A. Sachverhalt
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsmittels der CARTESIO Oktató és Szolgáltató bt (im Folgenden: Cartesio), einer Gesellschaft mit Sitz in Baja (Ungarn), gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag auf Eintragung der Verlegung ihres Sitzes nach Italien in das Handelsregister abgelehnt worden war.
Cartesio wurde am 20. Mai 2004 in der Rechtsform einer “betéti társaság” (Kommanditgesellschaft) ungarischen Rechts gegründet. Als ihr Sitz wurde Baja (Ungarn) festgelegt. Sie wurde am 11. Juni 2004 ins Handelsregister eingetragen.
Kommanditist der Gesellschaft, der nur zur Kapitaleinlage verpflichtet ist und Komplementär, der unbeschränkt für die Schulden der Gesellschaft haftet, sind zwei natürliche Personen, die in Ungarn ansässig sind und die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Gesellschaft ist u. a. in den Bereichen Humanressourcen, Sekretariat, Übersetzung, Unterricht und Bildung tätig.
Am 11. November 2005 stellte Cartesio beim Bács-Kiskun Megyei Bíróság (Bezirksgericht Bács-Kiskun) als Cégbíróság (Handelsregistergericht) einen Antrag, die Verlegung ihres Sitzes nach Gallarate (Italien) zu bestätigen und die Sitzangabe im Handelsregister entsprechend zu ändern.
Mit Entscheidung vom 24. Januar 2006 wurde dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass eine in Ungarn gegründete Gesellschaft nach geltendem ungarischem Recht ihren Sitz nicht unter Beibehaltung des ungarischen Personalstatuts ins Ausland verlegen könne.
Cartesio hat gegen diese Entscheidung Berufung beim Szegedi Ítéltábla (Regionalgericht Szeged) eingelegt. Cartesio machte vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass das ungarische Gesetz insoweit, als es Handelsgesellschaften unterschiedlich behandele, je nachdem, in welchem Mitgliedstaat sich ihr Sitz befinde, gegen die Art. 43 EG und 48 EG [a.F., Art. 49, 54 AEUV] verstoße. Aus diesen Artikeln ergebe sich, dass das ungarische Gesetz den ungarischen Gesellschaften nicht vorschreiben könne, Ungarn als Sitzland zu wählen.
Das Regionalgericht Szeged Bezugnahme führt unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH vom 27. September 1988, Daily Mail and General Trust (81/87, Slg. 1988, 5483), aus, dass die in den Art. 43 EG und 48 EG [a.F., Art. 49, 54 AEUV] vorgesehene Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet ist und in diesem eingetragen ist, nicht das Recht gewähre, ihre Hauptverwaltung und damit ihre Hauptniederlassung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Rechtspersönlichkeit und ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit zu behalten, wenn sich die zuständigen Behörden dem widersetzten. Der Gerichtshof, so das vorlegende Gericht, könnte diesen Grundsatz jedoch in seiner späteren Rechtsprechung modifiziert haben.
B. Worum geht es?
Eine ungarische Gesellschaft verlegt ihren Verwaltungssitz nach Italien und beantragt insoweit die Änderung des ungarischen Handelsregisters, möchte also ihre Eigenschaft als Gesellschaft ungarischen Rechts behalten. Das Registergericht lehnt dies ab und verweist auf das ungarische Recht, wonach eine in Ungarn gegründete Gesellschaft nach ungarischem Recht nicht ihren Sitz ins Ausland verlegen und zugleich das ungarische Recht als Personalstatut behalten könne. Eine solche Verlegung erfordere, dass die Gesellschaft zunächst zu bestehen aufhöre und dann nach dem Recht des Landes, in das der Sitz verlegt werden solle, neu gegründet werde. Und nun? Die Gesellschaft beruft sich auf die in Art. 49 AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit, die auch für Gesellschaften gilt (Art. 54 AEUV) und grundsätzlich die Beschränkung der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verbietet. Allerdings hatte der EuGH in der uns bereits bekannten Entscheidung Daily Mail aus dem Jahr 1988 entschieden, das die Niederlassungsfreiheit Gesellschaften – gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat (hier: Ungarn) – kein Recht gewähre, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Der EuGH hatte nun – 20 Jahre später – Gelegenheit, seine Rechtsprechung zu überprüfen und folgende Frage zu beantworten:
„Sind die Art. 49, 54 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es einer nach dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft, die dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats unterliegt, nach dessen Recht sie gegründet wurde, behält?“
C. Wie hat der EuGH entschieden?
Der EuGH bestätigt in der Rechtssache Cartesio (Urt. v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06) die Grundsätze aus „Daily Mail“: Die Art. 49, 54 AEUV seien dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sie gegründet wurde, zu behalten.
Der EuGH referiert zunächst die Entscheidung „Daily Mail“:
„In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof in Randnr. 19 des Urteils Daily Mail and General Trust ausgeführt, dass eine aufgrund einer nationalen Rechtsordnung gegründete Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat.
In Randnr. 20 des genannten Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, dass hinsichtlich dessen, was für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem nationalen Gebiet erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach einem nationalen Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich zu ändern, erhebliche Unterschiede im Recht der Mitgliedstaaten bestehen. In einigen Mitgliedstaaten muss nicht nur der satzungsmäßige, sondern auch der wahre Sitz, also die Hauptverwaltung der Gesellschaft, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegen; die Verlegung der Geschäftsleitung aus diesem Gebiet hinaus setzt somit die Liquidierung der Gesellschaft mit allen Folgen voraus, die eine solche Liquidierung auf gesellschaftsrechtlichem Gebiet mit sich bringt. Andere Mitgliedstaaten gestehen den Gesellschaften das Recht zu, ihre Geschäftsleitung ins Ausland zu verlegen, aber einige beschränken dieses Recht; die rechtlichen Folgen der Verlegung sind in jedem Mitgliedstaat anders.
Der Gerichtshof hat in Randnr. 21 des Urteils Daily Mail and General Trust weiter ausgeführt, dass der EWG-Vertrag diesen Unterschieden im nationalen Recht Rechnung trägt. Bei der Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, in Art. 58 EWG-Vertrag (zunächst Art. 58 EG-Vertrag, jetzt Art. 48 EG [a.F., 54 AEUV]) werden der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung gleich geachtet.“
Der Schutz der Art. 49, 54 AEUV komme erst dann in Betracht, wenn die Gesellschaft nach der nationalen Rechtsordnung des Wegzugsstaates auch nach der Sitzverlegung ohne Formänderung und ohne Änderung des anwendbaren nationalen Rechts weiter existieren könne:
„In Ermangelung einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, anhand einer einheitlichen Anknüpfung, nach der sich das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt, ist die Frage, ob Art. 43 EG auf eine Gesellschaft anwendbar ist, die sich auf die dort verankerte Niederlassungsfreiheit beruft, ebenso wie im Übrigen die Frage, ob eine natürliche Person ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und sich aus diesem Grund auf diese Freiheit berufen kann, daher gemäß Art. 48 EG eine Vorfrage, die beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nur nach dem geltenden nationalem Recht beantwortet werden kann. Nur wenn die Prüfung ergibt, dass dieser Gesellschaft in Anbetracht der in Art. 48 EG genannten Voraussetzungen tatsächlich die Niederlassungsfreiheit zugutekommt, stellt sich die Frage, ob sich die Gesellschaft einer Beschränkung dieser Freiheit im Sinne des Art. 43 EG gegenübersieht.
Ein Mitgliedstaat kann somit sowohl die Anknüpfung bestimmen, die eine Gesellschaft aufweisen muss, um als nach seinem innerstaatlichen Recht gegründet angesehen werden und damit in den Genuss der Niederlassungsfreiheit gelangen zu können, als auch die Anknüpfung, die für den Erhalt dieser Eigenschaft verlangt wird. Diese Befugnis umfasst die Möglichkeit für diesen Mitgliedstaat, es einer Gesellschaft seines nationalen Rechts nicht zu gestatten, diese Eigenschaft zu behalten, wenn sie sich durch die Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat dort neu organisieren möchte und damit die Anknüpfung löst, die das nationale Recht des Gründungsmitgliedstaats vorsieht.“
Der Fall einer solchen Verlegung des Sitzes einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat ohne Änderung des für sie maßgeblichen Rechts sei jedoch von dem Fall zu unterscheiden, dass eine Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat unter Änderung des anwendbaren nationalen Rechts verlegt und dabei in eine dem nationalen Recht des zweiten Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaftsform umgewandelt werde:
„Denn in diesem zweiten Fall kann die in Randnr. 110 des vorliegenden Urteils angesprochene Befugnis – die keinesfalls irgendeine Immunität des nationalen Rechts über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften im Hinblick auf die Vorschriften des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit impliziert – insbesondere nicht rechtfertigen, dass der Gründungsmitgliedstaat die Gesellschaft dadurch, dass er ihre Auflösung und Liquidation verlangt, daran hindert, sich in eine Gesellschaft nach dem nationalen Recht dieses anderen Mitgliedstaats umzuwandeln, soweit dies nach diesem Recht möglich ist.
Ein solches Hemmnis für die tatsächliche Umwandlung, ohne vorherige Auflösung und Liquidation, einer solchen Gesellschaft in eine Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, in den sie sich begeben möchte, stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der betreffenden Gesellschaft dar, die, wenn sie nicht zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht, nach Art. 43 EG verboten ist (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil CaixaBank France, Randnrn. 11 und 17).“
D. Fazit
Cartesio betraf – ebenso wie Daily Mail – eine Wegzugskonstellation: Cartesio wollte ihren Sitz aus Ungarn nach Italien verlegen, war daran aber durch das Recht des Herkunftsstaates (Ungarn) gehindert. Beschränkungen des formwahrenden Wegzugs seien nach wie vor nicht von der Niederlassungsfreiheit erfasst, weil und soweit Gesellschaften auf der Grundlage einer nationalen Rechtsordnung gegründet werden und jenseits dieser Rechtsordnung „keine Realität“ haben. Dabei machte der EuGH aber – in einem obiter dictum – bereits eine klarstellende Einschränkung: Nationale Regelungen zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung mit Formwechsel seien sehr wohl an der Niederlassungsfreiheit zu messen.
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