Sachverhalt, Überblick und Prüfungsaufbau
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im Jahr 2020 eine Reihe von Entscheidungen in den sog. Diesel-Fällen getroffen, die wir an dieser Stelle ausführlich vorgestellt haben. Nach dieser Rechtsprechung haben die Käufer der vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge einen Schadensersatzanspruch gegen die Volkswagen AG aus § 826 BGB. Kurz vor Ablauf des Jahres ist eine weitere Entscheidung dazugekommen, in der es um die Verjährung dieses Anspruchs geht. Das bietet einen guten Anlass, sich grundlegend mit der Verjährung zu beschäftigen.
A. Sachverhalt
Der Kläger erwarb im April 2013 einen VW Touran, der mit einem Dieselmotor vom Typ EA189 (Schadstoffnorm Euro 5) ausgestattet ist.
Die Volkswagen AG informierte die breite Öffentlichkeit in Form von Pressemitteilungen ab Ende September 2015 bis Mitte Oktober 2015 darüber, dass der Motor EA189 mit einer Abschalteinrichtung versehen sei, die vom Kraftfahrtbundesamt (KBA) als nicht ordnungsgemäß angesehen werde und daher zu entfernen sei. Auch durch das KBA wurde die Öffentlichkeit hierüber informiert. Zeitgleich war der sogenannte Dieselskandal Gegenstand einer sehr umfassenden Presseberichterstattung.
Mit seiner im Jahr 2019 eingereichten Klage hat der Kläger von der Volkswagen AG Ersatz des für das Fahrzeug gezahlten Kaufpreises abzüglich gezogener Nutzungen zuzüglich Deliktszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe des Fahrzeugs sowie Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten verlangt. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen, da der Anspruch verjährt sei. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel mit Ausnahme der Deliktszinsen weiter.
B. Überblick
Bereits in einer früheren Besprechung haben wir auf die Bedeutung der Verjährung in den Klausuren beider Examen hingewiesen. Die aktuelle Entscheidung des VI. Zivilsenats gibt uns die Gelegenheit, das Thema zu vertiefen.
I. Ausgangspunkt
Ist der Anspruch (§ 194 Abs. 1 BGB) verjährt, kann der Schuldner die geschuldete Leistung verweigern (§ 214 Abs. 1 BGB). Der Eintritt der Verjährung führt also nicht per se zum Anspruchsausschluss, sondern gibt dem Schuldner eine rechtshemmende Einrede: Der Anspruch besteht, kann aber nicht mehr durchgesetzt werden. Das setzt jedoch voraus, dass der Schuldner sich auf sein Leistungsverweigerungsrecht beruft. Insbesondere im Prozess muss er die Einrede der Verjährung erhoben haben.
Fällt dem Schuldner dagegen erst nach Erbringung der Leistung auf, dass der Anspruch verjährt war, kann er das Geleistete nicht zurückverlangen (§ 214 Abs. 2 Satz 1 BGB).
Eine verjährte Forderung kann für den Gläubiger aber weiterhin von Nutzen sein. § 215 BGB erlaubt die Aufrechnung mit einem verjährten Anspruch, wenn die Aufrechnungslage in unverjährter Zeit bestanden hat. Dasselbe gilt für die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts.
Eine weitere examensrelevante Vorschrift ist § 218 BGB: Danach ist der Rücktritt wegen einer nicht oder nicht vertragsgemäßen Leistung unwirksam, wenn der Primäranspruch auf die Leistung oder der Nacherfüllungsanspruch verjährt sind und sich der Schuldner darauf beruft.
Zur Erinnerung: Nach § 194 Abs. 1 BGB können nur Ansprüche verjähren. Der Rücktritt ist kein Anspruch, sondern ein Gestaltungsrecht. Verlangt in einem Klausurfall bspw. der Käufer die Rückzahlung des Kaufpreises, nachdem er vom Kaufvertrag zurückgetreten ist, weil die Sache mangelhaft ist (§ 346 Abs. 1 BGB), muss inzident geprüft werden, ob der Nacherfüllungsanspruch aus § 439 Abs. 1 BGB noch durchsetzbar wäre, soweit sich der Verkäufer auf dessen Verjährung beruft.
II. Prüfungsaufbau
Für die Prüfung der Verjährung bietet sich der folgende Aufbau an:
- Welche Verjährungsfrist gilt?
- Wann begann die Frist?
- Wann ist sie (rechnerisch) abgelaufen?
- Hat der Gläubiger den Ablauf der Verjährung rechtzeitig gehemmt?
- Beruft sich der Schuldner arglistig auf den Eintritt der Verjährung?
Aufbau der Prüfung – Verjährung, §§ 194 ff. BGB
Prüfungsrelevante Lerneinheit
In der Urteilsklausur im zweiten Examen sollte zunächst geprüft werden, ob die Einrede der Verjährung im Prozess erhoben oder anderweitig eingeführt wurde. Falls der Beklagte die Einrede nicht erhoben hat, kommt es trotzdem auf die Verjährung an, wenn sich die Einrede aus dem Klägervortrag ergibt. Heißt es in der Klageschrift, „Der Beklagte hat sich vorprozessual zu Unrecht auf die Verjährung des Anspruchs berufen.“, ist die Einrede der Verjährung in den Prozess eingeführt worden. Hat der Kläger nicht gleichzeitig Tatsachen vorgetragen, aus denen sich eine Hemmung der Verjährung ergibt, wird seine Klage abgewiesen. In der Anwaltsklausur muss man deshalb gut abwägen, ob man Einwendungen und Einreden gegen den Anspruch bereits in der Klage abhandelt.
1. Verjährungsfristen
Bei den Verjährungsfristen ist zwischen der Regelverjährung und speziellen Fristen zu unterscheiden.
a) Regelmäßige Verjährung
Für die meisten Ansprüche gilt die dreijährige Verjährungsfrist nach § 195 BGB. Sie beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen und der Person des Schuldners erlangt hat oder hätte erlangen müssen (sog. ultimo-Verjährung, § 199 Abs. 1 BGB). Die Anforderungen an den Verjährungsbeginn werden unter III. ausführlich dargestellt.
b) Weitere (examens-)relevante Fristen
Daneben gibt es eine Vielzahl spezieller Verjährungsregelungen, die hier nur aufgezählt werden können:
- §§ 196, 197 Abs. 1 Nr. 1, 2 –> Beginn: § 200 BGB
- § 197 Abs. 1 Nr. 3 - 6 –> Beginn: § 201 Satz 1 BGB
- §§ 438, 479, 548, 606, 634a, 651g, 852 BGB.
Beachte: Die in § 199 Abs. 2 bis 4 BGB genannten Fristen sind keine eigenständigen Verjährungsfristen, sondern sog. Höchstfristen, die sich allein auf Absatz 1 Nr. 2 beziehen. Das bedeutet, dass nach ihrem Ablauf der Anspruch auch dann verjährt ist, wenn der Gläubiger keine Kenntnis vom Anspruch oder der Person des Schuldners hatte.
2. Hemmung der Verjährung
Der Gläubiger hat verschiedene Möglichkeiten, den Verjährungseintritt zu verhindern, die wichtigste ist die Hemmung der Verjährung (§ 209 BGB). Sie tritt vor allem durch Rechtsverfolgung ein (§ 204 BGB).
Der häufigste Anwendungsfall ist die Erhebung einer Leistungs- oder Feststellungsklage (Abs. 1 Nr. 1). Eine Klage ist mit Zustellung der Klageschrift an den Beklagten erhoben (§ 253 Abs. 1 ZPO). Danach müsste der Kläger seine Klage so rechtzeitig einreichen, dass diese noch vor Ablauf der Verjährungsfrist zugestellt werden kann. Um es ihm zu ermöglichen, die Verjährungsfrist vollständig auszuschöpfen, bestimmt ** 167 ZPO**, dass die Hemmung bereits mit dem Eingang der Klage bei Gericht eintritt, wenn die Klage demnächst zugestellt wird. Eine Demnächst-Zustellung setzt eine Zustellung ohne Verzögerung voraus. Tritt jedoch eine Verzögerung ein, kommt es darauf an, ob diese vom Kläger zu vertreten ist oder in den Verantwortungsbereich des Gerichts fällt, zu dem in dieser Konstellation auch die Post gehört. Im ersten Fall kann sich der Kläger nur dann auf § 167 ZPO berufen, wenn die Verzögerung weniger als 14 Tage beträgt, beginnend mit dem Zeitpunkt, in dem ansonsten zugestellt worden wäre. Im zweiten Fall ist auch eine Verzögerung von mehr als zwei Wochen grundsätzlich unerheblich. Allerdings trifft den Kläger nach einer gewissen Zeit die Obliegenheit, beim Gericht nachzufragen.
Weite examensrelevante Hemmungstatbestände des § 204 BGB sind die Zustellung des Mahnbescheids (Nr. 3), die Zustellung der Streitverkündungsschrift (Nr. 6), für die § 167 ZPO ebenfalls gilt, und die Prozessaufrechnung (Nr. 5). In den Diesel-Fällen spielt zudem die Erhebung einer Musterfeststellungsklage nach Nr. 1a BGB eine große Rolle. Die Hemmung durch Rechtsverfolgung endet gemäß Abs. 2 Satz 1 BGB sechs Monate nach rechtskräftiger Beendigung des Rechtsstreits oder anderweitigen Beendigung des Verfahrens.
Weitere wesentliche Hemmungstatbestände sind schwebende Verhandlungen der Parteien über den Anspruch (§ 203 BGB), zwischen den Parteien vereinbarte Leistungsverweigerungsrechte (§ 205 BGB) und die elektive Konkurrenz nach § 213 BGB (BGH zur Hemmung und Verjährung durch Hilfsaufrechnung und elektive Konkurrenz).
III. Beginn der regelmäßigen Verjährung nach § 199 Abs. 1 BGB
Zur Wiederholung: Die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen und der Person des Schuldners (Name und Anschrift) erlangt hat oder hätte erlangen müssen.
1. Entstehung des Anspruchs
Der Anspruch ist entstanden, wenn er fällig ist. Es kommt darauf an, ob der Gläubiger den Anspruch durch Klage geltend machen kann. Dafür genügt aber eine Feststellungsklage(§ 256 ZPO). Deshalb ist der Anspruch auch dann bereits entstanden, wenn er noch nicht beziffert werden kann. Bei Schadensersatzansprüchen ist Voraussetzungen, dass ein Schaden bereits eingetreten ist, auch wenn die Höhe noch nicht feststeht. Damit beginnt zugleich die Verjährung für künftige Schadensfolgen, es sei denn, diese waren nach er allgemeinen Lebenserfahrung nicht vorhersehbar.
2. Kenntnis des Gläubigers
Die Anforderungen an die Kenntnis des Gläubigers stellt der VI. Zivilsenat des BGH in der vorliegenden Entscheidung geradezu schulmäßig dar. Schon deshalb kann die Lektüre nur wärmstens empfohlen werden.
Grundsätzlich kommt es auf die Kenntnis des Gläubigers selbst an. Hat dieser die Aufklärung oder Durchsetzung des Anspruchs einem Dritten in Eigenverantwortung übertragen, ist jedoch dessen Kenntnis maßgeblich. Solche Dritte sind vor allem Rechtsanwälte oder Sachbearbeiter in einem Unternehmen. Bei Geschäftsunfähigen oder beschränkt Geschäftsfähigen kommt es auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters an.
a) Anspruch
Der Gläubiger muss den Anspruch kennen.
aa) Tatsachenkenntnis
§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB stellt nur auf die Kenntnis der tatsächlichen Umstände ab. Ob der Gläubiger daraus die richtigen Schlussfolgerung zieht, ist grundsätzlich unerheblich. Die erforderliche Kenntnis des Gläubigers liegt deshalb bereits dann vor, wenn ihm die Erhebung einer Klage – auch hier genügt die Feststellungsklage - zugemutet werden kann. Das ist dann der Fall, wenn die Klage bei verständiger Würdigung hinreichende Erfolgsaussichten hat. Es ist nicht erforderlich, dass die Rechtsverfolgung risikolos möglich ist.
bb) Fehlende Rechtskenntnis
Nur in eng begrenzten, besonders begründeten Ausnahmefällen kann die Rechtsunkenntnis des Gläubigers eine Klageerhebung unzumutbar machen. Das setzt voraus, dass eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage vorliegt, die selbst ein rechtskundiger Dritter nicht zuverlässig als erfolgversprechend, wenn auch nicht risikolos einzuschätzen vermag.
- Eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage besteht nicht schon dann, wenn noch keine höchstrichterliche Entscheidung einer bestimmten Frage vorliegt. Vielmehr ist dafür zumindest ein ernsthafter Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung erforderlich. Die Verjährung beginnt, wenn die Rechtslage geklärt ist.
- Ist die Rechtslage ausgehend von früheren höchstrichterlichen Entscheidungen und den darin aufgestellten Grundsätzen erkennbar, weil sich diese Grundsätze auf die nunmehr zu entscheidende Fallkonstellation übertragen lassen, so verspricht die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist zumutbar. Dies gilt auch dann, wenn Instanzgerichte, auch Obergerichte, sowie das Schrifttum die maßgebliche Rechtsfrage nicht einheitlich beantworten. Dann ist die Rechtslage nicht in einem solchen Maße zweifelhaft und ungeklärt, dass eine Klage als unzumutbar anzusehen. Das Risiko, dass erst eine abschließende Entscheidung des Bundesgerichtshofs Gewissheit bringen wird, ist dem Gläubiger zuzumuten.
- Wird die Rechtslage erst unsicher, nachdem die Verjährungsfrist zu laufen begonnen hat, so schiebt dies den Beginn der Verjährungsfrist nicht (nachträglich) hinaus.
- Unzumutbar ist die Klageerhebung, wenn der Durchsetzung des Anspruchs eine gegenteilige höchstrichterliche Rechtsprechung entgegensteht. Das gilt solange, bis sich - etwa in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte - eine gefestigte Gegenmeinung herausgebildet hat. Eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die die Erfolgsaussichten einer Klage lediglich verbessert, rechtfertigt dagegen den Aufschub des Verjährungsbeginns nicht.
b) Person des Schuldners
Darüber hinaus muss der Gläubiger die Person des Schuldners kennen, also wissen, wie er heißt und wo er wohnt. Nur dann ist er in der Lage, gegen diesen Klage zu erheben.
C. Zwischenfazit
Nachdem wir uns nun einen ausführlichen Überblick zum Thema verschafft haben, besprechen wir in der kommenden Woche mit diesem Vorwissen im zweiten Teil des Beitrags die Entscheidung des BGH und vertiefen die wichtigsten, prüfungsrelevanten Aussagen.
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