BVerfG zur Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter

BVerfG zur Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter

I. Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin (Bf) ist Alleingesellschafterin und zugleich Organträgerin einer inländischen GmbH, die wiederum im Streitjahr zu 99,98 % an einer Kapitalgesellschaft mit Sitz in Belgien beteiligt war. Die inländische GmbH führte für die belgische Kapitalgesellschaft ein Verrechnungskonto, das ab Januar 2004 mit 6 % p. a. verzinst wurde. Die Darlehensgewährung durch das Verrechnungskonto war nicht besichert. Im September 2005 vereinbarten die inländische GmbH und die belgische Kapitalgesellschaft einen Forderungsverzicht gegen Besserungsschein in Höhe des wertlosen Teils der gegen die belgische Kapitalgesellschaft gerichteten Forderungen aus dem Verrechnungskonto. Dieser wurde zwar in der Bilanz der inländischen GmbH gewinnmindernd ausgebucht, jedoch rechnete das Finanzamt die „Teilwertabschreibung“ nach der unter anderem für das Streitjahr durchgeführten Außenprüfung für körperschaft- und gewerbesteuerliche Zwecke wieder hinzu. Im sich anschließenden Einspruchsverfahren stützte das Finanzamt die Einkünftekorrektur sodann auf § 1 Abs. 1 Außensteuergesetz (AStG).

Die hiergegen gerichtete Klage der Beschwerdeführerin hatte vor dem Finanzgericht Erfolg. Auf die Revision des Finanzamts hob der Bundesfinanzhof das Urteil des Finanzgerichts auf und wies die Klage der Beschwerdeführerin ab. Zur Begründung führte der Bundesfinanzhof im Wesentlichen aus, dass die durch die fehlende Besicherung und die Teilwertabschreibung bedingte Gewinnminderung in voller Höhe der Korrektur gemäß § 1 Abs. 1 AStG unterliege. Der Korrektur stehe auch nicht das Unionsrecht entgegen. Nach der Rechtsprechung des EuGH stelle eine mit § 1 Abs. 1 AStG vergleichbare Regelung eine zur Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen Mitgliedstaaten gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV) dar.

Zwar könnten das wirtschaftliche Eigeninteresse der Konzernobergesellschaft an ihren Beteiligungsgesellschaften sowie ihre Verantwortung als Gesellschafterin bei der Finanzierung dieser Gesellschaften Geschäftsabschlüsse unter nicht fremdüblichen Bedingungen rechtfertigen. Diese Einschränkung komme hier jedoch nicht zum Tragen. Das nationale Gericht habe nach der Rechtsprechung des EuGH Gründe dieser Art zu berücksichtigen und im Rahmen einer Abwägung (im Einzelfall) daran zu messen, mit welchem Gewicht die jeweils zu beurteilende Abweichung vom Maßstab des Fremdüblichen in den Territorialitätsgrundsatz und die hierauf gründende Zuordnung der Besteuerungsrechte eingreife. Im Streitfall komme danach eine Einschränkung der Berichtigung nach § 1 AStG nicht in Betracht, weil die Ausreichung von Fremdkapital eine unzureichende Eigenkapitalausstattung ausgleiche.

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Willkürverbot sowie eine Verletzung ihres Verfahrensgrundrechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).

Allgemeiner Gleichheitssatz, Art. 3 I GG
relevante Lerneinheit

Der Bundesregierung wurde gemäß § 94 Abs. 2 und 3 BVerfGG Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Das Bundesministerium der Finanzen hat namens der Bundesregierung Stellung genommen und dabei u.a. ausgeführt, die konkrete Anwendung von § 1 Abs. 1 AStG durch den Bundesfinanzhof (BFH) sei rechtmäßig und entspreche dem Telos der Norm, Steuervermeidung durch eine Gewinnverschiebung bzw. durch eine Verzichtsvereinbarung innerhalb eines Konzerns zu verhindern. Der BFH habe eine Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt. Er habe sich hinsichtlich des materiellen Unionsrechts kundig gemacht und sich mit der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH auseinandergesetzt. Der BFH habe dabei den „zwingenden Gründen des Allgemeinwohls“ im Wege einer abwägenden Entscheidung zur Geltung verholfen. Nach der Rechtsprechung des EuGH komme es auf die Abwägung im Einzelfall an.

II. Urteil

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat am 4. März 2021 einstimmig beschlossen:

  1. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 27. Februar 2019- I R 37/16 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des  GG. Das Urteil wird aufgehoben und die Sache an den BFH zurückverwiesen.
  2. Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
  3. Der Gegenstandswert wird auf 10.000 Euro festgesetzt.

III. Gründe

1.) Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und sich für zuständig erklärt.

Zwar seien die Ausführungen der Bf in den wesentlichen Punkten äußerst knapp gehalten, sie ließen jedoch die Umstände, aus denen sich eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in tatsächlicher und rechtlicher Sicht ergäbe, erkennen, so dass die Darlegungs- und Substantierungsanforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG noch erfüllt seien.

Die Verfassungsbeschwerde sei auch offensichtlich begründet.

Verfassungsbeschwerde, Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG
relevante Lerneinheit

2.) Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG

Das BVerfG hat es in einer Entscheidung offengelassen, ob das angegriffene Urteil des BFH gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot verstoße. Es betont, dass ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht bereits dann vorläge, wenn die Rechtsanwendung fehlerhaft sei. Nur wenn die Rechtsanwendung krass fehlerhaft sei und bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich und auf sachfremden Erwägungen beruhe (st. Rspr., BverfGE 132, 137), sei von einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG auszugehen. Das BVerfG rügt hier, dass der BFH im Rahmen des Fremdvergleichs bei § 1 Abs. 1 AStG ohne weiteres von einer üblichen Vollbesicherung der Darlehensgewährung ausgegangen sei. Ob ein derartiger Rechtssatz existiere habe der BFH weder dargelegt noch begründet.

3.) Verstoß gegen die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Verletzung der Bf im Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

Das BVerfG stellt grundlegend klar, dass der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist. Allerdings stelle nicht jeder Verstoß gegen die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ein Verstoß gegen Art. 101 GG dar. Dies sei nur der Fall, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht seinen Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten habe, als es von einer Vorlage an den EuGH abgesehen hat. Das BVerfG stellte klar, wann ein (letztinstanzliches) Gericht auf ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH verzichten kann. Dies ist nur bei zwei Konstellationen der Fall:    

a) „acte clair“

Ein solcher Fall ist gegeben, wenn das Gericht bei Anwendung und Auslegung einschlägigen materiellen Unionsrechts überzeugt ist, dass die Rechtslage von vorneherein eindeutig ist.

b) „acte éclairé”

Die in Frage stehende Unionrechtslage ist durch die Rechtsprechung in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel offen lässt (vgl. BVerfGE 129, 78,107).

Ist die Rechtsprechung des EuGH unvollständig, verletzt das Fachgericht Art. 267 Abs. 3 AEUV, wenn es eine von vorneherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage annimmt, ohne hierfür eine sachlich einleuchtende Begründung zu liefern (BVerfGE 135, 155,233 Rn 185; 147,364, 381 Rn 43).

Nach diesen Maßstäben hat der BFH das Recht der Bf auf den gesetzlichen Richter verletzt. Die Rechtsprechung des EuGH zu den Anforderungen der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sei noch unvollständig; der BFH habe daher das Unionsrecht nicht richtig anwenden können, er habe ohne hinreichend sachliche Begründung eine zweifelsfrei geklärte Rechtslage („carte éclairé) bejaht.

4.) Einkünftekorrektur nach § 1 Abs. 1 AstG als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

Die vom BFH nach § 1 Abs. 1 AStG vorgenommene Einkünftekorrektur stellt eine  Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist diese nur statthaft, wenn sie durch von  Unionsrecht anerkannte zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.

„Der EuGH erkennt als zwingenden Grund des Allgemeininteresses die Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen Mitgliedsstaaten an (Urteil vom 31. Mai 2018, Hornbach-Baumarkt C-382, 16, EU: C: 2018, 366 Rn 43 ff). Diese kann eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, wenn damit Verhaltensweisen verhindert werden sollen, die geeignet sind, das Recht eines Mitgliedsstaates auf Ausübung seiner Steuerhoheit…zu gefährden.“

Der BFH setzt sich nach Auffassung des BVerfG nicht mit der Frage auseinander, ob die Einkünftekorrektur in Hinblick auf nicht besicherte Forderungen diesem erklärten Ziel dient. Weder die Nichtbesicherung der Darlehensforderung noch die spätere Abschreibung der Forderung führe ohne weiteres zu einer Übertragung von Gewinnen.

Der EuGH verlange in jedem Fall, in dem der Verdacht bestehe, dass ein geschäftlicher Vorgang über das hinausgeht, was die betreffenden Gesellschaften unter Marktbedingungen vereinbart hätten, dass dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit eingeräumt wird, Beweise für etwaige wirtschaftliche Gründe für den Abschluss dieses Geschäfts beizubringen, die nicht fremdübliche Bedingungen rechtfertigen können.

Nach Auffassung des EuGH können wirtschaftliche Gründe dann vorliegen, wenn eine Tochtergesellschaft auf die Zuführung von Kapital angewiesen ist, weil sie über kein ausreichendes Eigenkapital verfügt (EuGH vom 31. Mai 2018, aaO Rn 54).

All dies hat der BFH in seinem angegriffenen Urteil nicht berücksichtigt. Er hätte nicht von der konkludenten Annahme eines „acte claire“ oder eines „acte éclairé“ im Hinblick auf das Urteil des EuGH vom 31. Mai 2018 (Hornbach-Baumarkt a a O) ausgehen dürfen, sondern nach § 267 Abs. 3 AEUV eine Vorlage an den EuGH fertigen müssen. Der BFH muss nun noch einmal neu entscheiden.

IV. Anmerkungen

Die wesentlichen Punkte des Beschlusses des BVerfG vom 4. März 2021 sind:

  1. Das BVerfG hat grundlegend klargestellt, dass der EuGH ein gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist.
  2. Es verletzt das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 GG, wenn ein letztinstanzliches Gericht – entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV – von einem gebotenen Vorlageersuchen absieht.
  3. Nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV stellt einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar („Überschreitung des Beurteilungsrahmens in unvertretbarer Weise“).
  4. Ein Verzicht auf ein Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH ist nur bei zwei Konstellationen zulässig:

a) Die Rechtslage ist bei Anwendung und Auslegung des einschlägigen Unionrechts von vorneherein eindeutig („acte clair“).

b) Die Unionrechtslage ist durch die Rechtsprechung in einer Weise geklärt, die keinen Zweifel offen lässt („acte éclairé”).

Ist die Rechtsprechung des EuGH unvollständig, dann bedarf es einer sachlich einleuchtenden Begründung, wenn ein Gericht von einer Vorlage an den EuGH absehen will (im Zweifel muss es vorlegen).

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