A. Sachverhalt
Der 15 Jahre und drei Monate alte A wohnte bei seiner Mutter, die das alleinige Sorgerecht innehat. Er identifizierte sich zunehmend mit der Figur des gewalttätigen Psychopathen “Joker”, einer Comic-Figur aus den “Batman”-Geschichten, die aus purer Freude tötet. Spätestens am 1. März 2018 beschloss er, seine 14 Jahre alte Mitschülerin K zu töten. Er fand den Gedanken an die Tötung eines Menschen schon seit einiger Zeit “spannend” und fragte sich, wie es sich “anfühle”, einen Menschen zu töten. Außerdem wollte er herausfinden, ob er die eigenhändige Tötung eines Menschen ertragen könne. Sein Opfer suchte er aus, weil er wusste, dass K in ihn verliebt war und deshalb keinen Argwohn hegte.
Am Nachmittag des Tattages nahm A einen zuvor gepackten Rucksack mit Wechselkleidung, einem Küchenmesser mit 11 cm langer Klinge, Handschuhen und Plastiküberziehern für Kopfhaare sowie Schuhe und ging zu K. Die Tötung hatte er zuvor seiner besten Freundin gegenüber angekündigt und mit ihr eine “Alibi-Absprache” getroffen. Die Freundin ging darauf ein, weil sie die Ankündigung nicht ernstnahm. In Ks Wohnung versetzte A seinem Opfer mindestens 23 Messerstiche und brachte ihr darunter drei tödliche Stichverletzungen bei. Anschließend umwickelte er mit einem Schal fest ihren Kopf. Unter Mitnahme von Ks Mobiltelefon verließ er die Wohnung. Kurz darauf schilderte er die Tat seiner besten Freundin gegenüber, am Folgetag auch einer weiteren engen Freundin. Das Tatmesser brachte er zurück in die Küche und stellte den Rucksack mit den übrigen Tatutensilien in sein Zimmer.
Wenige Tage nach der Tat war A in Verdacht geraten. Mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss suchten Polizeibeamte die Wohnung des A am Sonntagmorgen auf, wo sie ihn und seine Mutter antrafen. Der Mutter wurde in der Küche der Tatverdacht gegen ihren Sohn erklärt, sie wurde über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt. Schockiert rannte sie sogleich ins Zimmer ihres Sohnes und konfrontierte ihn in Anwesenheit eines Polizeibeamten mit dem Tatvorwurf. Sie fragte ihn, ob er die Tat begangen habe, woraufhin er schwieg. Sie rief ihm zu: “Wenn du das warst, will ich, dass du das sagst. Das hat Ks Mama verdient!” A erwiderte nichts. Nachdem seine Mutter das Zimmer verlassen hatte signalisierte er jedoch, dass er Angaben machen wolle, dies aber nicht in Gegenwart seiner Mutter. Anschließend wurden Mutter und Sohn in getrennten Fahrzeugen zur Mordkommission gefahren. Während der Fahrt äußerte sie den Wunsch, bei der Vernehmung anwesend zu sein. Im Kommissariat ging sie in das Vernehmungszimmer, wo ihr Sohn in Gegenwart mehrerer Beamter saß. Sie fragte ihn, ob er die Vernehmung tatsächlich allein machen wolle, was er mit der Bemerkung bejahte, es sei ihm “zu peinlich”. Daraufhin verließ sie den Raum.
Die anschließende Vernehmung des A begann mit einer Belehrung, in der es u.a. hieß: “Ich habe dich bereits in der Wohnung darüber belehrt, dass du nichts sagen musst, aber das Recht hast, dich zu äußern. Du darfst jederzeit einen Rechtsanwalt zu Vernehmungen hinzuziehen oder zumindest kontaktieren. Deine Mutter ist auch hier. Du sagtest mir, dass du nicht möchtest, dass deine Mutter bei der Vernehmung dabei ist. Das kannst du dir jederzeit anders überlegen. Deine Mutter weiß Bescheid und ist damit einverstanden, vorerst draußen zu warten.” Anschließend äußerte sich der A zur Tat und zu seinem Motiv. In der Hauptverhandlung hat der Verteidiger des A der Verwertung widersprochen.
Die Strafkammer verurteilt den A wegen des Mordes. Der Angeklagte richtet sich mit der Revision gegen die Verurteilung und macht geltend, dass weder er noch seine Mutter hinreichend über ein sogenanntes Elternkonsultationsrecht belehrt worden seien und keine Gelegenheit gehabt hätten, sich unter vier Augen zu besprechen.
Ist die Revision begründet?
B. Die Entscheidung des BGH (Beschl. v. 13.8.2019 – 5 StR 257/19)
Die Revision ist begründet, soweit das Urteil auf einer Verletzung des Rechts beruht (§ 337 StPO), wobei das Urteil bei einem Rechtsfehler im Sinne von § 338 StPO stets als auf der Gesetzesverletzung beruhend anzusehen ist (sogenannter absoluter Revisionsgrund).
In Betracht kommt hier ein Verstoß gegen ein Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf die Verwertung des Geständnisses des A, obwohl weder er noch seine Mutter hinreichend über ein sogenanntes Elternkonsultationsrecht belehrt worden sind und auch keine Gelegenheit hatten, sich unter vier Augen zu besprechen.
I. Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften
Es könnte ein Verstoß gegen § 67 JGG vorliegen, die die Stellung des Erziehungsberechtigten und des gesetzlichen Vertreters im Ermittlungsverfahren gegen Jugendliche regelt. Die Norm sieht – in Umsetzung von Art. 6 II GG – verschiedene Rechte der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter jugendlicher Beschuldigter vor. Nicht ausdrücklich in § 67 JGG geregelt sind aber ein sogenanntes Elternkonsultationsrecht und eine entsprechende Belehrungspflicht. Ob sich dies aus dem Sinn und Zweck des § 67 JGG herleiten lässt, ist umstritten. In Literatur und instanzgerichtlicher Rechtsprechung wird sie überwiegend bejaht. So hat das LG Köln in einer (zivilgerichtlichen) Entscheidung im Jahr 2016 ausgeführt:
„Dabei war bei dem minderjährigen Bekl. zusätzlich eine Belehrung erforderlich, dass er berechtigt ist, vor einer Aussage zur Sache seine Eltern zu kontaktieren, § 67 JGG. Diese gesetzliche Regelung beruht auf der kriminologisch gesicherten Erkenntnis, dass jugendliche Besch. gegenüber Erwachsenen eine deutlich höhere „Geständnisfreudigkeit“ aufweisen, also in geringerem Umfang in der Lage sind, auch bei ansonsten korrekter Belehrung über das Schweigerecht von ihrer Aussagefreiheit dahingehend Gebrauch zu machen, auf Angaben zur Sache möglicherweise zu verzichten. Das Recht auf Konsultation der Erziehungsberechtigten bzw. gesetzlichen Vertreter, welches in § 67 I und II JGG seinen Niederschlag findet, trägt zumindest auch und insbesondere diesem Umstand Rechnung und steht deshalb in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entschließungsfreiheit des jugendlichen Besch. in Bezug auf seine Rechte gem. §§ 136, 163a StPO (LG Saarbrücken, NStZ 2012, 167).“
Der BGH lässt die Frage indes offen. “Jedenfalls” liege ein Verstoß gegen ein (angenommenes) Elternkonsultationsrecht nicht vor:
“Es kann dahinstehen, ob sich aus § 67 JGG ein “Elternkonsultationsrecht” und eine dahingehende Belehrungspflicht herleiten lässt (so OLG Celle, StraFo 2010, 114; Ludwig, NStZ 2019, 123, 125 mwN; offengelassen ebenso von BGH, Urteil vom 18. Juni 2019 - 5 StR 2/19 ). Denn jedenfalls wäre eine zu einem Beweisverwertungsverbot führende Rechtsverletzung nicht ersichtlich. Die Mutter des Angeklagten konnte mit ihm vor der Vernehmung sprechen und ihr Anliegen - er solle gestehen, wenn er die Tat begangen habe - deutlich formulieren. Dass sie nicht an der Vernehmung des Angeklagten teilnehmen sollte, entsprach seinem ausdrücklichen Wunsch. Dem Angeklagten war - auch aufgrund der Belehrung und der Anwesenheit seiner Mutter im Nebenraum - klar, dass er auf ihrer Anwesenheit hätte bestehen können; die Mutter des Angeklagten war zudem damit einverstanden, vorerst draußen zu warten. Auch nach der Vernehmung hatte sie erneut Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.”
Letztlich käme es darauf ohnehin nicht an, wenn sich aus einer (hier: unterstellten) Verletzung des (hier: angenommenen) Elternkonsultationsrechts kein Beweisverwertungsverbot ergeben würde.
II. Abwägung der widerstreitenden Interessen
Nach der Rechtsprechung des BGH folgt grundsätzlich nicht aus jedem Verstoß gegen eine Beweiserhebungsvorschrift ein Verbot, die daraus gewonnen Beweise im Strafverfahren zu verwerten. Dem Strafverfahrensrecht sei ein allgemein geltender Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich ziehe, fremd. Vielmehr sei in jedem Einzelfall eine Abwägung der widerstreitenden Interessen (Strafverfolgungsinteresse des Staates vs. Rechte des Beschuldigten) vorzunehmen (sogenannte Abwägungslehre).
Nach einzelnen instanzgerichtlichen Entscheidungen findet die Belehrungspflicht ihre Rechtfertigung auch in Art. 6 I und II GG. Die Verfahrensvorschrift des § 67 JGG stehe in einem unmittelbaren Zusammenhang mit § 136 StPO. Daher müsse eine Verletzung von § 67 JGG ebenso wie eine Verletzung von § 136 StPO immer (ohne Abwägung im Einzelfall) zu einem Beweisverwertungsverbot führen (sog. absolutes Beweisverwertungsverbot):
„Das Recht auf Konsultation der Erziehungsberechtigten bzw. gesetzlichen Vertreter, welches in § 67 I und II JGG seinen Niederschlag findet, trägt zumindest auch und insbesondere diesem Umstand Rechnung und steht deshalb in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entschließungsfreiheit des jugendlichen Beschuldigten in Bezug auf seine Rechte gem. §§ 136, 163a StPO. Ein Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 67 II JGG ist für das Jugendstrafverfahren aus Sicht der Kammer deshalb von gleichem Gewicht wie etwa die unter Verstoß gegen § 136 I 2 StPO unterlassene Belehrung über das Recht auf Verteidigerkonsultation. Konsequenterweise muss deshalb ein Verstoß – wie in jenem Falle (vgl. Meyer-Goßner 52. Aufl., § 136 Rn 21) – zumindest bei entsprechendem Widerspruch des Angekl. in der Hauptverhandlung ein Verwertungsverbot zur Folge haben (vgl. Eisenberg aaO, Rn 22a).“ (LG Saarbrücken NStZ 2012, 167)
Dem tritt der BGH – ohne dies eingehend zu begründen – entgegen und sieht in einem (unterstellten) Verstoß gegen das Elternkonsultationsrecht nur ein relatives Beweisverwertungsverbot:
„In Frage käme ohnehin nur ein relatives Beweisverwertungsverbot, bei dem es einer Abwägung der widerstreitenden Interessen nach den Umständen des Einzelfalls bedarf (ausführlich dazu Ludwig, aaO, S. 125 f. mwN; aA OLG Celle, StraFo 2010, 114; LG Saarbrücken NStZ 2012, 167).“
Dabei würde in diesem Fall eine Abwägung - selbst bei einem unterstellten Verstoß - nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führen:
“Dabei ist vorliegend zu bedenken, dass sich der Angeklagte mit seiner Mutter vor der Vernehmung kurz besprechen konnte, sie ihren Rat, was aus ihrer Sicht zu tun sei, eindeutig formuliert hat und ihre spätere Abwesenheit bei der Vernehmung dem ausdrücklichen Wunsch des Angeklagten entsprach, der zudem darüber belehrt war, sich jederzeit anders entscheiden zu können. Damit wurde im Kern das elterliche Erziehungsrecht gewahrt und dem Schutzbedürfnis des jugendlichen Angeklagten Rechnung getragen. Dass die Mutter den Angeklagten bei einer vertraulichen Unterredung zu einem anderen Verhalten bei seiner Vernehmung geraten hätte, als sie dies in Anwesenheit der Polizeibeamten getan hat, schließt der Senat zudem aus. Einem demnach allenfalls wenig gewichtigen Verfahrensverstoß stünde die Schwere des Tatvorwurfs als Abwägungskriterium entgegen, was insgesamt für die Verwertbarkeit der Angaben spricht.”
III. Ergebnis
Die Revision ist unbegründet.
C. Fazit
Beweisverwertungsverbote im Strafrecht sind im ersten Examen beliebte Themen für Zusatzfragen in Examensklausuren und für mündliche Prüfungsgespräche. Die enorme Bedeutung von Beweisverwertungsverboten im Assessorexamen (in allen strafrechtlichen Klausurtypen) muss nicht besonders betont werden. Merken sollte man sich die Diskussion um die Reichweite von § 67 JGG und die Abwägungslehre.
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