die Krankenkasse rund 150.000 Euro an die Verrechnungsstelle der Apotheke des Angeklagten Z. ausgezahlt.

Das Urteil des LG Hamburg

Das Landgericht Hamburg hat die Angeklagten in seinem erstinstanzlichen Urteil wegen mehrfachen – teils banden- und gewerbsmäßig begangenen – Betrugs gem. § 263 Abs. 1, 5 StGB zu Gesamtfreiheitsstrafen von drei Jahren und sechs Monaten, zehn Monaten und sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der beiden letztgenannten Strafen hat es zur Bewährung ausgesetzt. Zudem hat es die Einziehung von rund eineinhalb Million Euro als Erträge aus den Betrugstaten angeordnet (Urteil vom 11.03.2019, 618 KLs 2/17 – 3490 Js 94/15).

BGH: Revision weitgehend unbegründet

Der BGH hat die Revision der Angeklagten mit seinem Urteil vom 19. August 2020 weitgehend als unbegründet verworfen. Er hat insbesondere entschieden, dass das Landgericht die Einreichung der Abrechnungen von ärztlichen Leistungen und Verordnungen unter Verschleierung der Umgehung des in § 95 Abs. 1a SGB V normierten Beteiligungsverbots für Apotheker an einem medizinischen Versorgungszentrum rechtsfehlerfrei als Betrug i.S.d. § 263 Abs. 1, 5 StGB gewertet habe.

Denn in § 95 Abs. 1a SGB V heißt es:

(1a) Medizinische Versorgungszentren können von zugelassenen Ärzten, von zugelassenen Krankenhäusern, von Erbringern nichtärztlicher Dialyseleistungen nach § 126 Absatz 3, von anerkannten Praxisnetzen nach § 87b Absatz 2 Satz 3, von gemeinnützigen Trägern, die aufgrund von Zulassung oder Ermächtigung an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, oder von Kommunen gegründet werden. …

Zur Frage des der Krankenversicherung und der Krankenkasse entstandenen Vermögensschadens führte der BGH aus, deren täuschungsbedingten Zahlungen stehe keine Kompensation gegenüber. Denn ein Vergütungsanspruch habe wegen des Verstoßes gegen § 95 Abs. 1a SGB V nicht bestanden, sodass die Zahlenden durch ihre Leistung nicht von einer Verbindlichkeit befreit worden seien. Auf die im Übrigen ordnungsgemäßen ärztlichen Leistungen sowie die Abgabe der Medikamente komme es hingegen nicht an, da sie kein unmittelbar aus der Vermögensverfügung resultierendes Äquivalent seien.

Er hat indes die Schuldsprüche abgeändert, da das Landgericht die Tatbeiträge der Angeklagten und das konkurrenzrechtliche Verhältnis der Taten zueinander nicht durchweg rechtlich zutreffend bestimmt habe.

Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG

Gegen die Urteile des LG Hamburg und des BGH haben der verurteilte Apotheker sowie einer der Ärzte Verfassungsbeschwerden beim BVerfG eingelegt, die zu einer gemeinsamen Entscheidung verbunden wurden (Beschluss vom 05.05.2021, 2 BvR 2023/20). 

Sie rügten einen Verstoß gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Verschleifungs- und Entgrenzungsverbot durch die Annahme eines Vermögensschadens durch die Gerichte. Hierbei geht es darum, dass Art. 103 Abs. 2 GG die Gerichte dazu verpflichtet, durch eigene Auslegung zur Normklarheit beizutragen (sog. Präzisierungsgebot). Den Gerichten ist es daher verboten, Tatbestandsmerkmale von Normen zu verschleifen oder deren Grenzen zu verwischen - man spricht daher vom Verschleifungs- bzw. Entgrenzungsverbot. 

Der Apotheker machte zudem eine Verletzung seines Grundrechts auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG, auch in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG, durch die Regelung des § 95 Abs. 1a SGB V geltend.

Aufbau der Prüfung: Berufsfreiheit, Art. 12 I GG
Relevante Lerneinheit

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG seien nicht erfüllt - das heißt, dass der Entscheidung weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukomme noch dass die Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführer angezeigt sei.

Die Verfassungsbeschwerde des Apothekers Z. genüge nicht den Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG und sei deshalb unzulässig. Er habe nicht substantiiert und schlüssig vorgetragen, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein solle. 

Die Verfassungsbeschwerde des Arztes Dr. F. sei hingegen zwar zulässig, aber unbegründet. Art. 103 Abs. 2 GG gewährleiste, dass eine Tat nur bestraft werden könne, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt gewesen sei, bevor die Tat begangen wurde.

BVerfG: Kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG

Das BVerfG hat entschieden, dass die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen im vorliegenden Fall nicht gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Verschleifungs- und Entgrenzungsverbot verstoßen.

Es bestehe keine Gefahr der Verschleifung von Täuschungshandlung und Schaden. Dies ergebe sich bereits aus dem Umstand, dass als wesentlicher Zwischenschritt für die Entstehung des Vermögensschadens noch die irrtumsbedingte Auszahlung durch die Mitarbeiter der Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen erforderlich sei. Eine Entgrenzung des Betrugstatbestandes liege auch im Übrigen nicht vor. Der BGH habe trennscharf die Verwirklichung der einzelnen Tatbestandsmerkmale dargelegt und der Schadensbetrachtung ersichtlich eine wirtschaftliche Sichtweise zugrunde gelegt.

Weiter führt das BVerfG dazu aus: 

“Eine verfassungsrechtlich unzulässige Entgrenzung ergibt sich schließlich nicht daraus, dass § 95 Abs. 1a SGB V keine an sich vermögensschützende Norm darstellt. Denn Gegenstand des strafrechtlichen Betrugsvorwurfs ist nicht der Verstoß gegen diese Vorschrift, sondern die wahrheitswidrige Abrechnung trotz sozialrechtlich nicht bestehenden Vergütungsanspruchs. Soweit Kassenärztliche Vereinigungen oder Krankenkassen auf solche Abrechnungen irrtumsbedingt zahlen, sind sie wirtschaftlich geschädigt.”

Die Entscheidung des BVerfG ist unanfechtbar.

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