Ausgangspunkt: Die EU-Grundrechte-Charta
Die Stiftung “Jeder Mensch e. V.”, die gerade eine gleichnamige Initiative ins Leben gerufen hat, fordert sechs neue Grundrechte für Europa. Diese umfassen neue Grundrechte zu Umweltschutz, Globalisierung und digitaler Selbstbestimmung. Gestartet wurde die Initiative, nachdem der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach im März diesen Jahres ein neues Buch mit dem Titel “Jeder Mensch” herausgebracht hat. Was steckt hinter dem Vorschlag? Und wie entstehen überhaupt “neue” Grundrechte?
Worum geht es?
Ausgangspunkt der Überlegungen der Initiative rund um Ferdinand von Schirach ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (nachfolgend: Charta). Sie ist das Spiegelbild der Grundrechte aus dem deutschen Grundgesetz und bezieht sich auf alle EU-Bürger:innen und deren Rechte auf dem Gebiet der EU. Diese Charta, an der sich das EU-Recht messen lassen muss, schweigt zu vielen modernen Themen bzw. aktuellen Problematiken.
Moderne Grundrechtsverletzungen können beispielsweise Auswertungen von Passagierdaten an Flughäfen sein. Die sogenannte PNR-Richtlinie erlaubt es dem Bundeskriminalamt, in den Daten aller Passagiere internationaler Flüge nach „Mustern“ zu suchen. Dadurch sollen „bislang unbekannte Verdächtige“ entdeckt werden, also Menschen, die noch nie auffällig wurden, geschweige denn sich etwas haben zuschulden kommen lassen. Eine Evaluation der Europäischen Kommission hat ergeben, dass mindestens eine Polizeibehörde eines EU-Mitgliedstaats Personen bereits dann als verdächtig behandelt, wenn ihr „Gepäck nicht zur Dauer des Aufenthalts und ihrem Reiseziel passt“. Wer auf diese Weise markiert wird, kann überwacht, festgehalten, befragt und durchsucht werden.
Für solche Fälle oder beispielsweise wenn ein Mitgliedstaat Garantien aus der Charta systematisch verletzt (wie zuletzt geschehen in Polen oder Ungarn), bietet sie keine Möglichkeit, dagegen vor den Gerichtshof der Europäischen Union zu ziehen. Aufgrund der schnellen globalen und digitalen Entwicklung ist die Charta daher nicht mehr zeitgemäß. Als die Mütter und Väter der Charta vor etwas mehr als zwanzig Jahren über die Grundrechte berieten, war nicht alles absehbar, was uns heute beschäftigt.
Sechs neue Grundrechte
Die Grundrechte, die Schirach formuliert hat, lauten:
Artikel 1 – Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
Artikel 3 – Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
Artikel 4 – Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
Artikel 5 – Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
Artikel 6 – Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.
Schirach formuliert diese Vorschläge selbst als Utopien. Denn natürlich würden Rechte keine Wirklichkeit schaffen und unmittelbar zu Veränderungen führen. Sie erfüllen sich nicht von selbst. Sie formulieren nur, wie etwas sein soll. Rechte ermächtigen die Zivilgesellschaft aber dazu, ihnen an der Politik vorbei Geltung zu verschaffen. Und zwar, indem sie einklagbar werden. Um sich auf diese Rechte berufen zu können, müssten sie aber zunächst Teil der Charta werden.
Das deutsche Grundgesetz
In Deutschland ist die Änderung des Grundgesetzes nur eingeschränkt möglich. Dies ist in Art. 79 GG geregelt. Dort heißt es:
1) Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Bei völkerrechtlichen Verträgen, die eine Friedensregelung, die Vorbereitung einer Friedensregelung oder den Abbau einer besatzungsrechtlichen Ordnung zum Gegenstand haben oder der Verteidigung der Bundesrepublik zu dienen bestimmt sind, genügt zur Klarstellung, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der Verträge nicht entgegenstehen, eine Ergänzung des Wortlautes des Grundgesetzes, die sich auf diese Klarstellung beschränkt.
(2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.
(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.
Überblick: Strukturierung der Grundrechte
Prüfungsrelevante Lerneinheit
Das bedeutet, dass das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden kann, welches der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf - also eine absolute Zwei-Drittel-Mehrheit. In Art. 79 Abs. 3 GG ist die sogenannte Ewigkeitsgarantie niedergeschrieben. Art. 79 Abs. 3 GG regelt aufgrund der NS-Vergangenheit Deutschlands, dass eine Änderung, durch die die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in den Art. 1 bis 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht verändert oder außer Kraft gesetzt werden können. Daher ist eine Änderung des Grundgesetzes in Deutschland nur eingeschränkt möglich.
Verfassungskonvent notwendig
Im Europarecht handelt es sich mit der Charta um Primärrecht. Um potenzielle neue Grundrechte in die Charta aufzunehmen, bedarf es eines neuen Verfassungskonvents. Bei der Schaffung der EU-Grundrechte-Charta im Jahr 2000 kamen in dem Konvent Vertreter der Staatschefs, Mitglieder des Europäischen Parlaments und Parlamentarier aus den Mitgliedstaaten zusammen. Diese Rechte sind von den Organen und Institutionen der Union ebenso wie von den Mitgliedsstaaten, wenn sie EU-Recht umsetzen, zu achten und zu garantieren. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde von der Präsidentin des Europäischen Parlaments, dem Präsidenten des Rates und dem Präsidenten der Kommission anlässlich des Europäischen Rates von Nizza am 7. Dezember 2000 unterzeichnet und feierlich verkündet.
Das wäre auch jetzt das gängige Verfahren. Der Lissabon-Vertrag lasse die konkreten Ziele und Delegierten eines Verfassungskonvents offen, sagen zwei Anwälte, die Mitglieder in der Initiative sind, in einem Interview. Daher wolle die Initiative innerhalb der EU-Verträge etwas Neues anstoßen.
Eine neue Verfassungsgebung sei aber nicht einklagbar. Es könne aber die Überzeugung erzwungen werden, dass ein solcher Prozess als notwendig angesehen wird. Je mehr Menschen dieser Meinung seien, desto weniger werde sich die Politik dem verschließen können.
Ob die Initiative mit ihrem Vorstoß eine grenzüberschreitende Debatte auslösen kann, bleibt mit Spannung abzuwarten. Erste Initiativen in Österreich und Frankreich seien schon sichtbar. Es sei ein Anfang und jeder, der sich davon angesprochen fühle, könne sich in die Debatte einbringen, selbstverständlich auch dann, wenn er bessere Ideen habe. Jeder kann mit einem einfachen Klick unter www.jeder-mensch.eu über die Grundrechte abstimmen.
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