A. Sachverhalt
Die Beklagte veröffentlichte am 29. Juni 1952 in ihrer Wochenzeitung “W…” einen Artikel mit der Überschrift: “Dr. Hjalmar S… & Co.” und dem Untertitel “Politische Betrachtung anlässlich der Gründung des neuen Bankhauses” von Klaus B…. Der Artikel enthielt eine Stellungnahme zu der von Dr. S… in H… gegründeten neuen Außenhandelsbank und setzte sich in diesem Zusammenhang mit dem politischen Wirken Dr. S… während des nationalsozialistischen Regimes und in den Jahren nach dem Krieg auseinander.
Im Auftrage von Dr. S… übersandte der Kläger, Rechtsanwalt M…, der Beklagten ein Schreiben vom 4. Juli 1952, in dem es auszugsweise heißt:
“Ich vertrete die Interessen des ehemaligen Reichsbankpräsidenten Dr. Hjalmar S…. Gemäß § 11 des Pressegesetzes verlange ich hiermit in Ihrer am Sonntag, den 6. cr. erscheinenden Ausgabe zu obengenanntem Artikel die Aufnahme folgender Berichtigung:
1. Es ist unrichtig, dass … 2. – 4. …
Der vorstehende Berichtigungsanspruch stützt sich in rechtlicher Hinsicht auf das Pressegesetz in Verbindung mit dem BGB, ferner auf das Urheberrecht.
Ich bitte Sie, mir Ihre Bestätigung über die uneingeschränkte Durchführung der verlangten Berichtigung bis morgen mittag, Sonnabend, den 5. Juli 1952, 12 Uhr, telefonisch oder schriftlich bekanntzugeben, bei Vermeidung sofort einzuleitender gerichtlicher Maßnahmen.
Hochachtungsvoll
gez. Dr. R. G. M….”
Die Beklagte gab dem Kläger keine Antwort. Sie veröffentlichte in der “W…” vom 6. Juli 1952 unter der Rubrik “Leserbriefe” in Zusammenstellung mit unterschiedlichen Meinungsäußerungen von Lesern zu dem Artikel von Klaus B… folgendes:
“Dr. Hjalmar S… & Co.
An die W….
Ich vertrete die Interessen des ehemaligen Reichsbankpräsidenten Dr. Hjalmar S….
1. Es ist unrichtig ..... 2. – 4. …
Dr. R. G. M….,
H…”
In den Ausführungen unter 1) fehlte die Wiedergabe von Auszügen aus dem Dr. S… betreffenden Nürnberger Urteil, die der Kläger in seinem Schreiben vom 4. Juli 1952 gebracht hatte. Im Übrigen waren die Ausführungen unter Ziffer 1 bis 4 nicht verändert.
Der Kläger erblickt in dieser Art der Veröffentlichung seiner Aufforderung eine Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte. Der Abdruck des durch die Streichung und die Wahl der Überschrift in seinem Inhalt verfälschten anwaltlichen Aufforderungsschreibens unter “Leserbriefe” stelle eine vorsätzliche Irreführung des Publikums dar. Es werde dadurch der unrichtige Eindruck erweckt, es handle sich um eine bloße Meinungsäußerung eines Lesers zu dem vorangegangenen Artikel über Dr. S…, wie dies bei den unter der gleichen Rubrik abgedruckten Leserzuschriften der Fall sei. Dem Kläger habe aber eine politische Stellungnahme völlig ferngelegen und er sei nur im Rahmen seines anwaltlichen Auftrags tätig geworden. Schon aus standesrechtlichen Erwägungen könne das Verhalten der Beklagten nicht geduldet werden. Ein Anwalt müsse sich darauf verlassen können, dass ein im Namen seines Mandanten gestelltes Berichtigungsverlangen nicht in irreführender Weise der Öffentlichkeit unterbreitet werde.
Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, in ihrer nächsten Ausgabe unter “Leserbriefe” ihre Behauptung vom 6. Juli 1952 zu widerrufen, dass der Kläger einen Leserbrief in Sachen “Dr. Hjalmar S… & Co.” an die Beklagte gesandt habe.
B. Worum geht es?
Bei den Arbeiten zum BGB wurde die Aufnahme der Ehre in den Tatbestand des § 823 I BGB zwar diskutiert, im Ergebnis aber - wie wir wissen - verworfen. Konsequenterweise hat es das Reichsgericht in seiner Rechtsprechung daher abgelehnt, die Ehre bzw. die Persönlichkeit des Einzelnen als “sonstiges Recht” im Sinne von § 823 I BGB einzuordnen. Der Schutz der Persönlichkeit war daher nur fragmentarisch geschützt (etwa durch § 823 II BGB i.V.m. §§ 185 ff. StGB). Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes steht indes die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 I GG an der Spitze der Verfassung. Der BGH hatte daher nun folgende Frage zu beantworten:
„Ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ‘sonstiges Recht’ im Sinne von § 823 I BGB zu qualifizieren?“
C. Wie hat der BGH entschieden?
Der BGH hält im Schacht-Brief-Fall (Urt. v. 25. 5. 1954 – I ZR 211/53 (BGHZ 13, 334 ff.)) die Klage für begründet. Briefe oder sonstige private Aufzeichnungen dürfen in der Regel nicht ohne Zustimmung des noch lebenden Verfassers und nur in der vom Verfasser gebilligten Weise veröffentlicht werden. Das folge aus dem in Art. 1 und 2 des Grundgesetzes verankerten Schutz der Persönlichkeit und gelte daher auch dann, wenn die Aufzeichnungen nicht die individuelle Formprägung aufweisen, die für einen Urheberrechtsschutz erforderlich ist.
Zunächst führt der BGH aus, dass dahingestellt bleiben könne, ob das Schreiben des Klägers vom 4. Juli 1952 als Schriftwerk im Sinne des Urheberrechts anzusehen sei, damit unter Urheberrechtsschutz falle und die Klage aus dem Urheberrecht begründet sei. Vielmehr verweist der BGH darauf, dass die Literatur sich – unabhängig von einem Urheberrecht – für den Schutz eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts einsetze:
„Das Reichsgericht hat zwar in ständiger Rechtsprechung den Veröffentlichungsschutz für Briefe davon abhängig gemacht, ob diese die für den Urheberschutz erforderliche individuelle Formprägung aufweisen. (RGZ 41, 48; 69, 401). Demgegenüber ist mit Recht vom Schrifttum darauf hingewiesen worden, daß ein Bedürfnis nach der Anerkennung eines Persönlichkeitsschutzes hinsichtlich der Verwertung eigener Aufzeichnungen in gleicher Weise auch dann besteht, wenn dieser Schutz nicht aus dem Urheberpersönlichkeitsrecht abgeleitet werden kann, weil es an einer auf individueller geistiger Tätigkeit beruhenden Formgestaltung der fraglichen Aufzeichnungen fehlt (vgl Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht § 83 IV; Neumann-Duesberg “Das gesprochene Wort im Urheber- und Persönlichkeitsrecht” 1949 S 158 ff; Georg Müller, Ufita 1929, 367 [383 ff]). Das Reichsgericht glaubte, einen solchen von dem Urheberrecht unabhängigen Persönlichkeitsschutz für Briefveröffentlichungen deshalb versagen zu müssen, weil die damals geltende deutsche Rechtsordnung keine positiven Gesetzesbestimmungen über ein allgemeines Persönlichkeitsrecht enthielt (RGZ 79, 398; 82, 334; 94, 1; 102, 134; 107, 281; 113, 414; 123, 320). Das Reichsgericht hat zwar in zahlreichen Entscheidungen über § 826 BGB Persönlichkeitsrechten Schutz zugebilligt (RGZ 72, 175; 85, 343; 115, 416; 162, 7), aber grundsätzlich Persönlichkeitsrechte mit der absoluten Wirkung der Ausschließlichkeitsbefugnis nur für bestimmte einzelne Persönlichkeitsgüter anerkannt. Im Schrifttum haben sich schon Gierke und Kohler für die Anerkennung eines umfassenden Persönlichkeitsrechts eingesetzt (Otto v. Gierke, Deutsches Privatrecht Band 1, 707, Band 3, 887; Kohler, “Das Recht an Briefen” Archiv für bürgerliches Recht Band 7, 94 ff, 101; für das schweizerische Recht vgl Art 28, Schweizer Zivilgesetzbuch).“
Dem schließt sich der BGH an, weil das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch das Grundgesetz (Art. 1 I und 2 I GG) als ein von jedermann zu achtendes Recht anerkannt werde:
„Nachdem nunmehr das Grundgesetz das Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde (Art 1 GrundG) und das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit auch als privates, von jedermann zu achtendes Recht anerkennt, soweit dieses Recht nicht die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt (Art 2 GrundG), muß das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht angesehen werden (vgl Lehmann-Nipperdey, Allgemeiner Teil 14. Aufl § 78 I 2; Enneccerus-Lehmann, Schuldrecht 14. Aufl § 233 2c; Coing SJZ 1947, 642).“
Durch die von der Beklagten gewählte Art der Veröffentlichung des Berichtigungsschreibens unter Weglassung wesentlicher Teile dieses Schreibens seien persönlichkeitsrechtliche Interessen des Klägers verletzt worden. Denn grundsätzlich stehe allein dem Verfasser die Befugnis zu, darüber zu entscheiden, ob und in welcher Form seine Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden:
„Jede sprachliche Festlegung eines bestimmten Gedankeninhalts ist, und zwar auch dann, wenn der Festlegungsform eine Urheberschutzfähigkeit nicht zugebilligt werden kann, Ausfluß der Persönlichkeit des Verfassers. Daraus folgt, daß grundsätzlich dem Verfasser allein die Befugnis zusteht, darüber zu entscheiden, ob und in welcher Form seine Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden: denn jeder unter Namensnennung erfolgenden Veröffentlichung von Aufzeichnungen eines noch lebenden Menschen wird von der Allgemeinheit mit Recht eine entsprechende Willensrichtung des Verfassers entnommen. Die Fassung der Aufzeichnungen und die Art ihrer Bekanntgabe unterliegt der Kritik und Wertung der öffentlichen Meinung, die aus diesen Umständen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Verfassers zieht. Während eine ungenehmigte Veröffentlichung privater Aufzeichnungen - in der Regel - einen unzulässigen Eingriff in die jedem Menschen geschützte Geheimsphäre darstellt, verletzt eine veränderte Wiedergabe der Aufzeichnugen die persönlichkeitsrechtliche Eigensphäre des Verfassers deshalb, weil solche vom Verfasser nicht gebilligten Änderungen ein falsches Persönlichkeitsbild vermitteln können. Unzulässig sind im allgemeinen nicht nur vom Verfasser nicht genehmigte Streichungen wesentlicher Teile seiner Aufzeichnungen, sondern auch Zusätze, durch die seine nur für bestimmte Zwecke zur Veröffentlichung freigegegebenen Aufzeichnungen eine andere Färbung oder Tendenz erhalten, als er sie durch die von ihm gewählte Fassung und die Art der von ihm erlaubten Veröffentlichung zum Ausdruck gebracht hat.“
Im vorliegenden Fall habe der Kläger
„eindeutig nur eine Berichtigungsaufforderung, und zwar in seiner Eigenschaft als Anwalt des Dr. S., an die Beklagte gerichtet. Damit wurde die Beklagte von dem Kläger nur ermächtigt, entweder das Schreiben in unverkürzter Gestalt oder unter Beschränkung auf die von ihm verlangte Tatsachenberichtigung unter Klarstellung, daß es sich um ein Berichtigungsverlangen handele, zu veröffentlichen. Da der Kläger im vorliegenden Rechtsstreit nicht die Durchsetzung seines ursprünglichen Berichtigungsbegehrens anstrebt, ist es für die Entscheidung bedeutungslos, ob sein Schreiben vom 4. Juli 1952 den Voraussetzungen des § 11 PresseG entsprochen hat. Wäre dies mit dem Berufungsgericht zu verneinen, so würde hieraus nur ein Recht der Beklagten folgen, von einer Veröffentlichung dieses Schreibens überhaupt abzusehen. Nicht aber war die Beklagte berechtigt, das Schreiben unter der Rubrik “Leserbriefe” bekanntzugeben, und zwar unter Streichung derjenigen Sätze, aus denen klar ersichtlich war, daß der Kläger nicht etwa seiner persönlichen Meinung zugunsten des Dr. S. Ausdruck verleihen, sondern ein presserechtliches Berichtigungsverlangen durchsetzen wollte.“
Diese Art der Veröffentlichung erwecke bei dem unbefangenen Leser den Eindruck,
„das in Form eines Leserbriefes veröffentlichte Schreiben des Klägers gebe dessen persönliche Stellungnahme zu dem um Dr. S. entbrannten Meinungsstreit wieder. Diese Irreführung wurde auch nicht durch die wörtliche Wiedergabe des einleitenden Satzes des Klägers ausgeräumt; denn dieser Satz besagte in seiner allgemein gehaltenen Fassung für den Leser nur, daß es sich bei dem Einsender um den Anwalt des Dr. S. handle. Dieser Satz stellte aber nicht hinreichend klar, daß auch der Inhalt des fraglichen Schreibens auf einen anwaltlichen Auftrag zurückging und dieses Schreiben von dem Kläger nicht als Privatmann, sondern in Ausübung seines Berufes verfaßt worden war.“
D. Fazit
Der Schacht-Brief-Fall ist ein echter Meilenstein und von großer Bedeutung, weil der BGH in diesem Urteil der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Menschenwürde (Art. 1 I GG) auch im Zivilrecht Geltung verschafft hat.
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