A. Sachverhalt
Im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Centros Ltd (nachstehend: Centros), einer am 18. Mai 1992 in England und Wales eingetragenen private limited company, und der dem dänischen Handelsministerium unterstehenden Erhvervs- og Selskabsstyrelse (Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften) geht es um deren Weigerungen, eine Zweigniederlassung von Centros in Dänemark einzutragen.
Die Centros hat seit ihrer Errichtung keine Geschäftstätigkeit entfaltet. Da das Recht des Vereinigten Königreichs bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals nicht vorschreibt, wurde das Gesellschaftskapital der Centros weder in die Gesellschaft einbezahlt noch zu deren Verwendung individualisiert. Das Kapital zerfällt in zwei Anteile, deren Eigentümer die Eheleute Bryde, in Dänemark ansässige dänische Staatsangehörige, sind. Frau Bryde ist Direktorin der Centros, deren Sitz sich im Vereinigten Königreich, an der Adresse eines Freundes von Herrn Bryde, befindet.
Nach dänischem Recht ist die Centros als private limited company als eine ausländische Gesellschaft mit beschränkter Haftung anzusehen. Die Vorschriften über die Anmeldung von Zweigniederlassungen solcher Gesellschaften finden sich im Anpartsselskabslov (Gesetz über die Gesellschaften mit beschränkter Haftung; GmbH-Gesetz). Dort ist u. a. vorgesehen, dass die Gesellschaften mit beschränkter Haftung und die ausländischen Gesellschaften gleicher Rechtsform, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften niedergelassen sind, in Dänemark über eine Zweigniederlassung tätig werden können.
Im Sommer 1992 beantragte Frau Bryde bei der Zentralverwaltung die Eintragung einer Zweigniederlassung von Centros in Dänemark.
Die Zentralverwaltung lehnte die Eintragung u. a. mit der Begründung ab, die Centros, die seit ihrer Errichtung keine Geschäftstätigkeit im Vereinigten Königreich entfaltet habe, beabsichtige unter Umgehung der nationalen Vorschriften insbesondere über die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals von 200.000 DKR gemäß dem Gesetz Nr. 886 vom 21. Dezember 1991 in Wirklichkeit, in Dänemark nicht eine Zweigniederlassung, sondern einen Hauptsitz zu errichten.
Die Centros erhob gegen den ablehnenden Bescheid Klage beim Østre Landsret.
Der Østre Landsret folgte in einem Urteil vom 8. September 1995 dem Vorbringen der Zentralverwaltung. Die Centros legte ein Rechtsmittel beim Højesteret ein. Im Rahmen dieses Verfahrens macht die Centros geltend, sie erfülle die Voraussetzungen, von deren Erfüllung das GmbH-Gesetz die Eintragung der Zweigniederlassung einer ausländischen Gesellschaft abhängig mache. Da sie im Vereinigten Königreich rechtmäßig errichtet worden sei, habe sie nach Artikel 52 in Verbindung mit Artikel 58 EG-Vertrag [a.F., Art. 49, 54 AEUV] das Recht, eine Zweigniederlassung in Dänemark zu eröffnen.
B. Worum geht es?
Eine englische Gesellschaft möchte in Dänemark eine Zweigniederlassung eröffnen und beantragt insoweit die Eintragung der Niederlassung in Dänemark. Dort wird die Eintragung verweigert. Während der EuGH bei Wegzugskonstellationen in der Regel eine Betroffenheit der Niederlassungsfreiheit verneint (siehe den uns bekannten Fall “National Grid”), hatte er nun die Frage zu klären, wie sich die Art. 49, 54 AEUV auf den Zuzugsstaat (hier: Dänemark) auswirken:
„Verstößt ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine Gesellschaftstätigkeit entfaltet, gegen die Niederlassungsfreiheit?“
C. Wie hat der EuGH entschieden?
Der EuGH sieht in der Rechtssache Centros (Urt. v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97) in dem Vorgehen Dänemarks eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit: Verweigert ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, so werden die nach dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften an der Wahrnehmung ihres Niederlassungsrechts aus den Artikeln 49, 54 AEUV gehindert. Ein solches Vorgehen beschränkt also die Ausübung der in diesen Bestimmungen gewährleisteten Freiheiten.
Die dänische Regierung hatte geltend gemacht, dass die Niederlassungsfreiheit nicht anwendbar sei, da es sich um eine rein interne dänische Situation handele. Die Eheleute Bryde, die dänische Staatsangehörige seien, hätten nämlich im Vereinigten Königreich eine Gesellschaft errichtet, ohne dort irgendeine tatsächliche Geschäftstätigkeit zu entfalten, mit dem einzigen Ziel, mittels einer Zweigniederlassung in Dänemark eine Geschäftstätigkeit auszuüben und so die Anwendung des dänischen Rechts über die Errichtung der Gesellschaften mit beschränkter Haftung zu umgehen. Unter solchen Umständen stelle die Errichtung einer Gesellschaft durch die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat keinen gemeinschaftsrechtlich insbesondere im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit relevanten, über den nationalen Rahmen hinausweisenden Aspekt dar.
Dem tritt der EuGH entgegen:
„Eine Sachlage, in der eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats, in dem sie ihren satzungsgemäßen Sitz hat, gegründete Gesellschaft eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat gründen will, fällt unter das Gemeinschaftsrecht. Daß die Gesellschaft im ersten Mitgliedstaat nur errichtet wurde, um sich in dem zweiten Mitgliedstaat niederzulassen, in dem die Geschäftstätigkeit im wesentlichen oder ausschließlich ausgeübt werden soll, ist dabei ohne Bedeutung (vgl. in diesem Sinne das Urteil Segers, Randnr. 16).
Daß die Eheleute Bryde die Centros im Vereinigten Königreich zu dem Zweck gegründet haben, das dänische Recht über die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals zu umgehen, was weder in den schriftlichen Erklärungen noch in der mündlichen Verhandlung bestritten wurde, ändert ebenfalls nichts daran, daß die Gründung einer Zweigniederlassung in Dänemark durch diese britische Gesellschaft unter die Niederlassungsfreiheit im Sinne der Artikel 52 und 58 EG-Vertrag fällt. Die Frage der Anwendung der Artikel 52 und 58 EG-Vertrag ist nämlich eine andere als die, ob ein Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen kann, um zu verhindern, daß sich einige seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den EG-Vertrag geschaffenen Erleichterungen der Anwendung des nationalen Rechts entziehen.“
Der EuGH führt aus, dass nach seiner ständigen Rechtsprechung die Niederlassungsfreiheit das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie zur Errichtung von Unternehmen und zur Ausübung der Unternehmertätigkeit nach den Bestimmungen garantiere, die im Niederlassungsstaat für dessen eigene Angehörigen gelten. Außerdem seien Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen Personen gleichgestellt, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind:
„Hieraus folgt unmittelbar, daß diese Gesellschaften das Recht haben, ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat durch eine Agentur oder eine Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne die Urteile Segers, Randnr. 13; vom 28. Januar 1986 in der Rechtssache 270/83, Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 273, Randnr. 18; vom 13. Juli 1993 in der Rechtssache C-330/91, Commerzbank, Slg. 1993, I-4017, Randnr. 13; und vom 16. Juli 1998 in der Rechtssache C-264/96, ICI, Slg. 1998, I-4695, Randnr. 20).“
Im Ergebnis bejaht der EuGH auch eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit. Die bewusste Ausnutzung unterschiedlicher Rechtssysteme stelle für sich genommen noch keine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit dar:
„Damit kann es für sich allein keine mißbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts darstellen, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der eine Gesellschaft gründen möchte, diese in dem Mitgliedstaat errichtet, dessen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen, und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen gründet. Das Recht, eine Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaats zu errichten und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen zu gründen, folgt nämlich im Binnenmarkt unmittelbar aus der vom EG-Vertrag gewährleisteten Niederlassungsfreiheit.“
D. Fazit
Wir hatten es schon angekündigt: Bei grenzüberschreitenden Sitzverlegungen ist strikt zwischen den Wegzugskonstellationen und Zuzugskonstellationen zu unterscheiden. Während bei ersteren die Niederlassungsfreiheit nur dann betroffen ist, wenn der Wegzugsstaat den rechtsformwahrenden Wegzug von Gesellschaften nach seiner nationalen Rechtsordnung zulässt, bejaht der EuGH bei Zuzugskonstellationen vorbehaltlos den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit.
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