Cassis de Dijon

A. Sachverhalt

Die Rewe-Zentral-AG (im folgenden Rewe genannt), ein zentralgenossenschaftliches Unternehmen mit Sitz in Köln, führt unter anderem Waren aus anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ein. Sie beantragte am 14. September 1976 bei der Bundesmonopolverwaltung für Branntwein die Genehmigung, aus Frankreich bestimmte Trinkbranntweine, unter anderem den Likör „Cassis de Dijon“ mit 15 bis 20 Raumhundertteilen Alkohol, einführen und in der Bundesrepublik Deutschland in den Verkehr bringen zu dürfen.

Mit Schreiben vom 17. September 197 6 teilte die Bundesmonopolverwaltung Rewe mit, daß eine besondere Einfuhrgenehmigung nicht erforderlich sei: Die gemäß § 3 III Branntweinmonopolgesetz (Gesetz über das Branntweinmonopol vom 8. April 1922, zuletzt geändert durch Gesetz vom 2. Mai 1976) erforderliche Genehmigung für die Einfuhr von Branntwein in die Bundesrepublik habe die Bundesmonopolverwaltung gemäß Bekanntmachung vom 8. April 1976 (Bundesanzeiger Nr. 74 vom 15. April 1976, Nr. 79 vom 27. April 1976) allgemein erteilt; im übrigen sei die Einfuhr von Likören jedenfalls genehmigungsfrei. Sie gab aber Rewe die Auskunft, daß der „Cassis de Dijon“, den diese einführen wolle, in der Bundesrepublik Deutschland nicht verkehrsfähig sei, da nach § 100 III Branntweinmonopolgesetz Trinkbranntweine nur mit einem Mindestweingeistgehalt von 32 % in den Verkehr gebracht werden dürften. Die Ausnahmen zu dieser Bestimmung seien in der Verordnung über den Mindestweingeistgehalt von Trinkbranntweinen vom 28. Februar 1958 (Bundesanzeiger Nr. 48 vom 11. März 1958) enthalten. Der Likör „Cassis de Dijon“ mit einem Weingeistgehalt zwischen 15 und 20 Raumhundertteilen sei in dieser Verordnung nicht erfasst. Die Branntweinmonopolverwaltung sei im Rahmen des § 100 III Branntweinmonopolgesetz nicht ermächtigt, Ausnahmen in Einzelfällen zuzulassen.

 

B. Worum geht es?

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens will eine Partie „Cassis de Dijon“ aus Frankreich einführen, um sie in der Bundesrepublik Deutschland in den Verkehr zu bringen. Sie beantragte bei der Bundesmonopolverwaltung für Branntwein die Einfuhrgenehmigung für dieses Erzeugnis. Die Monopolverwaltung teilte daraufhin – gestützt auf § 100 Branntweinmonopolgesetz – mit, dieses Erzeugnis sei wegen seines zu geringen Weingeistgehaltes in der Bundesrepublik Deutschland nicht verkehrsfähig.

Diese Bestimmungen stellten zwar keine „mengenmäßige Einfuhrbeschränkung“ i.S.v. Art. 34 AEUV, der die Warenverkehrsfreiheit schützt, dar. Sie könnten aber eine „Maßnahme gleicher Wirkung“ (sogenannte „Maßnahme kontingentgleicher Wirkung“) sein, die ebenso verboten ist. Blogleser wissen, dass der EuGH diese Maßnahmen in der Rechtssache Dassonville definiert hat als „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“ (sogenannte Dassonville-Formel). Die Besonderheit dieses Falles lag nun darin, dass  die die deutsche Regelung unterschiedslos auf nationale Produkte als auch auf solche aus dem EU-Ausland anwendbar ist und damit ausländische Produkte nicht diskriminiert. Der EuGH hatte daher Gelegenheit, die weite Dassonville-Formel im Hinblick auf die fehlende Diskriminierung ausländischer Produkte zu konkretisieren.

 

C. Wie hat der EuGH entschieden?

Der EuGH rekurriert in der Rechtssache Cassis de Dijon (Urt. v. 20.2.1979 – Rs. 120/78) gedanklich – ohne sie ausdrücklich zu zitieren – auf die Dassonville-Formel, fügt dieser aber eine Einschränkung hinzu.

 

Er subsumiert die betreffenden Maßnahmen – unabhängig von einer diskriminierenden Wirkung – unter Art. 34 AEUV (Art. 30 EWG-Vertrag a.F.), nimmt aber solche Maßnahmen davon aus, die notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden:

„In Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung der Herstellung und Vermarktung von Weingeist - über einen Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates vom 7. Dezember 1976 (ABI. C 309, S. 2) hat dieser bisher nicht entschieden - ist es Sache der Mitgliedstaaten, alle die Herstellung und Vermarktung von Weingeist und alkoholischen Getränken betreffenden Vorschriften für ihr Hoheitsgebiet zu erlassen. Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, müssen hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.“

Die Bundesregierung hatte mehrere Gesichtspunkte zur Rechtfertigung der Bestimmungen über den Mindestweingeistgehalt von alkoholischen Getränken vorgebracht und sich einerseits auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit, andererseits auf den Schutz der Verbraucher vor unlauterem Wettbewerb bezogen. Diese Aspekte seien aber nicht stichhaltig, weswegen die Regelungen eine „Maßnahme gleicher Wirkung“ i.S.v. Art. 34 AEUV (Art. 30 EWG-Vertrag a.F.) darstellten:

„Was den Schutz der öffentlichen Gesundheit anbelangt, legt die deutsche Regierung dar, die Festsetzung eines Mindestweingeistgehaltes im nationalen Recht solle die Überschwemmung des nationalen Marktes mit alkoholischen Getränken, insbesondere mit solchen mäßigen Weingeistgehalts verhindern, denn derartige Erzeugnisse könnten leichter zu einer Gewöhnung führen als Getränke mit höherem Weingeistgehalt.

Solche Erwägungen sind nicht stichhaltig, da dem Verbraucher auf dem Markt ein äußerst umfangreiches Angebot unterschiedlicher Erzeugnisse mit geringem oder mittlerem Alkoholgehalt zur Verfügung steht und überdies ein erheblicher Teil der auf dem deutschen Markt frei gehandelten Getränke mit hohem Weingeistgehalt üblicherweise verdünnt genossen wird.

Die deutsche Regierung trägt weiter vor, die Festsetzung eines Mindestweingeistgehalts bei bestimmten Likören solle den Verbraucher vor unlauterem Wettbewerb der Hersteller oder Händler alkoholischer Getränke schützen. Diese Argumentation stützt sich darauf, daß eine Verringerung des Alkoholgehalts bei bestimmten Getränken diesen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Getränken mit höherem Alkoholgehalt verschaffen würde, da Weingeist aufgrund seiner erheblichen Abgabenbelastung bei weitem der teuerste Bestandteil der Getränke sei. Wollte man ferner alkoholische Erzeugnisse zum freien Verkehr zulassen, wenn sie hinsichtlich ihres Weingeistgehaltes nur den Bestimmungen des Herstellungslandes entsprächen, so hätte dies, wie die deutsche Regierung meint, zur Folge, daß sich in der Gemeinschaft als gemeinsamer Standard der niedrigste in irgendeinem Mitgliedstaat zulässige Weingeistgehalt durchsetzen würde, ja daß sogar alle einschlägigen Bestimmungen hinfällig würden, da die Regelung mehrerer Mitgliedstaaten überhaupt keinen Mindestweingeistgehalt kenne.

Wie die Kommission zu Recht ausführt, kann die Festsetzung von Grenzwerten beim Weingeistgehalt von Getränken der Standardisierung von Erzeugnissen und ihrer Kennzeichnung im Interesse einer größeren Transparenz des Handels und der Angebote an die Verbraucher dienen. Andererseits kann man jedoch nicht so weit gehen, die zwingende Festsetzung eines Mindestweingeistgehaltes in diesem Bereich als wesentliche Garantie eines lauteren Handelsverkehrs zu betrachten, denn eine angemessene Unterrichtung der Käufer läßt sich ohne Schwierigkeiten dadurch erreichen, daß man die Angabe von Herkunft und Alkoholgehalt auf der Verpackung des Erzeugnisses vorschreibt.

Nach alledem verfolgen die Bestimmungen über den Mindestweingeistgehalt alkoholischer Getränke kein im allgemeinen Interesse liegendes Ziel, das den Erfordernissen des freien Warenverkehrs, der eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt, vorginge. Praktisch sichern solche Bestimmungen vor allem den Getränken mit hohem Alkoholgehalt einen Vorteil, indem sie Erzeugnisse anderer Mitgliedstaaten, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, vom nationalen Markt ausschließen. Daher stellt es ein mit Artikel 30 des Vertrages unvereinbares Handelshemmnis dar, wenn ein Mitgliedstaat durch Rechtsvorschriften einseitig einen Mindestweingeistgehalt als Voraussetzung für die Verkehrsfähigkeit alkoholischer Getränke festsetzt. Es gibt somit keinen stichhaltigen Grund dafür, zu verhindern, daß in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte alkoholische Getränke in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden; dem Absatz dieser Erzeugnisse kann kein gesetzliches Verbot des Vertriebs von Getränken entgegengehalten werden, die einen geringeren Weingeistgehalt haben, als im nationalen Recht vorgeschrieben ist.“

 

D. Fazit

Schon in der Dassonville-Entscheidung deutete sich an, dass der EuGH auch solche Maßnahmen unter Art. 34 AEUV subsumiert, die auf Waren in- und ausländischer Herkunft unterschiedslos anwendbar sind und auch im Ergebnis sowohl eingeführte als auch heimische Waren gleichermaßen treffen. Während es in „Dassonville“ noch um eine diskriminierende Maßnahme ging, so dass diese Unterscheidung keine Rolle spielte, kam es erstmals in dieser Entscheidung auf die umfassende Definition an. Denn die deutschen Vorschriften über den Mindestalkoholgehalt für Fruchtliköre galten sowohl für inländische als auch für ausländische Produkte. Weil der EuGH nun auch diese nichtdiskriminierenden Vorschriften als Maßnahme kontingentgleicher Wirkung i.S.v. Art. 34 AEUV einstuft, hat der EuGH das Diskriminierungsverbot zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot ausgebaut.

Mit dieser weiten Rechtsprechung würde aber eine sehr weitgehende Rechtsharmonisierung innerhalb der EU entstehen, und zwar auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ohne sekundärrechtliche Grundlage. Daher nimmt der EuGH solche Maßnahmen von Art. 34 AEUV aus, die „notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden“ (sogenannte Cassis-Formel).

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