BVerfG zum Durchgriffsverbot

BVerfG zum Durchgriffsverbot

Der Bund darf die Aufgaben der Kommunen nicht substanziell ausweiten

Nach einem kürzlich veröffentlichten Beschluss des BVerfG (Beschl. v. 07.07.2020), soll der Bund die Kommunen durch seine Sozialgesetzgebung in ihren Rechten verletzt haben. Zehn Nordrhein-Westfälische Städte klagten dagegen erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Worum geht es?

Durch das Bildungs- und Teilhabepaket 2011 wurden die Sozialleistungen für bedürftige Kinder und Jugendliche erweitert. Dabei wurde der Adressatenkreis der Leistungen größer und das Leistungsspektrum erweitert. 

Dazu gehören z. B. Zusatzleistungen für Schulausflüge und Klassenfahrten, oder Zusatzleistungen für die soziale und kulturelle Teilhabe. Die neuen Aufgaben werden von den Gemeinden wahrgenommen und führen zu einer finanziellen und personellen Mehrbelastung. Hauptsächlich geht es dabei um Regelungen des zweiten und zwölften Sozialgesetzbuches. Zu einem Verfahren kam es in Folge einer Kommunalverfassungsbeschwerde durch zehn Städte in Nordrhein-Westfalen. Die Städte klagten, weil sie sich einer unrechtmäßigen Belastung durch die Bundesgesetzgebung ausgesetzt sahen. 

Das Bildungs- und Teilhabepaket ist selbst in Folge einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 2010 (BVerfGE 125, 175 - 260) entstanden. Das Urteil bezeichnete die damals geltende Sozialgesetzgebung als ungenügend. Danach sei bei der Berechnung der Leistungssätze bisher nicht hinreichend auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen geachtet worden. Ein menschenwürdiges Existenzminimum für jeden, sei nicht gewährleistet gewesen. Dem Gesetzgeber wurde eine Frist bis Ende 2010 gesetzt, um Korrekturen vorzunehmen. Das Bildungs- und Teilhabepaket von 2011 sollte diese Entscheidung umsetzen. 

Das Urteil des zweiten Senates über die neuen Regelungen beruht allerdings nicht auf einer ungenügenden Umsetzung der bisherigen Rechtsprechung. Die hinreichende Gewährleistung eines Existenzminimums stand in diesem Verfahren nicht in Frage. Das Bundesverfassungsgericht sieht einen Verstoß gegen das sogenannte Durchgriffsverbot.

Was ist das Durchgriffsverbot?

In Deutschland herrscht eine Aufteilung der öffentlichen Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Diese ergibt sich aus dem Grundgesetz. Die Stellung der Gemeinden ist geprägt durch das Recht auf Selbstverwaltung aus Art. 28 II GG. Daraus geht hervor, dass eine Gemeinde die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich regeln darf.

Das Durchgriffsverbot ist eine besondere Ausgestaltung des Rechtes auf Selbstverwaltung. Im Zuge der Föderalismusreform von 2006 wurde zusätzlich der Art. 84 I 7 GG eingeführt. Danach dürfen durch die Bundesgesetzgebung keine Aufgaben an Gemeinden und Gemeindeverbände übertragen werden. Eine Aufgabenzuweisung an Gemeinden soll also nur durch die Länder erfolgen können.

Aus dem aktuellem Beschluss des BVerfG geht hervor, dass das Durchgriffsverbot weit auszulegen sei. Zur Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden würde insbesondere auch eine finanzielle und personelle Planungshoheit gehören. Sowohl die Übertragung neuer Leistungspflichten an die Gemeinden als auch die starke Ausweitung schon bestehender Leistungspflichten, durch den Bund, würden gegen das Durchgriffsverbot verstoßen. Ob der Mehraufwand für die Gemeinden auch praktisch stark ins Gewicht fällt, sei allerdings nur bei der Ausweitung von Leistungspflichten relevant, jedoch nicht bei Übertragung neuer Leistungspflichten. 

Was folgt aus dem Urteil?

Aus dem Urteil geht hervor, dass die in Frage stehenden Regelungen teilweise mit der Verfassung unvereinbar sind. 

Das BVerfG kann verfassungswidrige Gesetze nach § 95 III 1 in Verbindung mit § 78 S. 1 BVerfGG für nichtig erklären. Damit besitzt das BVerfG als einziges deutsches Gericht eine Normverwerfungskompetenz für Gesetze. Eine Unvereinbarkeit mit der Verfassung muss allerdings nicht immer zu einer Nichtigkeit des Gesetzes führen. 

Das BVerfG hat dem Gesetzgeber in seiner Entscheidung eine Frist zur Neuregelung bis Ende 2021 gesetzt. Würde die Regelung sofort unanwendbar werden, könnten keine Sozialleistungen mehr ausgezahlt werden. Die Leistungen gehörten allerdings zu einer Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Eine Aussetzung der Regelungen würde seinerseits zu einem verfassungswidrigen Zustand führen und erhebliche verwaltungsrechtliche Probleme nach sich ziehen. Bis zur Neuregelung würden daher die bisherigen Regelungen weiter anwendbar bleiben.

Wie funktioniert eine Kommunalverfassungsbeschwerde?

Als erstes denkt man bei einer Verfassungsbeschwerde meistens an eine Klage von natürlichen Personen, welche sich durch den Staat in ihren Grundrechten verletzt sehen. Grundsätzlich verlangt die Verfassungsbeschwerde die Beteiligtenfähigkeit gemäß § 90 I BVerfGG. Danach ist jeder beteiligtenfähig, der Träger von Grundrechten ist („jedermann“). Einen Sonderfall bildet daher die Kommunalverfassungsbeschwerde.

Die Kommunalverfassungsbeschwerde ist in Art. 93 I Nr. 4b GG vorgesehen. Danach können auch Gemeinden und Gemeindeverbände eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG erheben. Diese sind als Träger öffentlicher Gewalt allerdings grundsätzlich nicht Träger von Grundrechten. Ihnen steht nur ein Klagerecht zu, wenn ihr Recht auf Selbstverwaltung aus Art. 28 GG durch ein Gesetz verletzt sein könnte. 

Das Durchgriffsverbot ist eine spezielle Ausformung des Rechtes auf Selbstverwaltung. Die Möglichkeit einer Verletzung berechtigt die Gemeinden daher im aktuellen Fall zu einer Klage.

Was ist das menschenwürdige Existenzminimum eigentlich?

Im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung ist oft das menschenwürdige Existenzminimum ein Thema. Ausdrücklich findet man das menschenwürdige Existenzminimum nicht im Grundgesetz.

Das BVerfG leitet dies als Grundrecht aus Art. 1 I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG her (siehe z. B. die Entscheidung, die später zum Bildungs- und Teilhabepaket geführt hat: BVerfGE 125, 175 – 260). Die Verbindung mit der unantastbaren Menschenwürde deutet auf den hohen Stellenwert des Grundrechtes hin.

Durch das Existenzminimum soll jeder hilfsbedürftigen Person (unter anderem) ein Mindestmaß an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilnahme ermöglicht werden.

Schaue Dir hier die prüfungsrelevanten Lerneinheiten und weiterführenden Beiträge zu diesem Thema an:

 - [Menschenwürde, Art. 1 I GG](https://jura-online.de/lernen/menschenwuerde-art-1-i-gg/3729/excursus?utm_campaign=Wusstest_Du_BVerfG_zum_Durchgriffsverbot)

 - [Kommunales Selbstverwaltungsrecht, Art. 28 II GG](https://jura-online.de/lernen/kommunales-selbstverwaltungsrecht-art-28-ii-gg-art-57-nv/3832/excursus?utm_campaign=Wusstest_Du_BVerfG_zum_Durchgriffsverbot)

 - [Kommunalverfassungsbeschwerde, Art. 93 I Nr. 4b GG, §§ 13 Nr. 8a, 91 ff. BVerfGG](https://jura-online.de/lernen/kommunalverfassungsbeschwerde-art-93-i-nr-4b-gg-13-nr-8a-91ff-bverfgg/3835/excursus?utm_campaign=Wusstest_Du_BVerfG_zum_Durchgriffsverbot)