BAG: Wann geht eine Willenserklärung zu?

A. Sachverhalt (leicht vereinfacht)

 

K, der in B (Französische Republik, Département Bas-Rhin) wohnt, ist langjährig bei der B in deren Werk in R (Baden-Württemberg) beschäftigt.

B kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 27. Januar 2017 (Freitag) außerordentlich fristlos. Das Kündigungsschreiben wurde an diesem Tag von Mitarbeitern der B gegen 13:25 Uhr in den Hausbriefkasten des K eingeworfen. Die Postzustellung in B ist bis gegen 11:00 Uhr vormittags beendet.

Mit seiner am 20. Februar 2017 (Montag) beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Er habe das Kündigungsschreiben erst am 30. Januar 2017 (Montag) in seinem Hausbriefkasten vorgefunden. Dieses sei ihm nicht am 27. Januar 2017, sondern frühestens am Folgetag zugegangen.

Ist die Kündigungsschutzklage fristgemäß erhoben worden?

 

B. Die Entscheidung des BAG(Urteil vom 22.08.2019 – 2 AZR 111/19)

K müsste die Klage binnen drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigungserklärung erhoben haben (§ 4 KSchG); sonst würde die Kündigung gemäß §§ 13 I 2, 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam gelten.

Danach wäre die am 20.2. (Montag) erhobene Klage verspätet, wenn die Kündigung dem K am 27.1. (Freitag) zugegangen wäre.

Das BAG stellt zunächst die allgemeinen Grundsätze dar, nach denen eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden i.S.v. § 130 I BGB zugeht:

„Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG 25. April 2018 - 2 AZR 493/17 - Rn. 15, BAGE 162, 317; 26. März 2015 - 2 AZR 483/14 - Rn. 37) und des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH 14. Februar 2019 - IX ZR 181/17 - Rn. 11; 5. Dezember 2007 - XII ZR 148/05 - Rn. 9) geht eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden iSv. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen wie ein Briefkasten.“

Ob die danach erforderliche Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, sei nach den “gewöhnlichen Verhältnissen” und den “Gepflogenheiten des Verkehrs” zu beurteilen:

„So bewirkt der Einwurf in einen Briefkasten den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist. Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten. Wenn für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist es unerheblich, ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war. Ihn trifft die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Unterlässt er dies, wird der Zugang durch solche - allein in seiner Person liegenden - Gründe nicht ausgeschlossen.“

BAG und BGH gehen bislang davon aus, dass bei Hausbriefkästen in der Regel mit einer Leerung unmittelbar nach Abschluss der üblichen Postzustellzeiten zu rechnen sei:

„Bundesarbeitsgericht und Bundesgerichtshof haben bislang die Annahme einer Verkehrsanschauung, wonach bei Hausbriefkästen im Allgemeinen mit einer Leerung unmittelbar nach Abschluss der üblichen Postzustellzeiten zu rechnen sei, die allerdings stark variieren können, nicht beanstandet (vgl. BAG 22. März 2012 - 2 AZR 224/11 - Rn. 21, 35; BGH 21. Januar 2004 - XII ZR 214/00 - zu II 3 der Gründe). Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts stellen die örtlichen Zeiten der Postzustellung nicht unbeachtliche individuelle Verhältnisse des Empfängers dar. Zu diesen könnte zB eine Vereinbarung mit dem Postboten über persönliche Zustellzeiten zählen (vgl. BGH 21. Januar 2004 - XII ZR 214/00 - aaO), konkrete eigene Leerungsgewohnheiten oder auch die krankheits- oder urlaubsbedingte Abwesenheit (vgl. BAG 25. April 2018 - 2 AZR 493/17 - Rn. 15, BAGE 162, 317). Die allgemeinen örtlichen Postzustellungszeiten gehören dagegen nicht zu den individuellen Verhältnissen, sondern sind vielmehr dazu geeignet, die Verkehrsauffassung über die übliche Leerung des Hausbriefkastens zu beeinflussen. Der Senat hat bereits in der Entscheidung vom 22. März 2012 (- 2 AZR 224/11 - Rn. 21) auf die (örtlich) stark variierenden Postzustellungszeiten, die für die Bestimmung der Verkehrsanschauung herangezogen werden können, hingewiesen.“

Danach wäre die Kündigung dem K erst am 28. Januar 2017 zugegangen, weil der Einwurf um 13:25 Uhr erfolgte und damit nach Ende der Postzustellung (11 Uhr). Die Vorinstanz ist demgegenüber davon ausgegangen, dass dem K die Erklärung bereits am 27. Januar 2017 zugegangen sei und stellt dafür auf eine gewandelte Verkehrsauffassung ab:

„Das Kündigungsschreiben sei dem Kläger bereits am 27. Januar 2017 zugegangen. Es könne nach den gewöhnlichen Verhältnissen und den Gepflogenheiten des Verkehrs mit einer Kenntnisnahme von Schriftstücken, die in den Hausbriefkasten eines Arbeitnehmers eingeworfen würden, bis 17:00 Uhr gerechnet werden. Auf den Zeitpunkt der Beendigung der örtlichen Postzustellung komme es nicht an. Denn zum einen lasse sich ein solcher Zeitpunkt heute nicht mehr einheitlich feststellen. Zum anderen beruhe ein solches Verständnis auf der Annahme, dass der Empfänger zeitnah nach der Postzustellung in seinem Hausbriefkasten nachsehe, ob er Post erhalten habe. Diese Annahme entspreche nicht mehr der Wirklichkeit, da berufstätige Menschen ihren Hausbriefkasten regelmäßig erst nach Rückkehr von der Arbeit leerten.“

Dem tritt das BAG entgegen. Insbesondere könne insoweit nicht nur auf berufstätige Menschen abgestellt werden:

„Die vom Berufungsgericht in Bezug genommenen “Normalarbeitszeiten während der Tagesstunden” eines “erheblichen Teils der Bevölkerung” lassen für sich allein keinen Rückschluss auf eine Verkehrsanschauung betreffend die Gepflogenheiten des Verkehrs hinsichtlich der Leerung eines Hausbriefkastens am Wohnort des Klägers zu. Vielmehr blenden diese Erwägungen wesentliche Umstände aus.

(a) Schon nach den Zahlen, von denen das Landesarbeitsgericht ausgeht, ist nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung überhaupt kernerwerbstätig, darunter 6,8 Millionen Personen als geringfügig Beschäftigte oder in Teilzeit mit weniger als 20 Stunden Wochenarbeitszeit. Daneben hat das Berufungsgericht noch 5 % Nachtarbeitnehmer berücksichtigt, die nicht zu Normalarbeitszeiten arbeiteten. Auf flexible Arbeitszeitmodelle oder im Homeoffice Tätige geht das Landesarbeitsgericht nicht ein. Es begründet ferner nicht, warum die Lebensumstände der in einem “Normalarbeitszeitverhältnis” tätigen Minderheit der Bevölkerung die Verkehrsauffassung betreffend die Leerung von Hausbriefkästen der Gesamtbevölkerung bestimmen sollen.“

Eine Festlegung des Zeitpunkts der Leerung auf 17 Uhr sei willkürlich:

„Soweit das Landesarbeitsgericht den Zeitpunkt der Leerung des Hausbriefkastens nach der Verkehrsanschauung auf 17:00 Uhr festlegt, handelt es sich schließlich um einen willkürlich gesetzten, nicht näher begründeten Zeitpunkt. Das Berufungsgericht meint, dieser Zeitpunkt sei “angemessen”. Sollte es damit im weitesten Sinn auf Verhältnismäßigkeitserwägungen abstellen, wären diese ungeeignet, eine Verkehrsanschauung zu begründen. Gleiches gilt für die vom Landesarbeitsgericht angesprochenen Aspekte der “Rechtssicherheit” und der “Begrenzung der Belastungen des Erklärungsempfängers”, die in § 130 Abs. 1 BGB nicht angesprochen werden.“

Die im Schrifttum teilweise vertretene Ansicht, die Vorstellung sei überholt, dass eine Hausbriefkastenleerung nur vormittags erwartet werden könne, da die Deutsche Post AG sowie andere Anbieter von Postdienstleistungen auch am Nachmittag zustellten, stehe nicht im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des BAG:

“Es bedürfte ggf. einer geeigneten Tatsachenfeststellung, wann die Postzustellung auch unter Berücksichtigung anderer Anbieter (üblicherweise) abgeschlossen ist. Dabei werden etwaig seltene späte Zustellungen durch private Anbieter idR nicht die Verkehrsanschauung über die regelmäßige Leerung des Hausbriefkastens prägen. … Unzutreffend ist auch der Ansatz, dem Erklärenden müsse ein fristwahrender Zugang bis 24:00 Uhr möglich sein, da sonst eine unzulässige Verkürzung des Fristendes gemäß § 188 BGB vorliege (so aber Staudinger/Singer/Benedict [2017] § 130 Rn. 76). § 188 BGB besagt nur etwas über das Fristende, nicht aber, wann vom Zugang einer Willenserklärung unter Abwesenden auszugehen ist. Auch bei der beabsichtigten Abgabe einer Willenserklärung unter Anwesenden gelingt es nicht stets, eine Frist voll auszuschöpfen.“

Da das Landesarbeitsgericht bezüglich der Verkehrsauffassung keine hinreichenden Feststellungen getroffen hatte, verweist das BAG die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurück. Das BAG gibt dem Landesarbeitsgericht noch folgende “Segelanweisung” mit auf den Weg:

“Das Landesarbeitsgericht wird Tatsachenfeststellungen zu einer (ggf. gewandelten) Verkehrsanschauung betreffend den Zeitpunkt der Leerung von Hausbriefkästen in dem von ihm als maßgeblich angesehenen räumlichen Gebiet (Französische Republik, Département Bas-Rhin oder Wohnort des Klägers) zu treffen haben, wonach eine solche noch bis 13:25 Uhr zu erwarten ist. Hierzu bedarf es allerdings eines substanziierten Tatsachenvortrags der Beklagten, die für den ihr günstigen Umstand eines Zugangs des Kündigungsschreibens noch am 27. Januar 2017 die Darlegungs- und Beweislast trägt (vgl. BGH 18. Januar 1978 - IV ZR 204/75 - zu I 3 der Gründe, BGHZ 70, 232 ; Palandt/Ellenberger 78. Aufl. § 130 Rn. 21; Erman/Arnold BGB 15. Aufl. § 130 Rn. 34).”

C. Fazit

Der Frage der Wirksamkeit von (empfangsbedürftigen) Willenserklärungen und in dem Zusammenhang die Frage, wann sie zugehen (vgl. § 130 I BGB), gehört zum Pflichtstoff des allgemeinen Teils des BGB und ist zentraler Bestandteil zivilrechtlicher Prüfungen. Der Fall ist also ein guter Grund, sich mit den Grundfragen rund um die Willenserklärung zu beschäftigen!