OLG Celle: "Flucht in die Säumnis" und Verzögerung des Rechtsstreits

A. Sachverhalt (vereinfacht)

Die Klägerin verlangt aus abgetretenem Recht die Rückgewähr von Zahlungen auf Rechnungen der Beklagten für das Bergen, Abschleppen und Unterstellen eines Sattelzuges, der bei einem Verkehrsunfall vom Versicherungsnehmer der Klägerin schuldhaft beschädigt wurde. Der Versicherungsnehmer hat die Zahlungen erbracht, um seinen Sattelschlepper zurückzubekommen, sich die Rückforderung aber vorbehalten. Die Klägerin ist der Auffassung, die Abrechnungen seien wucherisch erfolgt, weil die Beklagte damit die marktüblichen Preise überschritten habe. Die Beklagte hat im schriftlichen Vorverfahren auf die Klage nicht erwidert. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Hannover am 13. September 2019 hat sie keinen Antrag gestellt. Gegen das darauf hin gegen sie ergangene Versäumnisurteil hat sie Einspruch eingelegt und in der Einspruchsschrift u.a. behauptet, die Abrechnungen seien zu den marktüblichen Preisen erfolgt. Auf den Einspruchstermin vom 15. November 2019 hat das Landgericht das Versäumnisurteil aufrechterhalten. Das Bestreiten der Beklagten in Bezug auf die Marktunüblichkeit der abgerechneten Preise hat es dabei als nach § 296 Abs. 1 ZPO präkludiert zurückgewiesen. Die Zulassung hätte zu einer Verzögerung des Rechtsstreits geführt, da ein Sachverständigengutachten erforderlich geworden wäre, das bis zum Einspruchstermin nicht hätte eingeholt werden können. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten zum OLG Celle.

 

B. Überblick

Die Entscheidung berührt eine Vielzahl examensrelevanter Probleme: Gegen die Beklagte ist ein Versäumnisurteil ergangen, weil sie in der mündlichen Verhandlung keinen Antrag gestellt hat und damit so behandelt werden musste, als ob sie nicht erschienen wäre (§ 333 ZPO). Ein nicht erschienener Beklagter wird durch Versäumnisurteil verurteilt, wenn die Klage schlüssig ist (§ 331 Abs. 1, 2 ZPO).

Aber warum hat die Beklagte dann keinen Antrag gestellt?

Die Antwort findet sich in § 296 Abs. 1 ZPO: Danach ist verspäteter Vortrag zurückzuweisen, wenn seine Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Die Beklagte hatte die Klageerwiderungsfrist nach § 276 Abs. 1 Satz 2 ZPO versäumt, die in der abschließenden Aufzählung der einschlägigen Fristen in § 296 Abs. 1 ZPO ausdrücklich genannt ist. Damit wäre ihr erstmaliges Bestreiten der Marktunüblichkeit der abgerechneten Preise in der mündlichen Verhandlung vom 13. September 2019 verspätet gewesen. Ein Beklagter muss seine Verteidigungsmittel nämlich grundsätzlich in der Klageerwiderung vorbringen (§ 277 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Dies allein hätte für eine Zurückweisung noch nicht genügt. Vielmehr hätte die Zulassung des Bestreitens zu einer Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits führen müssen. Wann dies der Fall ist, wird nicht einheitlich beantwortet. Nach einer Auffassung soll es auf einen Vergleich mit derjenigen Prozesslage ankommen, die bestehen würde, wenn der Beklagte bereits in der Klageerwiderung vorgetragen hätte (relativer Verzögerungsbegriff). Überwiegend wird jedoch vertreten, dass es allein darauf ankomme, ob sich der Prozess bei Zulassung des verspäteten Vorbringens später erledigt als bei einer Zurückweisung (absoluter Verzögerungsbegriff). Für die praktische Anwendung des absoluten Verzögerungsbegriffs kommt es darauf an, ob im Hinblick auf den verspäteten Vortrag ein neuer Termin anberaumt werden müsste. Ist das der Fall, würde sich die Erledigung des Rechtsstreits verzögern und der Vortrag wäre zurückzuweisen.

Der hiesigen Beklagten war offenbar klar, dass das Landgericht ihr Bestreiten der Marktunüblichkeit zurückgewiesen hätte. Durch dieses Bestreiten wäre der klägerische Vortrag streitig und damit beweisbedürftig geworden. Das Landgericht hätte folglich ein Sachverständigengutachten einholen und hierüber verhandeln müssen. Dies hätte ersichtlich zu einer Erledigungsverzögerung geführt. Die Beklagte hätte ihr verspätetes Vorbringen auch nicht im Berufungsverfahren retten können, denn nach § 531 Abs. 1 ZPO bleiben Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszuge zu Recht zurückgewiesen worden sind, auch im Berufungsverfahren ausgeschlossen. Die Beklagte wäre deshalb rechtskräftig zur Rückzahlung verurteilt worden. Sie musste also einen Weg finden, das Landgericht zu einem neuen Termin zu verpflichten. Die Flucht in die Säumnis durch unterlassene Antragstellung war dieser Weg, weil sie zu einem Einspruchstermin führen konnte.

Gegen ein Versäumnisurteil ist (nur, § 514 Abs. 1 ZPO) der Einspruch statthaft (§ 338 ZPO). Dieser muss innerhalb der Notfrist von zwei Wochen seit Zustellung des Urteils eingelegt werden (§ 339 Abs. 1 ZPO). Hierzu muss eine Einspruchsschrift beim Prozessgericht eingereicht werden (§ 340 Abs. 1 ZPO).

Nach Eingang des Einspruchs prüft das Gericht zunächst dessen Zulässigkeit (§ 341 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Hält es den Einspruch für unzulässig, weist es den Einspruchsführer darauf hin. Dieser hat nun beispielsweise die Möglichkeit, bei Fristversäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen (§ 233 ZPO). Andernfalls verwirft das Gericht den Einspruch durch Urteil als unzulässig (§ 341 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 ZPO) und erlegt dem Einspruchsführer die weiteren Kosten des Rechtsstreits auf. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar (§ 708 Nr. 3 ZPO). Eine Abwendungsbefugnis für den Einspruchsführer als Schuldner gibt es nicht (§ 711 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Ist der Einspruch zulässig, beraumt das Gericht einen Einspruchstermin an (§ 341a ZPO). Genau das war es, was die Beklagte wollte. Sie hat in der Einspruchsschrift bestritten, dass die von ihr abgerechneten Preise nicht marktüblich gewesen sein sollen. Danach ging sie sicher davon aus, das Landgericht werde zu dieser Frage nach dem Einspruchstermin ein Sachverständigengutachten einholen. Damit lag sie aber erst einmal falsch, denn das Landgericht hat das Bestreiten zurückgewiesen.

 

C. Entscheidung

Das OLG Celle erläutert zunächst, dass es sich bei der Flucht in die Säumnis um eine prozesstaktische Maßnahme handelt, um der Zurückweisung verspäteten Vorbringens zu entgehen. Nach dem wirksamen Einspruch gegen das Versäumnisurteil müsse das Gericht im Rahmen der Vorbereitung des Einspruchstermins alles Zumutbare unternehmen, um eine verzögerungsfreie Berücksichtigung des neuen Vortrags zu ermöglichen. Unter Zugrundelegung des absoluten Verzögerungsbegriffs wäre es bei Zulassung des Bestreitens der Marktunüblichkeit jedoch zu einer Verzögerung der Erledigung gekommen, da sodann ein Sachverständigengutachten hätte eingeholt werden müssen, während infolge der Zurückweisung des Vortrags die Sache entscheidungsreif gewesen sei.

Das Vorgehen des Landgerichts begegne jedoch verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar habe das OLG Köln (22 W 17/05) bereits entschieden, dass ein Einspruchstermin unverzüglich und schnellstmöglich anzuberaumen sei. Nach Ansicht des OLG Saarbrücken (4 U 69/00) sei es damit unvereinbar, die Anfertigung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens abwarten zu müssen. Vorliegend habe dies jedoch zu einer Überbeschleunigung geführt. Verspätetes Vorbringen dürfe nicht ausgeschlossen werden, wenn offenkundig ist, dass dieselbe Verzögerung auch bei rechtzeitigem Vortrag eingetreten wäre (BVerfG 1 BvR 903/85).

Zur Begründung der Überbeschleunigung geht das OLG Celle zunächst davon aus, dass das Landgericht auch bei einem Bestreiten der Marktunüblichkeit in der Klageerwiderung nicht sofort ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben, sondern zunächst versucht hätte, die Parteien zur gütlichen Beilegung des Rechtsstreits zu bewegen. Erst wenn die Güteverhandlung gescheitert wäre, hätte es zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 13. September 2019 einen Beweisbeschluss erlassen. Dasselbe wäre im Einspruchstermin am 15. November 2019 geschehen, wenn das Landgericht das verspätete Bestreiten zugelassen hätte. Die tatsächliche Verzögerung betrage somit nur zwei Monate. Bezogen auf die zu erwartende Gesamtdauer des Verfahren bei Zulassung des Vortrags stelle dies in Anbetracht des Umstandes, dass die Zurückweisung für die Beklagte einen erheblichen Einschnitt in ihre Rechte (Art. 103 GG) bedeute, keine erhebliche Verzögerung dar. Bei der Einholung von Sachverständigengutachten gebe es viele Unwägbarkeiten im zeitlichen Ablauf: Verzögerungen bei der Vorschusszahlung, Unvorhersehbarkeiten bei der Gutachtenerstellung, Fristverlängerungsgesuche der Parteien zur Stellungnahme, Terminvorlauf bei Gericht, etwaige Terminverlegungsanträge. Die Annahme einer Verzögerung des Rechtsstreits bei Zulassung des verspäteten Vorbringens sei deshalb nicht sicher vorhersehbar. Im Übrigen hätte das Landgericht auf die Verzögerung durch Verhängung einer Verzögerungsgebühr nach § 38 GKG gegen die Beklagte reagieren können.

 

D. Prüfungsrelevanz

Sowohl der Einspruch gegen ein Versäumnisurteil nach Flucht in die Säumnis als auch generell die Präklusion verspäteten Vorbringens nach § 296 Abs. 1 ZPO sind von hoher Examensrelevanz. Hier sind deshalb sicherere Kenntnisse erforderlich. Aus der vorliegenden Entscheidung sollte Folgendes in Erinnerung bleiben:

 - Der absolute Verzögerungsbegriff gilt nicht uneingeschränkt. Seine Anwendung darf nicht zu einer Überbeschleunigung des Verfahrens führen.

 - Eine Überbeschleunigung liegt dann vor, wenn sich der Rechtsstreit aufgrund der Zurückweisung des verspäteten Vorbringens früher erledigt als im Falle rechtzeitigen Vortrags oder wenn es auch bei rechtzeitigem Vortrag zu der Verzögerung gekommen wäre.

 - Nach Auffassung des OLG Celle bietet die Einholung eines Sachverständigengutachtens so viele Unwägbarkeiten, dass sich eine Verzögerung aufgrund des verspäteten Vortrags nicht feststellen lasse.

 

Und der Vollständigkeit halber: Nach einem zulässigen Einspruch beschränkt sich die Entscheidung des Gerichts auf die Frage, ob das Versäumnisurteil aufrechterhalten bleibt oder ob es aufgehoben und die Klage abgewiesen wird (§ 343 ZPO). Der Einspruchsführer muss grundsätzlich die Kosten seiner Säumnis tragen (§ 344 ZPO). Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708, 709 ZPO. Für die Frage, ob die Verurteilung in der Hauptsache 1.250,00 Euro übersteigt (§ 708 Nr. 11 Alt. 1 ZPO), kommt es auf den Wert der Verurteilung des Beklagten an. Soweit § 709 ZPO einschlägig ist, muss nach dessen Satz 3 zusätzlich tenoriert werden, dass die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil nur gegen Leistung der Sicherheit fortgesetzt werden darf.