BGH bestätigt die Freisprüche zweier angeklagter Ärzte und ändert seine Rechtsprechung von 1984
Der in Leipzig ansässige fünfte Strafsenat des BGH wies am heutigen Mittwoch, den 03.07.2019, die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen entsprechende Urteile der Landgerichte Berlin und Hamburg zurück – umstritten war, ob sich die Mediziner wegen Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht haben, indem sie Patientinnen bei Selbsttötungen unterstützten.
Worum geht es?
Gibt es eine Pflicht zur Wiederbelebung? Wie weit reicht der freie Wille bei Menschen, die ihr Leben beenden wollen? Wo liegen die Grenzen zwischen erlaubter Suizidbeihilfe und verbotener Tötung auf Verlangen? Mit diesen schwierigen Fragen hatte sich der BGH in den vergangenen Wochen zu befassen und musste klären, ob sich Ärzte strafbar machen, wenn sie nicht versuchen, Menschen zu retten, die zuvor freiwillig eine tödliche Medikamentendosis zu sich genommen haben, um aus freien Stücken aus dem Leben zu scheiden. Das Landgericht Hamburg und das Landgericht Berlin hatte jeweils einen angeklagten Arzt von dem Vorwurf freigesprochen, sich durch die Unterstützung von Selbsttötungen sowie das Unterlassen von Maßnahmen zur Rettung der bewusstlosen Suizidentinnen wegen Tötungsdelikten strafbar gemacht zu haben. Gegen die Freisprüche richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaften.
In dem Hamburger Fall litten zwei miteinander befreundeten 85 und 81 Jahre alte Frauen an mehreren, zwar nicht lebensbedrohlichen, aber in ihrer Lebensqualität und persönlichen Handlungsmöglichkeit zunehmend einschränkenden Krankheiten. Sie wandten sich an einen Sterbehilfeverein, der seine Unterstützung bei der Selbsttötung von der Erstattung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit abhängig machte. Ein solches Gutachten erstellte der Angeklagte, ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, der an der Festigkeit und Wohlerwogenheit der beiden Suizidentinnen keine Zweifel hatte. Der Arzt stimmte der Einnahme eines tödlich wirkenden Medikamentes zu und unterließ auf den ausdrücklichen Wunsch der beiden Frauen nach Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit etwaige Rettungsmaßnahmen einzuleiten.
In dem Berliner Fall musste sich ein Hausarzt dafür verantworten, dass er einer Patientin Zugang zu einem Medikament verschaffte, nach dessen Einnahme sie verstarb. Die 44-Jährige litt seit beinahe 30 Jahren an einer, zwar ebenfalls nicht lebensbedrohlichen, aber starke krampfartige Schmerzen verursachenden Erkrankung. Sie hatte den angeklagten Arzt um seine Hilfe beim Sterben gebeten. Nach der Einnahme der Medikamente betreute er sie beim Eintritt der Bewusstlosigkeit während des zweieinhalb Tage dauernden Sterbens, leistete aber – wie von ihr zuvor ausdrücklich gewünscht – keine lebensrettenden Maßnahmen.
“Gebot der Humanität und Nächstenliebe”
Norbert Mutzbauer, Vorsitzende Richter des fünften BGH-Senats, verweist in der Urteilsverkündung auf die gesetzlichen Regelungen zur Patientenverfügung: Der darin festgelegte Wille des Patienten, auch im Falle seiner Entscheidungsunfähigkeit ärztliche Eingriffe in konkreten Situationen zu unterlassen, sei bindend. Auch der Vertreter der vor dem BGH zuständigen Bundesanwaltschaft sprach sich für die Abweisung der beiden Revisionen aus. Sterbewillige müssten zwar voll einsichts- und steuerfähig sein, sie dürften nicht von anderen unter Druck gesetzt werden und ihre Entscheidungen müssen letztlich wohl überlegt sein – all diese Voraussetzungen seien aber in den hier in Frage stehenden Fällen erfüllt. Die Sterbewünsche der Frauen beruhten vielmehr auf einer im Laufe der Zeit entwickelten “Lebensmüdigkeit” und waren laut BGH nicht Ergebnis psychischer Störungen. Daher entfalle die Garantenpflicht des Arztes für die Gesundheit der Patienten – sie seien nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit nicht zur Rettung verpflichtet gewesen. Nach Ansicht des BGH wurde auch keine Hilfspflicht nach § 323c StGB in strafbarer Weise verletzt, da sich der Suizid jeweils als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Frauen darstellte, sodass Rettungsmaßnahmen entgegen ihres Willens nicht geboten gewesen wären.
Der Hausarzt sprach damals von einer “höchst komplizierten Konfliktsituation”, zumal es seiner Patientin um ein selbstbestimmtes Sterben in Würde gegangen sei. Seine Unterstützung sei deshalb nicht nur eine “moralische Verpflichtung” gewesen, es handele sich vielmehr um ein Gebot der Humanität und christlicher Nächstenliebe.
Der BGH hat die Freisprüche nun bestätigt und die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen die Urteile der Landgerichte zurückgewiesen. Wir dürfen auf die ausführliche Begründung gespannt sein und werden Dich an dieser Stelle auf dem Laufenden halten.
Änderung der Rechtsprechung von 1984
Es bleibt aber bereits jetzt festzuhalten, dass der BGH nach etwa 35 Jahren seine Rechtsprechung geändert hat. Damals hatte der BGH im Fall Wittig (Urt. v. 04.07.1984, Az. 3 StR 96/84) noch entschieden, dass sich Ärzte unter Umständen strafbar machen, wenn sie bewusstlose Patienten nicht zu retten versuchen – aktive Sterbehilfe ist in Deutschland nicht erlaubt. Als eine “für das Selbstbestimmungsrecht epochale Abkehr” von der damaligen Entscheidung bezeichnet die Deutsche Sterbehilfe das aktuelle Urteil. Es gibt aber nicht nur Befürworter: “Unsere ärztliche Aufgabe ist es, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern; die Mitwirkung an der Selbsttötung ist keine solche ärztliche Aufgabe – unsere Berufsordnung lässt daran keinen Zweifel: Ärztinnen und Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten”, sagt Rudolf Henke, Vorsitzender des Marburger Bundes. Zwar sei das Selbstbesimmungsrecht von Patienten zu achten, aber es gebe Grenzen ärztlichen Handelns, die sich aus dem beruflichen Selbstverständnis ergeben, führt er weiter aus.
Seit dem Jahr 2015 gilt zudem das Verbot der “geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung”, das auf Sterbehilfe als Geschäftsmodell organisierter Vereine abzielt. Eine Entscheidung zu dem höchstumstrittenen § 217 StGB steht derzeit noch beim BVerfG aus und wird im Herbst erwartet – Schwerkranke, Ärzte und Sterbehilfe-Vereine haben gegen das Verbot geklagt.
Die gesamte Urteilsverkündung des BGH im Video
Garantenpflicht des Arztes, Beihilfe, (mittelbare) Täterschaft, unterlassene Hilfeleistung, Tötung durch Unterlassen – Das Grundsatzurteil des BGH zu ärztlicher Unterstützung bei Selbsttötungen ist nicht nur ein sensibles Thema, sondern wird mit Sicherheit auch in der einen oder anderen künftigen Prüfung vorkommen. Du kannst Dir hier die gesamte Urteilsverkündung des BGH anschauen.
Zudem möchten wir Dir empfehlen, die hier in Frage stehenden Themen für künftige Prüfungen zu wiederholen. Hierzu kannst Du Dir die folgenden Lerneinheiten kostenlos anschauen, zum Beispiel: zu den unechten Unterlassungsdelikten, zur Garantenstellung, zur mittelbaren Täterschaft, zur unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB, zur Beihilfe oder zu den einzelnen Tötungsdelikten.
Du möchtest weiterlesen?
Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.
Paket auswählen