A. Sachverhalt
Um gegen eine Preiserhöhung der Kölner Verkehrsbetriebe (KVG), die am 24. Oktober 1966 in Kraft treten sollte, zu protestieren, veranstaltete der “Arbeitskreis Kölner Hochschulen” (AKH), eine Vereinigung von Studenten und Schülern, an diesem Tage um 13.30 Uhr einen “Sitzstreik”, durch den der Straßenbahnverkehr an zwei wichtigen Kreuzungspunkten innerhalb Kölns blockiert wurde. Während die eine dieser Demonstrationen um 14.30 Uhr beendet war, dauerte die andere planwidrig an, bis es schließlich zum Einsatz von Wasserwerfern und berittener Polizei kam. An der Vorbereitung und. Durchführung der beiden Demonstrationen im vorgesehenen Rahmen waren der Angeklagte L. als Vorsitzender des AKH und der Angeklagte Lu. als Pressereferent des ASTA beteiligt. Die Anklage wirft dem Angeklagten L. gemeinschaftliche Nötigung, Beihilfe zum schweren Landfriedensbruch und zum schweren Aufruhr sowie einen Verstoß gegen die §§ 26 Abs. 2, 14 VersammlG, dem Angeklagten Lu. Beihilfe zur Nötigung, zum schweren Landfriedensbruch und zum schweren Aufruhr vor.
B. Worum geht es?
Nach § 240 StGB wird bestraft, wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt. Im Mittelpunkt unserer Betrachtung soll die Frage stehen, ob die Angeklagten den Fahrer der Straßenbahn „mit Gewalt“ dazu nötigten, anzuhalten. Der Gewaltbegriff war in den letzten Jahrzehnten Gegenstand intensiver Diskussionen. Einigkeit besteht jedenfalls darin, dass Gewalt in zwei Formen angewendet werden kann: als vis absoluta (dabei wird dem Opfer durch körperliche Einwirkung die Willensbildung oder seine Betätigung unmöglich gemacht) und als vis compulsiva (dabei wird dem Opfer ein bestimmtes Verhalten aufgezwungen). Ob die Angeklagten Gewalt verübten, indem sie an einem „Sitzstreik“ teilnahmen, konnte deswegen fraglich sein, weil sie sich damit grundsätzlich passiv verhielten und die Straßenbahn nicht durch Einsatz körperlicher Kraft zum Anhalten bewegten. Andererseits ist eine psychische Einflussnahme auf den Fahrer, der seine Bahn anhielt, um die „Streikenden“ nicht zu verletzen oder gar zu töten, sicherlich nicht zu verleugnen. Der BGH hatte nun folgende Frage zu beantworten:
„Wendet Gewalt an, wer auf den Gleiskörper einer Schienenbahn tritt und dadurch den Wagenführer zum Anhalten veranlasst?“
C. Wie hat der BGH entschieden?
Der BGH geht im Laepple-Urteil (Urt. v. 08.08.1969 - 2 StR 171/69) davon aus, dass die Angeklagten Gewalt im Sinne von § 240 StGB verübten und hebt daher den Freispruch des Landgerichts auf. Mit Gewalt nötige, wer psychischen Zwang ausübe, indem er auf den Gleiskörper einer Schienenbahn tritt und dadurch den Wagenführer zum Anhalten veranlasst.
Der BGH entfernt sich von dem Erfordernis physisch wirkenden Zwanges beim Opfer. Vielmehr nötige auch derjenige mit Gewalt, der psychischen Zwang ausübe. Es genüge, dass der Täter mit nur geringem Kraftaufwand einen lediglich psychisch determinierten Prozess in Gang setze und dadurch einen unwiderstehlichen Zwang auf das Opfer ausübe:
„Das LG hat gewaltsames Handeln der demonstrierenden Studenten im Sinne des Nötigungstatbestandes zutreffend bejaht. Die Studenten, die sich auf den Gleiskörper der Straßenbahn setzten oder stellten, um damit den Straßenbahnverkehr zu blockieren, nötigten die Führer der Straßenbahn mit Gewalt, ihre Fahrzeuge anzuhalten. Dieser Bewertung steht nicht entgegen, daß die Studenten die Straßenbahn nicht durch unmittelbaren Einsatz körperlicher Kräfte aufhielten, sondern nur mit geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzten. Entscheidend ist hierbei, welches Gewicht der von ihnen ausgeübten psychischen Einwirkung zukam. Ob das Anbinden eines Hundes auf den Geleisen, um ein Beispiel der Verteidigung aufzugreifen, ausreichen würde, weil hier einem Weiterfahren nur psychische Hemmungen weit geringeren Gewichts entgegenwirken, kann dahinstehen. Stellt sich ein Mensch der Bahn auf den Schienen entgegen, so liegt darin die Ausübung eines Zwanges, der für den Fahrer sogar unwiderstehlich ist, denn er muß halten, weil er sonst einen Totschlag beginge. Durch den gleichzeitigen massierten Einsatz vieler Personen auf dem Gleiskörper wird die Zwangswirkung noch gesteigert. Es ist nicht einzusehen, daß die weitere Begehungsform des § 240 StGB, nämlich Nötigung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel, dieser Betrachtung im Wege stünde, weil sie ausschließlich auf psychische Einwirkungen abstellt; das könnte höchstens dazu führen, das geschilderte Verhalten auch unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar zu beurteilen.“
D. Fazit
Das Laepple-Urteil – Geburtsstunde des sog. „vergeistigten Gewaltbegriffs“. Der Gewaltbegriff verlor jede damit Umgrenzung und „zwang“ das BVerfG einige Jahre später zu einer Korrektur. Darauf werden wir zurückkommen.
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