Die Wahlfeststellung – ein Joker für das Gericht?

Die Wahlfeststellung – ein Joker für das Gericht?

BVerfG: Wahlfeststellung zwischen (gewerbsmäßig begangenem) Diebstahl und gewerbsmäßiger Hehlerei ist verfassungskonform

Die Wahlfeststellung zwischen (gewerbsmäßig begangenem) Diebstahl und gewerbsmäßiger Hehlerei verstößt nicht gegen das Grundgesetz – so geht es aus dem Beschluss vom 05. Juli 2019 des BVerfG hervor. Es hatte eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, in der sich die Beschwerdeführer gegen eine gesetzesalternative Verurteilung wehrten. Sie wurden vom Landgericht Meiningen zu Freiheitsstrafen verurteilt, obwohl das Gericht nicht zweifelsfrei feststellen konnte, ob es sich um Diebstahl oder Hehlerei handelte – wie geht das?

 

 

Worum geht es?

Die Beschwerdeführer der abgelehnten Verfassungsbeschwerde wurden vorab vom LG Meiningen alternativ wegen (gewerbsmäßig begangenen) Diebstahls (§ 242 I StGB) oder gewerbsmäßiger Hehlerei (§§ 259 I, 260 I Nr. 1 StGB) in 19 bzw. 15 Fällen zu Freiheitsstrafen verurteilt. Sie stahlen oder hehlten in einem erheblichen Umfang unter anderem Fahrzeuge und Fahrzeugteile – bei einer Durchsuchung ihrer Räumlichkeiten wurden zahlreiche Gegenstände sichergestellt, die in dem für die Einzeltaten näher konkretisierten Tatzeitraum gestohlen worden waren. Das Landgericht konnte aber nicht zweifelsfrei feststellen, ob die Gegenstände nun aus selbst ausgeführten Diebstählen stammten oder ob es sich dabei um Hehlerware handelte. Deshalb erfolgte eine gesetzesalternative Verurteilung nach den von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen zur echten Wahlfeststellung. Die alternativ Verurteilten gingen im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil vor und machten im Wesentlichen geltend, dass die echte Wahlfeststellung gegen Art. 103 II GG verstoße, weil die Verurteilung in der Wahlfeststellung nicht auf einer gesetzlichen, sondern auf einer dritten, ungeschriebenen Norm beruhe. Zudem sei auch die Unschuldsvermutung der Beschwerdeführer durch das Urteil des Landgerichts verletzt.   

Wie? Was? Wahlfeststellung?

Das Instrument der echten Wahlfeststellung betrifft den Fall „echter“ Gesetzesalternativität und findet Anwendung, wenn einem Täter nicht nachgewiesen werden kann, welchen von zwei oder mehreren Tatbeständen er verwirklicht hat, für das Gericht aber feststeht, dass der Täter einen dieser Tatbestände verwirklicht hat. 
Der Täter ist in der einen Sachverhaltsalternative nach dem Tatbestand 1, in der anderen nach dem Tatbestand 2 strafbar, ohne dass Tatbestand 1 und Tatbestand 2 in einem Stufenverhältnis stehen.

 
Deshalb liest sich das Urteil des LG Meiningen auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig: Die Täter wurden alternativ wegen § 242 I StGB oder §§ 259 I, 260 I Nr. 1 StGB in 19 bzw. 15 Fällen zu Freiheitsstrafen verurteilt. 

Die echte Wahlfeststellung ist natürlich an Voraussetzungen gebunden: Eine eindeutige Feststellung darf nach einer Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht möglich sein und jede in Betracht kommende Möglichkeit muss ein Strafgesetz verletzen. Dabei dürfen die verletzten Strafgesetze nicht in einem Stufenverhältnis stehen, wie es zum Beispiel bei den §§ 223, 224 StGB der Fall wäre – denn dann müsste aus dem milderen Gesetz verurteilt werden. 

Eine eindeutige Verurteilung hat nämlich immer Vorrang vor einer Alternativfeststellung. Als letzte Voraussetzung müssen die wahlweise verwirklichten Tatbestände rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sein. Darunter ist eine im Wesentlichen gleiche seelische Beziehung des Täters zu den Alternativen zu verstehen, die er im Wesentlichen auf derselben Art missbilligt. 

Obwohl die echte Wahlfeststellung an strenge Voraussetzungen geknüpft ist, ist sie umstritten. In der hier erhobenen Verfassungsbeschwerde wurde versucht, eine Verletzung von Art. 103 II GG und der Unschuldsvermutung geltend zu machen. 

Für die Anwendung des entwickelten Rechtsinstruments hingegen lässt sich argumentieren, dass es einen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit darstellen kann: 

Der Angeklagte dürfte nicht in dubio pro reo freigesprochen werden, wenn er von zwei oder mehreren alternativ in Betracht kommenden Straftaten eine notwendig begangen haben muss.

 

Wahlfeststellung verletzt nicht Art. 103 II GG

Das BVerfG hat nun in seinem Beschluss klargestellt, dass die Wahlfeststellung zwischen gewerbsmäßigem Diebstahl und gewerbsmäßiger Hehlerei verfassungskonform ist. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer sei Art. 103 II GG gerade nicht verletzt, weil der Schutzbereich der Norm nicht berührt sei. 

Art. 103 II GG regelt, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Das BVerfG ging in seiner vergangenen Rechtsprechung stets von einem doppelten Schutzzweck des Art. 103 II GG aus: Es soll einerseits sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet. Dies erkennt das BVerfG auch in diesem Beschluss an – Strafbarkeitslücken müssen vom Gesetzgeber geschlossen werden. Andererseits geht es bei Art. 103 II GG um den rechtsstaatlichen Schutz. Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist (nulla poena sine lege). 

Das Gericht bestätigte in seinem Beschluss, dass hier eine besondere Beweissituation vorlag, in der das Landgericht trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel eine Verurteilung auszusprechen hatte. 

Die Regeln zur Wahlfeststellung dienen nicht dazu, materiell-rechtliche Strafbarkeitslücken zu schließen, was allein Aufgabe des Gesetzgebers ist; sie ermöglichen ausschließlich die Bewältigung verfahrensrechtlicher Erkenntnislücken. Die […] Wahlfeststellung ist eine besondere, dem Strafverfahrensrecht zuzuordnende Entscheidungsregel, die nicht den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG berührt.

Darüber hinaus sieht das BVerfG auch keine Verletzung des Grundsatzes “nulla poena sine lege”, der ebenfalls von Art. 103 II GG erfasst wird. Der Grundsatz erstreckt das Gebot der Gesetzesbestimmtheit auch auf die Strafandrohung: Denn das jeweilige Gericht entnimmt bei der Wahlfeststellung Art und Maß der Bestrafung einem gesetzlich normierten Straftatbestand (hier also § 242 StGB oder alternativ §§ 259 I, 260 I Nr. 1 StGB) – dem Grundsatz “nulla poena sine lege” ist somit Genüge getan.   

Auch der Unschuldsvermutung wird hinreichend Rechnung getragen

Die Verfassungsrichter kamen auch zu dem Schluss, dass die gesetzesalternative Verurteilung wegen (gewerbsmäßig begangenen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei der  Unschuldsvermutung hinreichend Rechnung trage. Die Unschuldsvermutung ist ein in unserem Rechtsstaat verankerter Grundsatz: Der Beschuldigte eines Strafverfahrens muss bis zum Beweis seiner Schuld als unschuldig gelten und auch entsprechend behandelt werden. Zwar könnte für eine Verletzung der Unschuldsvermutung im Falle der Wahlfeststellung sprechen, dass eine konkrete, schuldhaft begangene Straftat eben nicht nachgewiesen werden konnte. Dagegen steht zur Überzeugung des Gerichts jedoch fest, dass der Angeklagte sicher einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen schuldhaft verwirklicht hat. 

Zweifelhaft ist nicht, ob sich der Angeklagte nach einem bestimmten Tatbestand strafbar gemacht hat, sondern aufgrund der begrenzten Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts, welches Strafgesetz verletzt ist.

In solchen Sachverhaltskonstellationen, gerade wenn ein vergleichbarer Unrechts- und Schuldgehalt besteht, könne die Unschuldsvermutung keinen Freispruch des Angeklagten fordern. Vielmehr würde die Anwendung der Unschuldsvermutung einen Widerspruch zum Rechtsstaatlichkeitsprinzip darstellen, welches als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit und den Grundsatz der Rechtsgleichheit schließe, führte das BVerfG in seinem Beschluss aus. 

Kritiker der Wahlfeststellung halten dieser Ansicht entgegen, dass es sich bei der gesetzesalternativen Verurteilung um ein unzulässiges Verdachtsurteil handele, denn die aufgeführten Straftatbestände seien – für sich genommen – schließlich nicht vollständig vor Gericht nachgewiesen worden. Aber auch davon ließ sich das BVerfG nicht überzeugen. Es führte aus, dass die alternative Fassung des Schuldspruchs und die Darlegung der Voraussetzungen der wahlweisen Verurteilung in den Urteilsgründen hinreichend deutlich machen, dass die Verurteilung auf einer wahldeutigen Tatsachengrundlage beruhe. Somit könne keine Rede von einem Verdachtsurteil sein.   

Regelung der Wahlfeststellung muss auf Ausnahmefälle begrenzt sein

Am Ende betonte das BVerfG in seinem Beschluss, dass eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage nur in Ausnahmefällen zulässig sein und bleiben darf – eben nur dann, wenn ein eindeutiger Tatnachweis nicht möglich ist. Dabei darf die Möglichkeit einer Wahlfeststellung auf keinen Fall so angewendet werden, dass eine weitere Ermittlung von Tatsachen unterbleibt. Im Urteil muss auch – so war es hier – stets erkennbar sein, dass trotz Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten und trotz einer erschöpfenden Würdigung der Tatsachen und Beweise keine eindeutige Feststellung getroffen werden konnte. Wenn dem so ist, dann ist die Wahlfeststellung rechtmäßig anwendbar – gestützt durch die Verfassung.