Dassonville

A. Sachverhalt (leicht vereinfacht)

Gemäß belgischem Gesetz vom 18. April 1927 gelten als Ursprungsbezeichnung diejenigen Bezeichnungen, die der belgischen Regierung durch andere Regierungen als amtlich und endgültig anerkannte Ursprungsbezeichnungen mitgeteilt worden sind. Nach Artikel 1 der Königlichen Verordnung Nr. 57 vom 20. Dezember 1934 ist es bei Strafe untersagt, Branntwein mit einer von der belgischen Regierung rechtsgültig zugelassenen Ursprungsbezeichnung einzuführen, zu verkaufen, zum Verkauf auszustellen oder zum Verkauf oder zur Lieferung bereitzuhalten oder zu befördern, wenn dem Branntwein kein amtlicher Begleitschein beiliegt, aus dem sich ergibt, dass diese Bezeichnung zu Recht geführt wird. Die belgische Regierung hat die Ursprungsbezeichnung „Scotch Whisky” rechtsgültig zugelassen.

Der Großhändler Gustave Dassonville mit Niederlassung in Frankreich und sein Sohn Benoît Dassonville, der in Belgien eine Zweigniederlassung des väterlichen Handelsunternehmens leitet, führten im Jahre 1970 „Scotch Whisky” der Marken „Johnnie Walker” und „Vat 69” nach Belgien ein, den Gustave Dassonville bei französischen Import- und Vertriebsgesellschaften dieser beiden Marken eingekauft hatte. Vater und Sohn Dassonville brachten auf den Flaschen für Verkaufszwecke Etiketten insbesondere mit dem aufgedruckten Vermerk „British Customs Certificate of Origin” an, gefolgt von einer handschriftlichen Angabe der Nummer und des Datums des Freigabeauszuges aus dem französischen Zollabfertigungsregister. Dieser Freigabeauszug stellte das amtliche Schriftstück dar, das nach den französischen Rechtsvorschriften einem Erzeugnis mit Ursprungsbezeichnung als Begleitpapier beigegeben werden musste. Eine Ursprungsbescheinigung verlangt Frankreich für „Scotch Whisky” nicht.

Obgleich die Waren mit den erforderlichen französischen Begleitdokumenten nach Belgien eingerührt und als „Gemeinschaftswaren” vom Zoll abgefertigt worden waren, stellten sich die belgischen Behörden auf den Standpunkt, diese Dokumente genügten nicht den Anforderungen der Königlichen Verordnung Nr. 57 vom Jahre 1934.

Auf diese Einfuhr hin erhob die Staatsanwaltschaft gegen Vater und Sohn Dassonville Anklage.

 

B. Worum geht es?

Nach Art. 34 AEUV sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Dahinter verbirgt sich die sogenannte Warenverkehrsfreiheit im Binnenmarkt als eine von vier Grundfreiheiten:

 - [Warenverkehrsfreiheit ( 34 AEUV)](https://jura-online.de/lernen/warenverkehrsfreiheit-art-28-ff-aeuv/1186/excursus?utm_campaign=Klassiker_Dassonville),

 - [Personenfreizügigkeit](https://jura-online.de/lernen/freizuegigkeit-der-arbeitnehmer-art-45-ff-aeuv/1187/excursus?utm_campaign=Klassiker_Dassonville) (Art. 21 AEUV, einschließlich Arbeitnehmerfreizügigkeit [ 45 AEUV] und Niederlassungsfreiheit [Art. 49 AEUV]),

 - [Dienstleistungsfreiheit ( 56 AEUV)](https://jura-online.de/lernen/dienstleistungsfreiheit-art-56-ff-aeuv/1189/excursus?utm_campaign=Klassiker_Dassonville),

 - Kapitalverkehrsfreiheit ( 63 AEUV).

Die belgischen Regelungen über das Erfordernis einer Ursprungsbescheinigung enthielten keine „mengenmäßige Einfuhrbeschränkung“ i.S.v. Art. 34 AEUV (Art. 30 EWG-Vertrag a.F.). Sie führten aber dazu, dass sich ein Händler, der in Frankreich bereits im freien Verkehr befindlichen Whisky nach Belgien einzuführen wünscht, die erforderliche Ursprungsbescheinigung, im Gegensatz zu einem aus dem Erzeugerland unmittelbar einführenden Importeur, nur unter erheblichen Schwierigkeiten beschaffen kann. Der EuGH hatte nun im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) auf Vorlage eines belgischen Strafgerichts zu klären, ob diese belgischen Regelungen aber eine verbotene „Maßnahme gleicher Wirkung“ i.S.v. Art. 34 AEUV (Art. 30 EWG-Vertrag a.F.) darstellten.

 

C. Wie hat der EuGH entschieden?

Der EuGH definiert in der Rechtssache Dassonville (Urt. v. 11.7.1974 – Rs. 8/74) erstmals den Begriff der „Maßnahme gleicher Wirkung“ i.S.v. Art. 34 AEUV (Art. 30 EWG-Vertrag a.F.).

Zunächst fasst der EuGH die Vorlagefrage des belgischen Gerichts zusammen:

„Die erste Frage geht dahin, ob es eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Artikel 30 des Vertrages darstellt, wenn eine Bestimmung des nationalen Rechts die Einfuhr einer Ware, die mit einer Ursprungsbezeichnung versehen ist, für den Fall untersagt, daß für diese Ware nicht eine vom Exportlandausgestellte amtliche Urkunde vorliegt, in der die Berechtigung zur Verwendung dieser Bezeichnung bescheinigt wird. Diese Frage wurde in einem in Belgien eingeleiteten Strafverfahren gegen Händler aufgeworfen, die einen in Frankreich im freien Verkehr befindlichen Posten Scotch Whisky zwar ordnungsgemäß erworben, aber unter Verletzung belgischer Rechtsvorschriften nach Belgien eingeführt hatten, da sie nicht im Besitz einer Ursprungsbescheinigung der britischen Zollbehörden waren. Den Akten sowie den in der mündlichen Verhandlung gemachten Ausführungen ist zu entnehmen, daß sich ein Händler, der in Frankreich bereits im freien Verkehr befindlichen Whisky nach Belgien einzuführen wünscht, eine solche Bescheinigung, im Gegensatz zu einem aus dem Erzeugerland unmittelbar einführenden Importeur, nur unter erheblichen Schwierigkeiten zu beschaffen vermag.“

 

Sodann erfolgt die berühmte Definition der „Maßnahme gleicher Wirkung“ i.S.v. Art. 34 AEUV:

„Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist als Maßnahme kontingentgleicher Wirkung anzusehen.“

 

Auf der Grundlage dieser sehr weiten Definition stellte der EuGH fest, dass die belgischen Regelungen über die Ursprungsbezeichnung von Branntwein nicht mit der Warenverkehrsfreiheit vereinbar seien:

„Solange es noch an einer Gemeinschaftsregelung fehlt, die den Verbrauchern die Echtheit der Ursprungsbezeichnung eines Erzeugnisses gewährleistet, kann ein Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen, um unlautere Verhaltensweisen auf dem Gebiet zu unterbinden, jedoch darf er nur unter der Bedingung einschreiten, daß die getroffenen Maßnahmen sinnvoll sind und die geforderten Nachweise keine Behinderung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten bewirken, mithin von allen Staatsangehörigen erbracht werden können.

Derartige Maßnahmen dürfen, ohne daß geprüft zu werden braucht, ob sie überhaupt unter Art. 36 fallen, gemäß dem in Satz 2 dieses Artikels niedergelegten Grundsatz jedenfalls weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Ein solcher Fall kann vorliegen, wenn ein Mitgliedstaat den Nachweis des Ursprungs eines Erzeugnisses an Formalitäten knüpft, denen ohne ernstliche Schwierigkeiten zu genügen praktisch allein die Direktimporteure in der Lage sind. Sonach stellt es eine mit dem Vertrag unvereinbare Maßnahme kontingentgleicher Wirkung dar, wenn ein Mitgliedstaat eine Echtheitsbescheinigung verlangt, die sich der Importeur eines in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsmäßig im freien Verkehr befindlichen echten Erzeugnisses schwerer zu beschaffen vermag als der Importeur, der das gleiche Erzeugnis unmittelbar aus dem Ursprungsland einführt.“

 

D. Fazit

Mit der „Dassonville-Formel“ hat der EuGH seine ständige Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit und zur Definition der „Maßnahme gleicher Wirkung“ i.S.v. Art. 34 AEUV begründet. Danach stellt – denkbar weit – jede Maßnahme, die mittelbar oder auch nur potenziell (!) den Grenzübertritt ausländischer Waren behindert, einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit dar. Da es einer Diskriminierung nach dieser Definition nicht bedarf, könnte man annehmen, dass sie auch auf Regelungen zutrifft, die auf Waren in- und ausländischer Herkunft unterschiedslos anwendbar sind. Das würde bedeuten, dass der EuGH das Diskriminierungsverbot zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot ausgebaut hat. Wir werden in den kommenden Wochen lernen, dass der EuGH diese sehr weite Formel in der Folge weiter konkretisiert hat.