OVG Lüneburg: Vorläufige Außervollzugsetzung der Niedersächsischen Corona- Beherbergungs-Verordnung

OVG Lüneburg: Vorläufige Außervollzugsetzung der Niedersächsischen Corona- Beherbergungs-Verordnung

A. Sachverhalt

Der Antragsteller betreibt einen Ferienpark, in dem er Ferienhäuser, Wanderurlaub und Mountain-Bike-Touren anbietet. Er begehrt mit seinem Normenkontrollantrag vom 13.10.2020 die vorläufige Außervollzugsetzung der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung vom 9. Oktober 2020.

I. Der Antragsteller macht geltend:

Das Beherbergungsverbot in § 1 Abs. 1 Satz 1, § 1 Abs. 2 Satz 1 verletze seine Berufs- und Eigentumsfreiheit. Es sei nicht hinreichend bestimmt, da nicht klar sei, ob es nur auf die Veröffentlichungen des Ministeriums ankomme, oder ob daneben auch die Zahl der Neuinfektionen im Verhältnis zur Bevölkerung (50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohner) in den letzten sieben Tagen vorgelegen haben müsse.

Das Verbot sei zur Zielerreichung ungeeignet und nicht notwendig. Die Ausnahmen von dem Verbot (ein negativer molekularbiologischer Test 48 Stunden vor Anreise) könne Infektionen kurz vor oder während der Reise nicht erfassen. Das Testerfordernis erhöhe so lediglich die Unsicherheit der Reisewilligen.

Die in § 1 Abs.1 Satz 1 der Verordnung vorgenommene Anknüpfung gäbe keine verlässliche Auskunft über die Gefährdungslage. Schließlich gebe es keine tatsächlichen Erkenntnisse, wonach touristische Reisen im Inland überhaupt signifikante Infektionsgefahren mit sich brächten.

II. Der Antragsgegner tritt dem entgegen:

Er erwidert, das Verbot sei hinreichend bestimmt, die Veröffentlichungen können im Internetauftritt des Landes gefunden werden. Das Beherbergungsverbot sei auch verhältnismäßig. Es ziele auf einen präventiven Infektionsschutz ab. Ziel des Verbots sei der Verzicht auf Reisen; dies sei Teil eines Maßnahmepaketes zur Verhinderung eines weiteren Lockdowns.

Das Verbot sei auch angemessen, Ausnahmen vom Verbot seien durch einen negativen Corona Test möglich. Die Abwägung zwischen dem gebotenen Schutz von Leben und Gesundheit gehe zu Lasten wirtschaftlicher Beeinträchtigungen der Betreiber von Beherbergungsbetrieben.

B. Gründe

„Der zulässige Antrag ist begründet und führt zur vorläufigen Außervollzugsetzung des § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs.2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung mit allgemeinverbindlicher Wirkung.“

I. Zulässiger Normenkontrollantrag

Das Niedersächsische OVG bejaht zunächst die Zulässigkeit des Normenkontrollantrages nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG. Die Niedersächsische Corona-Beherbergungs-Verordnung vom 9. Oktober 2020 sei eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG.

Der Antragssteller sei auch antragsbefugt, da er geltend machen könne in eigenen Rechten (Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG) verletzt zu sein. Eine Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 14 Abs. 1 GG) dürfte nicht vorliegen, da dieser nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern erfasse, nicht aber bloße Umsatz- und Gewinnchancen.

Berufsfreiheit, Art. 12 I GG
Prüfungsrelevante Lerneinheit

II. Der Normenkontrollantrag ist auch begründet

1. Prüfungsmaßstab

„Prüfungsmaßstab ist die Erfolgsaussicht des Normenkontrollantrags im Hauptsacheverfahren. Ein prognostizierter Erfolg ist ein wesentliches Indiz für eine Suspendierung des Vollzuges bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren. Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht abschätzen, ist über den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgeabwägung zu entscheiden. Dabei sind Gegenüberzustellen die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos wäre ( sogenannte Doppelhypothese). Die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, d.h. so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung… dringend geboten ist ( vgl. Rspr. BVerwG, Beschluss vom 30.4.2019, BVwerG 4 VR 3.19- juris Rn 4….).

Normenkontrollantrag, § 47 VwGO
Prüfungsrelevante Lerneinheit

2. Erfolgsaussicht in der Hauptsache

Das OVG bejaht die formelle Rechtmäßigkeit der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung, verneint aber ihre materielle Rechtmäßigkeit.

a. Keine hinreichenden bestimmten Regelungen

„§ 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung bestimmt nicht hinreichend klar, welche Personen von dem Beherbergungsverbot betroffen sein sollen. Es bleibt offen, ob die Personen in dem Gebiet ihren melderechtlichen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben müssen oder ob bereits ein kurzzeitiger vorübergehender Aufenthalt in dem Gebiet… genügt und welche konkrete Dauer dieser aufweisen muss. Diese Lücke vermag der Senat auch nicht durch Anwendung herkömmlicher Auslegungsmethoden zu füllen.“

b. Materielle Anforderungen aus § 28 Satz 1 und 2 IfSG

„Der Senat hat keine Zweifel, dass beim gegenwärtigen Stand der Corona Pandemie die Voraussetzungen für ein staatliches Einschreiten vorliegen; die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs.1 Satz 1 und 2 sind mit Blick auf das “Ob” eines staatlichen Handelns gegeben… (wird ausgeführt) und verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln. Das… angeordnete Beherbergungsverbot erweist sich in seiner konkreten Ausgestaltung aber nicht als notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.§ 28 Abs. 1 IfSG liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat §28 Abs. 1 Satz 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestattet (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.3.2012 – BVerwG 3C 16.11, BVerwGE 142, 205, 2013). Der Begriff der Schutzmaßnahme ist folglich umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen. Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs.1 IfSG können daher auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein.“

Dabei seien die Regelungen in den § 29- 31 IfSG nicht abschließend.

„Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall notwendig sein muss.“

Es reiche nicht, dass die Maßnahme bloß als nützlich angesehen werde, sie müsse zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sein.

Diese objektive Notwendigkeit sieht der Senat im angeordneten Beherbergungsverbot nicht gegeben. Das liege daran, dass unmittelbar nur Personen vom Verbot betroffen seien, die aus veröffentlichten Risikogebieten zu touristischen Zwecken einreisen und übernachten wollen, nicht aber Personen, die ohne zu übernachten zu jedweden Zwecken einreisen (z.B. Berufspendler). Das Beherbergungsverbot als solches erhöhe nicht offensichtlich die Gefahr der weiteren Ausbreitung von COVID-19. Dies gelte auch für die Reisetätigkeit als solche. Der Antragsgegner habe keine nachvollziehbaren Erkenntnisse präsentieren können, welche Zahl von infizierten Personen in den letzten Wochen im Bundesgebiet und in Niedersachsen auf Reisen innerhalb Deutschlands zurückzuführen seien. Dies dürfte nur ein sehr geringer Anteil sein. Auch die Publikationen des Robert-Koch-Instituts lieferten hierzu keine weiteren Erkenntnisse.

Schließlich sei die Eignung und Erforderlichkeit des Beherbergungsverbots auch deshalb zweifelhaft, weil gegenüber Personen aus Risikogebieten außerhalb Niedersachsens ein strukturelles Vollzugsdefizit naheliege, denn diese Personen unterliegen nur dann einem Beherbergungsverbot, wenn das Gebiet aus dem sie einreisen, als Risikogebiet veröffentlicht worden ist und seit wann. Letzteres ergäbe sich aus der Liste des Ministeriums gerade nicht. Die Durchsetzung des Beherbergungsverbots hänge somit maßgeblich von -nicht überprüfbaren- Angaben der einreisenden Personen ab. Dieses normativ angelegte Vollzugsdefizit führe zu einer nicht gerechtfertigten Gleichbehandlung von Reisenden.

Das Beherbergungsverbot sei darüber hinaus auch unangemessen angesichts der gravierenden negativen Auswirkungen für die Berufsausübung der Betreiber von Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen; auf diese käme ein erheblicher Organisationsaufwand zu.

Diese gravierenden Auswirkungen würden auch nicht gemildert durch die in der Verordnung vorgesehenen Ausnahmen (wird ausgeführt). Diese negativen Auswirkungen für die Berufsausübung stünden in keinem angemessenen Verhältnis mehr zu dem legitimen Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19 (wird ausgeführt).

„Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass das Beherbergungsverbot ein wesentlicher Baustein in der Strategie der Pandemiebekämpfung ist. Die vorläufige Außervollzugsetzung wirkt nicht nur zu Gunsten des Antragstellers in diesem Verfahren, sie ist allgemeinverbindlich und vom Antragsgegner unverzüglich im  Verordnungsblatt zu veröffentlichen. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.“

C. Anmerkungen

Die niedersächsische Landesregierung ist der Entscheidung des OVG gefolgt und hat die Corona-Beherbergungs-Verordnung aufgehoben.

Das niedersächsische OVG hat seine Entscheidung sorgsam und ausführlich begründet und überzeugt in allen Punkten.

Zu einem gleichen Ergebnis ist der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 15.10.2020 (A.Z. 1 S 3156/20-juris) gekommen. Er hat ein ähnliches Verbot der Corona Verordnung (§ 2 und 3) des Landes Baden- Württemberg aufgehoben. Zur Begründung hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, das Beherbergungsverbot greife in unverhältnismäßiger Weise in das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG ein. Der Eingriffszweck und die Eingriffsintensität stünden nicht in einem angemessenen Verhältnis zueinander. Trotz steigender Fallzahlen in Deutschland seien keine Ausbrüche in den Beherbergungsbetrieben bekannt. Treiber der Pandemie seien das Feiern in größeren Gruppen oder der Aufenthalt in Bereichen, wo die Abstands- und Hygieneregeln aufgrund räumlicher Enge nicht eingehalten würden.

Freizügigkeit, Art. 11 GG
Prüfungsrelevante Lerneinheit

Die Bundesregierung plant* nun eine Änderung der §§ 28,32 IfSG; einzelne  Schutzmaßnahmen sollen standardmäßig aufgenommen werden (s. Bundesrat Drucksache 645/20 vom 6.11.2020).

Beherbergungsverbote werden darin nicht selbstständig aufgeführt.

*Update: Mittlerweile ist die Anmerkung überholt, weil Bundestag und Bundesrat am 18.11.2020 eine Änderung des IfSG beschlossen haben. Im neu eingefügten § 28a ist in Abs. 1 Nr. 12 ist als Schutzmaßnahme explizit „Untersagung oder Beschränkung von Übernachtungsangeboten” genannt.